Integration von Körper und Geist
In der westlichen Psychologie ist ein Höhepunkt der Entwicklung erreicht, wenn es zu einer Integration von Körper und Geist kommt. In dieser Version sollten die rohen Bedürfnisse des Körpers sublimiert werden, was einerseits einen Zugang zur ungehemmten Kreativität und Spontaneität bedeutet, der in der konventionellen Phase unterdrückt wird. Andererseits behält man doch eine gewisse Kontrolle und bezieht aus der seine Kraft. Man ist kreativ und intellektuell auf der Höhe, durch Neurosen nicht groß gehemmt. Ist das der Zustand der Vollkommenheit? Ken Wilber hat seine Zweifel. Bei der Fusion von Körper und Geist, so sagt er, fällt mit der neurotischen Hemmung auch die Verdrängungsschranke weg. Als Ergebnis werden nun all die alten Ängste und Befürchtungen wieder ins Bewusstsein gespült, was im Ergebnis dazu führt, dass diese Menschen zwar ungeheuer entwickelt sind, sich aber hundeelend fühlen. Nun gepaart mit der reifen Potenz des Geistes, die eben versteht, dass die Welt ist, wie sie ist und alle frohen Botschaften als inauthentische Tröstungsprojekte disqualifiziert.
Als Prototypen dieser Denkschule sieht Wilber die Existentialisten, die alle Beruhigungen zurückweisen und die Welt als einen beunruhigenden bis absurden Ort ansehen, frei von einem tieferen Sinn. Aber wenigstens Camus muss man von diesem Urteil ausnehmen, der dem Absurden doch die Stirn bot und uns Sisyphos – dessen Schicksal es ist, einen runden, schweren Stein der Berg raufzuwuchten und sobald er oben ist, rollt der Berg auf der anderen Seite zurück ins Tal – als glücklichen Menschen präsentiert. Aber reicht das zum Bild der Vollkommenheit? Eher nicht.
Vollkommenheit als Seelenzustand
Wo der Philosoph kneift – nicht nur die Existentialisten tun das, auch Mauthner lässt in seinem philosophischen Wörterbuch an der Vollkommenheit kein gutes Haar: „Vollkommenheit ist eine Wortleiche. Sie braucht nicht mehr totgeschlagen zu werden. Nur die Sinne wollte ich dafür schärfen, daß sie übel zu riechen anfängt.“ Ein deutliches Resümee. – da kann uns vielleicht die Kunst oder Religion weiter helfen. Die Kunst betrachtet dabei eher die Vollkommenheit eines Kunstwerkes, einer menschlichen Schöpfung, wir wollen uns hier eher den Höhepunkt einer Entwicklung anschauen, an deren Ende Vollkommenheit als Resultat steht.
Hier gehen Religion und gewisse Spielarten der Esoterik, obwohl sie sich sonst oft nicht riechen können, eine Koalition ein. In dieser Lesart ist der vollkommene Mensch ein sanfter Mensch, weise und leise, der gerade in seiner immer währenden Duldung Züge des Märtyrers annimmt. Man stellt ihn sich milde lächelnd und alles verzeihend vor. In der Esoterik wird vom Eingeweihten gesprochen. Gemeint ist ein Eingeweihter in bestimmte Mysterien, ein Mensch, der Geheimnisse kennt, diese jedoch nicht selbstsüchtig anwendet und entweiht, sondern allein zum Wohle der Menschheit agiert.
Ein etwas kitschiges Bild einer engelsgleichen Gestalt auf Erden, die vielleicht als Idealbild taugt und zeigt, was möglich wäre, nämlich ein durch und durch friedliches und harmonisches Leben auf Erden zu führen. Ein Wunsch, der verbreiteter ist, als man oft glauben will, denn wer will nicht in Frieden und Harmonie, in Einklang mit der Umwelt und seinen Liebsten sein Leben leben, essen, was Mutter Erde uns freiwillig schenkt und ein guter Mensch sein? Ein schönes Bild, das an das Gute im Menschen glaubt und appelliert.
Aber auch ein einseitig verzerrtes Bild und gerade das ist die Bezeichnung für Kitsch: Die Betonung einzelner Aspekte des Ganzen, gerne frei von Aggression und oft auch von Sexualität, ein Engel auf Erden und genau dieses Engelhafte markiert den unrealistischen Aspekt des Bildes, der Mensch ist von Anfang an ein Wesen, was immer auch aggressive und sexuelle Bedürfnisse hat. Aber ist das nicht wieder nur Verdrängung? Eine neurotische Unterwerfung unter die kitschige Seite der reinen Kindheit, als hätte Freud nie gelebt?
Wenn der liebe Gott der böse ist
Man ist schon sehr früh drauf gekommen, dass das Bild des Reinen und Lichten eher einseitig ist, was bei der Entwicklung zur Vollkommenheit damit eher die Halbzeit als das Endergebnis ist. Schön, wenn man sich beherrschen kann, vor allem für das Zusammenleben. Triebunterdrückung oder Impulskontrolle, wenigstens für eine gewisse Zeit, ist die Eintrittspforte in die Welt der Kultur, wer dazu nicht bereit ist, hat von der Gesellschaft in der er lebt auch nichts als Gegenleistung zu erwarten. Doch Vollkommenheit als optimale Anpassung an die Werte der Gesellschaft erschien eher unzureichend als Kriterium für Vollkommenheit.
Also muss da notwendigerweise noch etwas anderes kommen. Die Literatur ist voll davon, es ist eine Sicht, die schwer verstanden wird, von den Gegnern so wenig wie von den Anhängern. Die dunkle Seite der Esoterik, die Magie, findet man hier wieder, ebenso wie Strömungen der Gnostik, durchaus auch Mystiker des Christentums und anderer Religionen. Sie alle kennen die dunklen Aspekte der Gottheit, die zerstörerischen Prinzipien, kennen und verehren sie. Ob Hades, Mars oder Kali oder in der verrückten Weisheit vieler früher Formen des Zen oder anderer Richtungen, bei denen ein Guru, als Repräsentant der Einheit, oft alles andere als eine liebevoll gütige Vaterfigur war, sondern mit einer Unbarmherzigkeit auf dem Pfad der Weisheit agierte, die wir hier und heute nicht mehr tolerieren würden.
In der schlechten Variante handelt es sich bei diesem Ansatz nicht um den Gipfel der Weisheit, sondern einfach um eine Umkehr der einseitig lichten in eine einseitig dunkle Gestalt. Die einen wollen die Werte umwerten, in dem sie sie einfach mit umgekehrten Vorzeichen versehen, die primitivste Lesart, da man hier noch immer an die gleichen Werte gebunden ist, man tanzt nur mit dem Rücken um das goldene Kalb. Denn ob das Bild aber nun ganz in lichte Pastelltöne und Weichzeichnung oder dunkel und böse gezeichnet ist, es bleibt ein halbes Bild.
Gnostische Ansätze gehen meistens einen Schritt weiter, indem sie die ganze Welt zurückweisen um auf die Ebenen einer reinen Geistigkeit zu gelangen, Welt und Materie erscheinen ihnen in ihrer Gesamtheit als das Böse und Vollkommenheit ist nur im Geistigen zu erlangen.