Archetypenlehre und die Entwicklung zur Vollkommenheit

bunte Felder

Ein fast vollkommener Anblick. © Mark Strobl under cc

Von all diesen Ansätzen gibt es unüberzeugende Formen und Sackgassen. Aber man sollte es sich nicht zu leicht machen, denn auf diesem Terrain bekommen wir wenigstens Antworten über das, was Vollkommenheit sein könnte, die etwas haltbarer sind. Eine Mixtur aus Archetypen, Magie, Psychologie, sowie einem Rückgriff auf alte mythische Traditionen. Ob man dabei eine Zweiheit konzipiert, wie bei Yin und Yang im Taoismus, drei Teil wie bei der Alchemie, ein Vierheit, wie bei den Elementen der Griechen, fünf, wie bei den Chinesen, oder sieben, neun, 12, 22, 64 oder sonst wie viele, ist dabei uninteressant. Es ist auch kein Widerspruch, wenn die Wirklichkeit mal in vier, 12, oder 64 Teile zerfällt, weil das alles mögliche Perspektiven sind, genauso wie ein Elefant ein Säugetier ist, aus Organen, Zellen, Atomen und Quarks besteht und auch das kein Widerspruch ist.

Schöpfung und Erkenntnis ist Zerstückelung, ist das Zerlegen einer Ganzheit (falls es diese gibt) in Teile. Aus der Sicht von Archetypenlehren kann ein Ziel nun aber definiert werden, es ist die Wiederherstellung der ursprünglichen Ganzheit. Und bei einer Ganzheit geht es nicht darum, ganz schwarz oder ganz weiß zu sein, sondern die Polarität wieder zu vereinen. Oder eben eine beliebige andere Vielheit. Vollkommenheit ist dann erreicht, wenn die Gegensätze wieder geeint sind.

Aber was heißt das nun für das praktische Leben, wenn man nun tatsächlich vorhat, das zu tun? Ich kann ja nicht gut und böse, ordentlich und schlampig, Einzelgänger und Gruppenmensch, Heiliger und Psychopath zugleich sein. Doch darum, so hört man in diesen Lehren, geht es auch nicht. Es geht nicht um die konkrete Tat, sondern darum das Prinzip zu begreifen, doch dieses Begreifen ist wiederum kein rein intellektueller Akt, es bedeutet, dass man das Prinzip im Bedarfsfall auch leben und anwenden kann.

Gewöhnlich hat man im Leben seine Stärken und Vorlieben, sowie Bereiche, die man weniger gut beherrscht und solche, die man niemals tun würde. Gerade die letzten sind interessant, da man sich mit der Verweigerung dieser Bereiche der Vollkommenheit verweigert. Als der Buddha jemanden als Schüler bekommen sollte, der noch nie gelogen oder gestohlen hatte, schickte er ihn erst mal wieder weg, da er das Leben nicht kann. Er sollte wiederkommen, wenn er gelogen und gestohlen hat. Im Zen gibt es eine Geschichte, in der ein eifriger Schüler nach ewiger Meditation die Erleuchtung doch nicht fand, den ganzen Krempel hinschmiss und zu einer Prostituierten ging … unmittelbar war er erleuchtet.

All das sind nicht nur nette Geschichten, keine Märchen, die uns einfach unterhalten wollen, sondern in diese Form gebrachte Botschaften, mit einem echten Anspruch. Die meinen das ernst. Es wäre ein Missverständnis daraus abzuleiten, dass bei einer Prostituierten Erleuchtung besser zu erlangen sei als in der Meditation, denn jenen, die so vorgehen, fehlt ja nun wieder die andere Seite. Dabei geht es nicht allein um das konkrete Tun, sondern darum, dass man zu dem was man tut auch steht. Wie wir wissen, gibt es die buntesten Formen die Motive des eigenen Handels nicht zu erkennen: Verdrängungen, Verleugnungen und Projektionen vielfältigster Art.

Archetypen und Projektion

Wenn wir bei diesem archetypischen Ansatz der Entwicklung zur Vollkommenheit bleiben, dann geht es darum, alle Prinzipien in sich anzusammeln. Archetypische Prinzipien sind eine Art Oberbegriff zu Alltagssituationen. So können Schreien, Schlagen, Drohen Aggression ausdrücken. Da man dabei oft rot anläuft, die Muskeln durchblutet werden, wobei der Blutdruck steigt, ist klar, dass dies zusammen gehören könnte. Wenn ein Raubtier mit aller Gewalt seine Beute reißt, ist das ebenfalls auf dieser Linie, der Boxer oder Rennwagen am Start ebenfalls. Aggression ist in der neutraleren oder übergeordneten Version einfach Impuls oder Anfang: Es geht los und zwar hier mit aller Wucht. Darum sind Neuerungen und Umstürze auch oft diesem Prinzip unterworfen. Aber eben auch der Frühling den wir so mögen, wenn wir keine Allergiker sind.

Ebenso gibt es ganz verschiedene Arten Gemütlichkeit auszudrücken. Das kann das Bett oder Lieblingssofa ein, aber auch der flauschige Hausanzug, die Badewanne, die Massage, aber auch die Stammkneipe, die Lieblingsecke oder eine Szene einer alten Frau, die auf einer Bergalm Butter in eine gusseiserne Pfanne gibt.

Dabei gibt es leitende Fragen, die uns weiter bringen: Was kann ich mit dem Bewusstsein umfassen, wo steige ich aus? Was könnte auch ich sein und wozu sage ich kategorisch nein?

Sich nach getaner Arbeit ein Bad zu gönnen, den Bademantel überzustreifen und es sich im Sofa gemütlich zu machen, das kennen vermutlich viele, kaum jemand wird da Widerstände haben. Bei der Vorstellung jemanden zu töten schon viel eher. Ich doch nicht. Andererseits, wenn die Familie, die eigenen Kinder bedroht sind, sieht die Sache vielleicht anders aus. Aber das läuft noch unter Notwehr.

Da wo die Projektion einsetzt, ist zuverlässig die Stelle, an der man aussteigt. Mit mir nicht. Das habe ich noch nie getan und das werde ich auch nie tun.

Mord aus Habgier. Andererseits, wenn man sich vorstellt, bettelarm zu sein, zu hungern und gleichzeitig zu sehen, wie andere im relativen Luxus leben, wissend, dass man ohne Perspektive ist, je so zu leben? Aber auch das ist noch recht einfach. Was ist mit der nächsten Drehung? Morden, weil man es einfach kann, die Gelegenheit hat und sich irgendwann fragt: „Ja, wieso eigentlich nicht?“ Und ist der Damm erst gebrochen, fallen die nächsten Morde viel leichter. Wo steige ich aus, was ist für mich vollkommen unvorstellbar? Und es geht noch weiter: Mord aus sadistischer Lust, einfach um den Triumph zu spüren, Macht über Leben und Tod zu haben und zu demonstrieren, dass man überlegen ist, weil man es ist und das genießt. Ein Psychopath kommt da mit, viele steigen irgendwo aus.

Und es gibt andere Szenen. Kann man sich vorstellen ein Star auf der Bühne zu sein? Ein biederer Angestellter, der sein Glück in Zahlenkolonnen findet? Ein Hooligan, der Schlägereien als sein Hobby empfindet und dem gleichzeitig die Kameradschaft der Szene unendlich viel gibt? Kann man sich vorstellen Mutter zu sein und mit großer Lust alles für die Familie zu tun? Könnte man Wissenschaftlerin sein, der die Suche nach Erkenntnis alles gibt? All das repräsentiert bestimmte Prinzipien und zu einigen haben wir mehr, zu anderen eine geringere Affinität.

Die Entwicklung zur Vollkommenheit heißt in diesem Kontext, zu allen Prinzipien einen gleichen Zugang zu haben und diese mit der selben Selbstverständlichkeit tun und lassen zu können. Gewiss, ein anspruchsvolles Projekt der Ausgleich der Elemente, der Prinzipien, häufig eines von dem man sagt, dass es in einem Leben gar nicht gelingen kann. Außer vielleicht man ist zu Höherem berufen, aus welchem Grund auch immer. Doch es gibt auch unterschiedliche Ansichten darüber, ob der Ausgleich der Elemente oder Prinzipien schon alles ist, oder ob es nicht noch auf das Niveau dieses Ausgleichs ankommt. Vermutlich schließt sich beides nicht aus, denn wer denn Gegenpol integriert, konmt auch in der Entwicklung höher und insgesamt spricht viel dafür, dass es tatsächlich verschiedene Entwicklungsgrade gibt.