Spiritualität

Quadriga der Semperoper

Dionysos, der wilde Gott, und Ariadne auf ihrem von Panthern gezogenen Wagen. © SchiDD under cc

Bei der hierarchischen Entwicklung scheint die Sache halbwegs klar zu sein. Höher ist besser. Spirituelle Systeme gehen über die der Psychologie hinaus und beileibe nicht alle landen im Licht und Liebe Kitsch. Aber dieses Höher macht in vielen Systemen eine entscheidende Wende. Höher, das klingt ein wenig danach, sich immer weiter von der Normalität und dem Alltag zu entfernen. Auf eine Weise ist das auch so, denn in manchen Systemen werden Stufen der Mediation geschildert, die sich in der Tat vom Alltagsbewusstsein und den dortigen Erfahrungen entfernen. Doch sehr oft findet man auch eine gegensätzliche Bewegung.

Exemplarisch kann man das am relativ neuen System der Spiral Dynamics, das wir in Die Entwicklungsstufen der Weltbilder (2) kurz vorstellten, erörtern. Kurz gesagt mögen sich all die Vertreter der verschiedenen Weltbilder untereinander nicht. Jeder denkt, seine Art die Welt zu sehen sei die einzig richtige und sei nach Möglichkeit auf die ganze Welt auszudehnen. Im Spiral Dynamics System gibt es an einer Stelle einen entscheidenden Sprung, zu einem zweiten Rang. Ist dies erreicht, hat man nicht mehr die Idee, die Stufe auf der man gerade ist sollte auf alle Menschen ausgedehnt werden, sondern man weiß, jede Vorgängerstufe im Rahmen ihrer relativen Bedeutung zu würdigen.

Gut ist demnach, einen prinzipiellen Rückgriff auf alle vorhergehenden Stufen zu haben, nicht nur die zuletzt erreichte zu leben. Auch Chögyam Trungpa Rinpoche, ein hoher Vertreter einer tibetischen Strömung des Buddhismus, der ein ähnliches System der hierarchischen Welten vorstellte, die aus der tibetischen Mythologie stammen, wurde einmal gefragt, in welcher dieser Welten er sich denn befände. In allen, war seine Antwort, er sagte nicht, dass er in der höchsten wäre.

Auch bei der Entwicklung nach oben geht es darum, einen reichhaltigen Rückgriff auf alle bisherigen Entwicklungsstufen zu haben, zumindest in einigen Bereichen. Das ist der Lehre der Archetypen sehr ähnlich und auch hier kann man schauen, inwieweit man die spezifischen Vorstellungen und Modi der einzelnen Stufen akzeptieren kann oder wo man aussteigt.

Doch in beiden Systemen, die die Entwicklung zur Vollkommenheit auf ihre je eigene Weise beschreiben, die archetypischen Systeme eher horizontal, die hierarchischen Systeme eher vertikal, wird eine Gemeinsamkeit deutlich: beide entfernen sich nicht von der Welt, sondern umarmen die ganze Welt, integrieren sie und ihre Bausteine immer mehr. Das unterscheidet sie von den Systemen davor, die alle in einer Einseitigkeit endeten. Nur geistig, nur gut, nur böse oder nur auf die Weitergabe der Gene aus.

Nondualität und Unberechenbarkeit

Gesetzt, irgendwo dort kämen wir in die heiße Zone, in der die Rede von der Vollkommenheit nicht einfach eine Wortleiche ist. Was könnte es denn dann heißen, Vollkommenheit in der eigenen Seele erreicht zu haben? Ziemlich einhellig könnte man sagen, dass es nicht darum geht, sich von der Welt zu entfernen, sondern in der Welt zu stehen und sie zu umarmen, all ihre Aspekte.

Aber war Welt nicht der Ort an dem das Leiden seinen Ausgangspunkt nahm? Ist es nicht ein eher kalter und finsterer Ort, voll von Orientierungslosigkeit und Aggressionen? Wenn man all diese verschiedenen Stufen der Entwicklung auch in sich hat und sich nicht von ihnen getrennt fühlt, hat man auch Verständnis für sie. Bei aller Vorläufigkeit und Unvollkommenheit ist da doch auch immer schon ein Teil jener Würde und Buddhanatur zu sehen.

Dennoch heißt das nicht, dass man das Leid der Welt nicht lindern sollte. Tatsächlich wird das oft als Motiv erwähnt, dass es darum geht, das Leid der Welt zu lindern. Wie geht das? Durch Abgehobenheit und Weltflucht jedenfalls nicht. Durch Weisheit und Upaya, was soviel wie geschickte Mittel, Weg oder List bedeutet. Eine Antwort die an sich keine ist, jedenfalls keine, die wir in Form einer Checkliste anwenden könnten. Es ist vielmehr eine Antwort, die die hohe Entwicklung bereits voraussetzt und sinngemäß nichts anderes bedeutet, als dass man schon wissen wird, was zu tun ist, wenn es so weit ist. Der Weise, der Heilige, der Erleuchtete findet einen Weg. Er sieht ja, was die Welt um ihn herum ihm anbietet.

Woran merke ich, wann es an der Zeit ist dies und das zu tun? Wenn man sich angesprochen fühlt. Ist es die Welt, die da ruft, ist es die Seele? Wir wissen es nicht. Chögyam Trungpa sagt, dass wir nie wissen können, wie viel Realität wir sehen und wie viel unsere eigene Projektion ist, aber beides ist ernst zu nehmen, denn es meint uns. Wir sind immer gefangen in unseren Projektionen und daher, auch da sind sich viele einig, gilt die Faustregel auch schon für uns. Da wo der einzelne im Leben steht, steht er zurecht. Das meint Esoteriker und Psychotherapeut Thorwald Dethlefsen, der indische Weise Sri Ramana Maharshi und der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart.

Wie ein echter Weiser oder eine Heilige, jemand dessen Entwicklung zur Vollkommenheit nahezu abgeschlossen ist reagieren wird, können wir nicht sagen, denn sie haben, aus im Text erläuterten Gründen, nahezu alle Freiheiten, da sie die Stufen der Entwicklung gegangen sind und die jeweiligen archetypischen Bausteine wenigstens prinzipiell kennen. In ihnen wohnt nicht nur der weise Apollo, sondern auch der Dionysos, der Gott des Wahnsinns, des Rausches, der Raserei und des Weins. Je mehr wir unseren Egozentrismus überwinden, umso freier werden wir, umso mehr entwickeln wir uns in Richtung Vollkommenheit. Und jeder mag nun selbst entscheiden, ob der Begriff für ihn faulig riecht oder zu gebrauchen ist.