Auf Normalität verzichten?

Straßenverkehr bei Nacht

Im Straßenverkehr sorgen Regeln für erstaunliche Ordnung. © Jakob Montrasio under cc

In Anbetracht dessen kann man tatsächlich fragen, ob es nicht sinnvoll sein könnte auf einen Begriff wie Normalität generell zu verzichten und sich stattdessen daran zu orientieren, wie es einem Menschen mit seinem von der Norm abweichenden Verhalten geht. Meines Erachtens springt man damit zu kurz, weil es nicht ausreichend ist, nur den Betreffenden zu fragen, ob er sich wohl fühlt, denn wir sind Wesen, die in Beziehungen eingebunden sind. So kann es auch bei der Ich-Schwäche (in der starken Form) durchaus vorkommen, dass ein Mensch sich überlegen und großartig vorkommt, seine Mitwelt aber sehr unter seinem Verhalten leidet.

So wie man bei der Frage nach dem Für und Wider der Anpassung auch die extremen Formen einer gesellschaftlichen Entwicklung im Augen haben muss, wie Faschismus oder Tyrannei, so kann man auch bei der Frage des persönlichen Wohlergehens die extremen Formen der Subjekt-Entwicklung nicht ausblenden. Was ist mit dem entspannten Serienkiller oder auch nur Schläger, der unter seinen Taten selbst nicht leidet? Was ist mit dem Kinderschänder, der sein Verhalten selbst akzeptabel findet? Was ist mit dem Konzernchef oder Politiker, dessen Verhalten Hunderte oder gar Millionen ins Elend stürzt? Alles kein Problem, wenn es dem Akteur dabei nur gut geht? Ich glaube nein und demzufolge, dass die Gesellschaft ein Recht hat, ihre Spielregeln und Grenzen aufzustellen, aber dass wir keine starren Kriterien einführen dürfen. Wir müssen uns vielmehr dynamisch aufstellen und sowohl der Forderung nach absoluter Anpassung an eine starr verstandene Normalität widersetzen, wenn es gute Gründe dafür gibt, aber auch einem ins Unendliche ausgeweiteten Wohlfühl-Faktor als einzigem Kriterium. Ziel sollte eine begründete und begründbare dynamische Mitte sein. Auf alle Regeln zu pfeifen ist ebenso unschön, wie sie alle artig zu erfüllen, die gelungene Einlösung wird zuweilen als postkonventionelle Stufe der Moralentwicklung bezeichnet.

Diese entwickelte Mitte ist aber eine, die primär an die Einsicht des je einzelnen Subjekts appelliert, an dessen Fähigkeit zur Reflexion und damit an ein stabiles und starkes Ich gerichtet ist. Ein Ich, das in der Lage ist, sich, die Rolle des je anderen und der Gesellschaft zu reflektieren und entsprechend zu handeln.

Zielt man auf einen rein therapeutischen Bereich ab, so ist ein Verzicht auf Normalität glaube ich ebenfalls unpraktikabel. Denn was sollte das therapeutische Ziel sein, wenn man nicht ein Ideal, eine Vision des Besseren oder Wünschenswerten hat? Zwar wird man immer pragmatische Annäherungen vornehmen, muss die Individualität des Patienten und seine Vorstellungen mitberücksichtigen, aber zum Therapeuten zu gehen heißt ja auch diesem einen Auftrag zu erteilen, da man in irgendeinem Bereich des Lebens gerade Schwierigkeiten hat, die man sich selbst zu lösen aktuell nicht zutraut.

Die Grenze zum Kranksein

In der psychologischen Diagnostik gibt es seit Jahrzehnten den Streit zweier Lager, der die anfangs beschriebenen Unterscheidungen zwischen kontinuierlichem Prozess und krank oder gesund widerspiegelt. Das eine Lager mit einer kategorialen Einstellung der Diagnostik bzw. Pathologie und das andere mit einer dimensionalen Einstellung.

Die kategoriale Einstellung besagt zweierlei: Erstens, dass es eine scharfe Grenze zwischen gesund und krank gibt, in etwa wie 0 oder 1, an oder aus, zweitens sieht sie psychische Erkrankungen als Einzelphänomene, mit keinem Bezug zu anderen möglichen psychischen Erkrankungen. Dem gegenüber sieht die dimensionale Einstellung erstens Krankheit und Gesundheit als fließende Übergangsformen und zweitens zwischen einzelnen Pathologien einen ebensolches Kontinuum und damit auch eine innere Verwandtschaft zwischen bestimmten Erkrankungen, wie im oben verlinkten Schaubild angedeutet.[3]

Einen fließenden Übergang zu postulieren erscheint zwar auf der einen Seite intuitiv lebensnäher, auf der anderen Seite muss aber irgendwann die Frage geklärt werden, ab wann denn nun auch hier berechtigt von einer vorliegenden oder gar behandlungswürdigen Pathologie geredet werden kann. Zum einen entscheidet darüber auch in diesem Fall der Mensch selbst, nämlich dann, wenn der Leidensdruck hoch ist, wie bereits Freud feststellte. Zum anderen sein Umfeld oder entsprechende Fachleute aus der Psychologie oder angrenzenden Gebieten, etwa ein Arzt, der therapieresistente Formen bestimmter Erkrankungen feststellt, die in den psychosomatischen oder somatoformen Bereich hineinragen.

Der allgemeine Trend ist, dass man heute eher zum Psychotherapeuten geht als früher. Das ist einerseits erfreulich, weil es darauf verweist, dass sich das Bild von Psychotherapie inzwischen wandelt, zum anderen führt dieses Verhalten zu langen Wartezeiten und oft sagen heute sogar Psychotherapeuten, dass man nicht wegen jedem Liebeskummer zum Psychologen gehen muss. Menschen mit echten neurotischen Problemen haben oft einen hohen Leidensdruck, so dass sie sich eher helfen lassen, als dies bei anderen Erkrankungen der Fall ist.

Die Ich-Schwäche in der hier definierten Form markiert hingegen eine ernst zu nehmende Grenze, bei der man zu einer Behandlung raten kann, wenn der betreffende Mensch dazu bereit ist. Eine zu grandiose oder paranoide Fassade verhindert eine Behandlung häufig, selbst wenn sie therapeutisch wünschenswert wäre.

Mit dem Hintergrund einer dimensionalen Einstellung entsteht auch eine Hierarchie der Persönlichkeitsorganisation. Die Untergrenze markiert die Realitätsprüfung. Diese entscheidet darüber, ob man es mit einer atypischen Psychose zu tun hat. Psychosen markieren den momentanen Zusammenbruch der Ich-Funktionen und stellen eine Desorganisation des Ichs dar. Ist die Realitätsprüfung bestanden, liegt keine Psychose vor und nun muss geklärt werden, ob eine Identitätsdiffusion oder Ich-Schwäche vorliegt, beides ist durch ein strukturelles Interview festzustellen.[4]

Das breite Reich der Borderline-Persönlichkeits-Organisationsebene stellt demnach die nächste Stufe der Entwicklung und ihrer möglichen Pathologie dar. Ein Ich ist nun vorhanden, aber eben in geschwächter Weise, wie im Artikel über Ich-Schwäche ausgeführt. Die nächste Ebene wäre dann schon die der neurotischen oder normalen Persönlichkeit, auch wie im oben verlinkten Schaubild dargestellt. Diese Ebene ist durch ein integriertes Ich gekennzeichnet, was ein kohärentes und damit stabiles Bild von sich und wichtigen Bezugspersonen präsentieren und die diesem Bild inhärenten oder innewohnenden Ambivalenzen tolerieren kann. Im Falle neurotischer Störungen mit spezifischen Problemen vor allem im kreativen und sexuellen Bereich, im Falle der normalen Persönlichkeit ohne diese Problematik.

Auf der nächsten Seite dieses Artikels möchte ich auf Danielas Frage nach der Wissenschaftlichkeit eingehen und die hierarchische Struktur der psychischen Entwicklung weiter diskutieren.