Richter mit Richterhammer

Für manche ist eine Diagnose wie ein Urteilsspruchb – © Pearson Scott Foresman gemeinfrei

Diagnosen und Kategorisierungen in der Psychotherapie, sowie die sich in ihrem Schlepptau befindlichen Begriffe, stehen immer in einem theoretischen Kontext, der den Hintergrund bildet. Nun ist Psychologie nicht automatisch Psychotherapie, obwohl mehr als die Hälfte der Psychologen therapeutisch arbeitet. Doch auch in dem Segment der Psychotherapie gibt es nicht die eine Theorie, die alles erklärt, sondern nach wie vor einen Wettstreit der Theorien und der mit ihnen zusammenhängenden Begriffe und Kategorisierungen.

Eindrucksvoll habe ich das oftmals erlebt, wenn ich irgendein Standardwerk der Psychologie gelesen habe, das recht umfänglich alle Entwicklungen und Fehlentwicklungen aus einer bestimmten Perspektive betrachtete und im nächsten Standardwerk die Ansätze, Autoren und Theorien des vorherigen Buches mit keinem einzigen Wort erwähnt wurden. Buchstäblich nichts schien sich hier zu überschneiden und beides sollte doch Psychologie und oft Psychotherapie sein.

Die Vielfalt der Psychologie ist gleichzeitig ihr Fluch und ihr Segen und die Breite wird in der Wikipedia schön auf den Punkt gebracht:

„Die Psychologie ist eine erfahrungsbasierte Wissenschaft. Sie beschreibt und erklärt menschliches Erleben und Verhalten, deren Entwicklung im Laufe des Lebens sowie alle dafür maßgeblichen inneren und äußeren Ursachen oder Bedingungen. Da mittels Empirie jedoch nicht alle psychologischen Phänomene erfasst werden können, ist auch auf die Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Psychologie zu verweisen.“[1]

So ist es in der Tat. In diesem Einführungsartikel wird das breite Aufgabenspektrum der Psychologie dargestellt, darüber hinaus gibt es innerhalb der Psychotherapie weitere Bereiche und zudem beschäftigen sich auch andere Disziplinen mit dem was Psyche, Denken, Fühlen, Bewusstsein, Verhalten und so weiter eigentlich ist, denken wir an die Bereiche der Philosophie des Geistes, die Ethik, die Forschung über künstliche Intelligenz, Neurobiologie und die Primatenforschung, um nur ein paar zu nennen.

Die Diagnose

Eine Diagnose ist für den Arzt oder Therapeuten auf der einen Seite wichtig um zu wissen, was mit einem Patienten los ist, für den Patienten kann die Geschichte allerdings ganz anders wirken. Für Ärzte und Therapeuten ist Diagnosen zu stellen das tägliche Geschäft, für Patienten oft eine Gratwanderung, nicht selten zwischen Himmel und Hölle. Nun bringt es wenig, so zu tun, als sei eine schwere Erkrankung, die immer auch ein psychischer Schock ist, einfach nicht vorhanden, um den Patienten nicht zu verunsichern. Die Diagnose steht vor der Therapie und man kann gravierende Therapien wie Chemotherapien, operative Eingriffe oder schwere Medikationen nicht rechtfertigen, wenn man keine halbwegs solide Diagnose hat.

Der Patient, eine Rolle, die wir fast alle irgendwann auch mal kennenlernen, ist jedoch kein Profi und gerade schwere Diagnosen und Kategorisierungen können wie ein inneres Erdbeben wirken. Von jetzt auf gleich fühlt man sich aus seinem normalen Leben, seiner alltäglichen Rolle gerissen und manchmal reduziert auf seine Erkrankung, eben noch ein Mensch, jetzt ein Kranker oder gar ein Fall.

Psychische Erkrankungen spielen hier noch mal eine besondere Rolle, da sich Menschen mit einer psychologischen Diagnose oft in besonderer Weise stigmatisiert fühlen. Es gibt einen fließenden Übergang von Normalität zu leichter Pathologie, die uns vermutlich alle mehr oder minder im Leben befällt, ohne dass wir sie groß bemerken müssen, zu mittleren Formen der Pathologie und dann zu schweren, eine Unterteilung in vier Bereiche, die man aber auch anders treffen könnte, da sie lediglich unserer Erkenntnis dienen. Obwohl es diese kontinuierlichen Übergangsformen gibt, haben wir in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer häufig ein anderes Bild. Da ist man psychisch entweder gesund und soll sich nicht so anstellen, oder krank und das ist dann fast etwas wie Wahnsinn, mit entsprechenden Hemmungen, wie man „so jemandem“ denn nun begegnen soll.

Betroffene, Selbsthilfegruppen und Therapeuten wissen es in der Regel besser, aber dennoch sollte man nicht so tun, als sei dieses öffentliche Bild nicht existent. Entsprechend, auch weil man die Ansichten der Gesellschaft immer ein Stück weit selbst verinnerlicht hat, fühlt man sich in doppelter Weise betroffen, wenn man eine psychologische Diagnose bekommt. Menschen reagieren verschieden. Für die einen ist ihre Diagnose ein Segen. Das betrifft vor allem jene, die das Gefühl haben, dass auf körperlicher oder psychischer Ebene irgendwas mit ihnen nicht stimmt, die sich mitunter sogar schwer beeinträchtigt fühlen, bei denen der Arzt aber nichts findet. Irgendwann, nicht selten nach Jahren, endlich eine Diagnose zu bekommen, heißt etwas mehr oder minder Greifbares in den Händen zu halten und nicht selten auch, endlich ernst genommen zu werden.

Für andere ist es genau das Gegenteil. Vom eigenen Empfinden her ist man derselbe Mensch wie gestern, fühlt sich mehr oder weniger normal und dann kommt die Diagnose, die alles verändert, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Gefühle der Scham, eines Stigma und Verwirrung sind nur einige der möglichen Reaktionen auf eine psychologische Diagnose.

Die Diagnose der Ich-Schwäche

Gekräuselte Fäden

Manchmal erlebt man ein inneres Chaos. © Mikael Hvidtfeldt Christensen under cc

Mein erster Artikel über Ich-Schwäche hat zu einigen Reaktionen geführt, die erstaunlich stark in ihrer Polarisierung sind. Da ich Diskussionen für gut und wichtig halte, will ich auf die aufgeworfenen Fragen eingehen, so gut dies mir möglich ist und hoffe, die teilweise irritierenden Begriffe der Psychologie etwas aufklären und einordnen zu können.

Die Ich-Schwäche ist ein relativ gebräuchlicher Begriff in der Psychologie und, wie im Artikel beschrieben, kein Symptom, auch keine eigene Krankheit. Die Ich-Schwäche ist ein synonymer Begriff für die schweren Persönlichkeitsstörungen oder Borderline-Persönlichkeits-Organisationsebene (BPO), auch die schon beschriebene Identitätsdiffusion. Genauer gesagt umfasst die allgemeine oder unspezifische Ich-Schwäche also zum einen mehrere Symptome als auch Pathologien.

Insofern ist der Hinweis von Xenia vollkommen richtig:

„Es gibt zudem keine Ich-Schwäche als Krankheitsbild. Im Beitrag sind einzelne Symptome verschiedener Krankheiten beschrieben, die Symptome passen teilweise zu einer Sozialen Phobie, zu AD(H)S, Borderline, HPS, PTBS, diese Krankheiten und andere Eigenschaften, die dem Autor nicht gefallen, wurden einfach in einen Topf geworfen, durchgerührt und „Ich-Schwäche“ genannt.“

Es ist aber auch nicht behauptet worden, dass es sich bei der Ich-Schwäche um ein einheitliches Krankheitsbild handelt, sondern es ging mir ja gerade darum, die Vielfalt der Ich-Schwäche in ihrem Ausdruck darzustellen. Die Liste könnte und muss sogar noch erweitert werden, um die narzisstische Persönlichkeitsstörung, sowie die Störungen aus dem paranoiden Spektrum, also alle Formen, die als hohes und niedriges Niveau der Borderline-Persönlichkeitsorganisation bezeichnet werden.

Das ist insofern wichtig, weil dies die von mir beschriebene starke Form der Ich-Schwäche beinhaltet, die wir zum Teil bei der paranoiden, vor allem aber der narzisstischen Persönlichkeitsstörung finden. Es ist ja gerade ein Charakteristikum der Ich-Schwäche, dass diese durchaus nicht immer schwach erscheint, sondern mitunter äußerst dominant und selbstbewusst wirken kann, wenngleich das eben ein kompensatorischer Effekt ist, der auf einem falschen Größenselbst oder grandiosen Selbstbild beruht.

Es wird neuerdings wieder etwas kontrovers diskutiert, inwieweit das narzisstische Selbst wirklich im Kern schwach ist, oder nicht. Raphael M. Bonelli, der ein lesenswertes Buch mit dem Titel „Männlicher Narzissmus: Das Drama einer Liebe, die um sich selbst kreist“ geschrieben hat, ist der Auffassung, Narzissten seien eher stark, wenngleich er den Narzissmus natürlich auch als schwere Pathologie ansieht, wohingegen Otto F. Kernberg, der aktuell vermutlich größte Experte auf dem Gebiet der schweren Persönlichkeitsstörungen, der Auffassung ist, dass Narzissten ihr reales Selbst hassen, aber in ihr idealisiertes Selbst verliebt sind und die Diskrepanz zwischen Selbstanspruch und Wirklichkeit zu der beschriebenen Problematik von Idealisierung und Entwertung führt, die selbstsicher erscheint, ohne es zu sein. Mit anderen Worten, ich neige hier zum Lager um Otto Kernberg.

Wenn man den Begriff der Ich-Schwäche im geschilderten Sinn versteht, dann ist auch klar, warum es sich hierbei um eine wichtige Grenze handelt. Einerseits ist Ich-Schwäche kein solitäres Symptom, noch eine eigene Krankheit, sehr wohl markiert die Ich-Schwäche als Identitätsdiffusion aber eine bedeutende diagnostische Grenze, die keinesfalls willkürlich ist. Sie ist einerseits gut beschrieben und zentraler Inhalt des strukturierten oder strukturellen Interviews, das im Kern (als obere Grenze, die untere gilt der Differentialdiagnose zu den atypischen Psychosen) die Fähigkeit oder Unfähigkeit beschreibt, ein differenziertes und kohärentes Bild von sich und für das eigene Leben wichtigen anderen Menschen geben zu können.

Für Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen oder Ich-Schwäche ist es nicht möglich, so ein kohärentes Bild dazustellen, das heißt, der momentane Affekt bestimmt die Beschreibung von sich und wichtigen anderen und das in so gravierender Weise, dass die Beschreibung eines Menschen innerhalb von wenigen Minuten dramatisch wechseln kann, je nach dem, welcher Affekt in der Kommunikation gerade dominierend ist. Spricht man sie darauf an, so ist ihnen der Widerspruch zwar kognitiv durchaus bewusst, aber er bedeutet ihnen emotional nichts. Das ist typisch für die Ich-Schwäche, da das Selbstbild und das wichtiger anderer eben instabil ist. In guten Zeiten ist alles kein Problem, in schlechten Zeiten ist alles eine Katastrophe, Abstufungen und Grauzonen findet man dann selten. Dieses Bild ist von der deskriptiven (beschreibenden) Seite her typisch für die Ich-Schwäche und zugleich markiert und definiert es damit die diagnostische Grenze nach oben, zu den neurotischen Störungen oder der normalen Persönlichkeit.

Was ist schon normal?

Und wer bestimmt das eigentlich? Auch das fragt Xenia, zu Recht. Eine Antwort habe ich in dem Artikel Normalität gegeben und bin dort auch auf die kritischen Seiten des Normalitätsbegriffs bis zur Normopathie eingegangen, meine Bitte wäre, dort kurz nachzulesen, der Artikel ist überschaubar lang (mit einem Klick auf den rot unterlegten Begriff sind Sie bei dem Artikel). Kurz zusammengefasst: Es gibt zwei Arten von Normalität: Erstens, Normalität als statistischer Durchschnitt dessen, was in der Gesellschaft in der man lebt gerade dominiert. Zweitens, Normalität als Ideal des psychisch gesunden Menschen.

Tatsächlich haben Psychologen versucht, das Ideal der Normalität zu erfassen und zu beschreiben, analog dem Ideal des gesunden Menschen in den Medizinbüchern. Das klingt dann so:

„In das von mir vorgeschlagene Modell der Klassifizierung der Persönlichkeitsstörungen sind auch die bedeutenden Beiträge anderer psychoanalytisch orientierter Forscher und Wissenschaftler eingeflossen, so die Ergebnisse von Salman Akhtar (1989, 1992), Rainer Krause (1988; Krause & Lutolf 1988 ), Michael Stone (1980, 1990, 1993a) und Vamık Volkan (1976, 1987). Die normale Persönlichkeit ist in erster Linie gekennzeichnet durch ein integriertes Selbstkonzept und ein integriertes Konzept von wichtigen Bezugspersonen. Sind diese beiden Strukturelemente der Persönlichkeit vorhanden, sprechen wir von „Ich-Identität“ (Erikson 1956a, b; Jacobson 1964). Erkennbar werden sie an dem inneren Gefühl für Selbstkohärenz und dem damit verbundenen äußeren Ausdruck. Ein integriertes Selbstkonzept bildet die grundlegende Voraussetzung für ein normales Selbstwertgefühl, Freude am eigenen Selbst und am Leben. Das eigene Selbst in seiner Ganzheit zu sehen verleiht die Fähigkeit zur Verwirklichung eigener Wünsche, zur Entwicklung des eigenen Potentials sowie die Fähigkeit zum Eingehen von langfristigen Beziehungen. Ein integriertes Konzept von wichtigen Bezugspersonen verleiht die Fähigkeit zur richtigen Einschätzung anderer Menschen und zur Empathie sowie zur emotionalen Besetzung anderer Menschen; auch gehört dazu die Fähigkeit, eine reife Form der Abhängigkeit zu entwickeln und gleichzeitig das konsistente Gefühl für die eigene Autonomie zu bewahren.

Das zweite Strukturmerkmal der normalen Persönlichkeit ist die aus der Ich-Identität erwachsende Ich-Stärke, die sich in einem breiten Spektrum von Affektdispositionen zeigt, aber auch in der Fähigkeit zur Affekt- und Impulskontrolle. Die Fähigkeit zur Sublimierung der Triebe in Arbeit und Wertvorstellungen wird in hohem Maße gespeist von der Integration des Über-Ich. Beständigkeit, Ausdauer und Kreativität sowohl beim eigenen Tun als auch in Beziehungen entstammen gleichfalls der normalen Ich-Identität, während die Fähigkeit Vertrauen zu entwickeln und ein Gefühl für Reziprozität und Engagement auszubilden, auch sehr stark von Über-Ich Funktionen determiniert wird.

Ein dritter Aspekt der normalen Persönlichkeit zeigt sich in einem ausgebildeten und integrierten Über-Ich mit internalisiertem Wertesystem. Dieser Wertekodex muss stabil und auf das Individuum zugeschnitten sein und darf nicht zu stark von unbewussten kindlichen Verboten beeinflusst werden. Eine solche normale Über-Ich-Struktur zeigt sich in dem Gefühl für persönliche Verantwortung und in der Fähigkeit zu realistischer Selbstkritik. Ebenso zählen dazu persönliche Integrität und eine gewisse Flexibilität beim Umgang mit den ethischen Aspekten von Entscheidungen. Ein normal ausgebildetes Über-Ich fühlt sich den Standards, Werten und Idealen seiner Kultur verpflichtet und unterstützt die oben ausgeführten Ich-Funktionen: Vertrauen entwickeln, Gegenseitigkeit anerkennen und tiefgehende Beziehungen zu anderen aufbauen.

Der vierte Aspekt der normalen Persönlichkeit ist der angemessene und befriedigende Umgang mit libidinösen und aggressiven Impulsen. Dazu zählen die Fähigkeit sinnliche und sexuelle Bedürfnisse uneingeschränkt ausdrücken zu können, ebenso die Fähigkeit, Zärtlichkeit zu zeigen und sich emotional für einen geliebten Menschen zu engagieren, sowie eine nicht übersteigerte Idealisierung dieses Menschen und der Partnerschaft. In diesem Bereich ist der freie Ausdruck der Sexualität in die Ich-Identität und das Ich-Ideal integriert. Eine normale Persönlichkeitsstruktur beinhaltet die Fähigkeit zur Sublimierung in Form von Selbstbehauptung, das heißt, diese Persönlichkeitsstruktur hält einem Angriff stand, ohne exzessiv zu reagieren; die Reaktion dient allein dem Schutz und die Aggression richtet sich nicht gegen das Selbst. Zu diesem Gleichgewicht tragen, wie hier nochmals betont werden soll, Ich- und Über-Ich-Funktionen bei.“[2]

Über die Fachleute hinaus bestimmt die Gesellschaft selbst, was in ihr normal ist, und anhand des jeweiligen Verhaltens, wer dazu gehört und wer nicht. Dieser Modus ist in vielfacher Weise von Soziologen (wie Helmuth Plessner, Niklas Luhmann), evolutionären Anthropologen (wie Michael Tomasello), Philosophen (wie Jürgen Habermas, Robert Brandom) und Moralpsychologen (wie Lawrence Kohlberg, Carol Gilligan) untersucht worden, doch reine Anpassung ist natürlich kritisch zu sehen, da wir wissen, dass auch Gesellschaften pathologisch entarten können. In dem Fall ist ein taktischer Opportunismus menschlich verständlich, aber ein irgendwie gearteter ziviler Ungehorsam bis offener Widerstand unter Umständen moralisch geboten.

Insofern sehe ich eine Psychologie, die Anpassung als einziges Kriterium beinhaltet und bei der richtiges Verhalten weitgehend dem angepassten Verhalten entspricht, kritisch und wer sich etwas mit Psychologie auskennt, wird wissen, das ich damit die alte behavioristische Schule meine. Da ich den Begriff und die kritiklose Praxis der Anpassung kritisch sehe (wer „Anpassung“ als Suchbegriff eingibt, wird mehrere Artikel von mir dazu finden), kann ich die mir unterstellte Auffassung, anders zu sein sei schlecht, nun tatsächlich überhaupt nicht nachvollziehen. Artikel wie Der Wert der Krankheit, Der Sinn von Krankheit, Exzentriker und zahlreiche weitere belegen meine, Xenias Einschätzung vollkommen entgegengesetzte Einstellung, die in meinen Augen auch im Ich-Schwäche-Artikel erkennbar ist.

Auf Normalität verzichten?

Straßenverkehr bei Nacht

Im Straßenverkehr sorgen Regeln für erstaunliche Ordnung. © Jakob Montrasio under cc

In Anbetracht dessen kann man tatsächlich fragen, ob es nicht sinnvoll sein könnte auf einen Begriff wie Normalität generell zu verzichten und sich stattdessen daran zu orientieren, wie es einem Menschen mit seinem von der Norm abweichenden Verhalten geht. Meines Erachtens springt man damit zu kurz, weil es nicht ausreichend ist, nur den Betreffenden zu fragen, ob er sich wohl fühlt, denn wir sind Wesen, die in Beziehungen eingebunden sind. So kann es auch bei der Ich-Schwäche (in der starken Form) durchaus vorkommen, dass ein Mensch sich überlegen und großartig vorkommt, seine Mitwelt aber sehr unter seinem Verhalten leidet.

So wie man bei der Frage nach dem Für und Wider der Anpassung auch die extremen Formen einer gesellschaftlichen Entwicklung im Augen haben muss, wie Faschismus oder Tyrannei, so kann man auch bei der Frage des persönlichen Wohlergehens die extremen Formen der Subjekt-Entwicklung nicht ausblenden. Was ist mit dem entspannten Serienkiller oder auch nur Schläger, der unter seinen Taten selbst nicht leidet? Was ist mit dem Kinderschänder, der sein Verhalten selbst akzeptabel findet? Was ist mit dem Konzernchef oder Politiker, dessen Verhalten Hunderte oder gar Millionen ins Elend stürzt? Alles kein Problem, wenn es dem Akteur dabei nur gut geht? Ich glaube nein und demzufolge, dass die Gesellschaft ein Recht hat, ihre Spielregeln und Grenzen aufzustellen, aber dass wir keine starren Kriterien einführen dürfen. Wir müssen uns vielmehr dynamisch aufstellen und sowohl der Forderung nach absoluter Anpassung an eine starr verstandene Normalität widersetzen, wenn es gute Gründe dafür gibt, aber auch einem ins Unendliche ausgeweiteten Wohlfühl-Faktor als einzigem Kriterium. Ziel sollte eine begründete und begründbare dynamische Mitte sein. Auf alle Regeln zu pfeifen ist ebenso unschön, wie sie alle artig zu erfüllen, die gelungene Einlösung wird zuweilen als postkonventionelle Stufe der Moralentwicklung bezeichnet.

Diese entwickelte Mitte ist aber eine, die primär an die Einsicht des je einzelnen Subjekts appelliert, an dessen Fähigkeit zur Reflexion und damit an ein stabiles und starkes Ich gerichtet ist. Ein Ich, das in der Lage ist, sich, die Rolle des je anderen und der Gesellschaft zu reflektieren und entsprechend zu handeln.

Zielt man auf einen rein therapeutischen Bereich ab, so ist ein Verzicht auf Normalität glaube ich ebenfalls unpraktikabel. Denn was sollte das therapeutische Ziel sein, wenn man nicht ein Ideal, eine Vision des Besseren oder Wünschenswerten hat? Zwar wird man immer pragmatische Annäherungen vornehmen, muss die Individualität des Patienten und seine Vorstellungen mitberücksichtigen, aber zum Therapeuten zu gehen heißt ja auch diesem einen Auftrag zu erteilen, da man in irgendeinem Bereich des Lebens gerade Schwierigkeiten hat, die man sich selbst zu lösen aktuell nicht zutraut.

Die Grenze zum Kranksein

In der psychologischen Diagnostik gibt es seit Jahrzehnten den Streit zweier Lager, der die anfangs beschriebenen Unterscheidungen zwischen kontinuierlichem Prozess und krank oder gesund widerspiegelt. Das eine Lager mit einer kategorialen Einstellung der Diagnostik bzw. Pathologie und das andere mit einer dimensionalen Einstellung.

Die kategoriale Einstellung besagt zweierlei: Erstens, dass es eine scharfe Grenze zwischen gesund und krank gibt, in etwa wie 0 oder 1, an oder aus, zweitens sieht sie psychische Erkrankungen als Einzelphänomene, mit keinem Bezug zu anderen möglichen psychischen Erkrankungen. Dem gegenüber sieht die dimensionale Einstellung erstens Krankheit und Gesundheit als fließende Übergangsformen und zweitens zwischen einzelnen Pathologien einen ebensolches Kontinuum und damit auch eine innere Verwandtschaft zwischen bestimmten Erkrankungen, wie im oben verlinkten Schaubild angedeutet.[3]

Einen fließenden Übergang zu postulieren erscheint zwar auf der einen Seite intuitiv lebensnäher, auf der anderen Seite muss aber irgendwann die Frage geklärt werden, ab wann denn nun auch hier berechtigt von einer vorliegenden oder gar behandlungswürdigen Pathologie geredet werden kann. Zum einen entscheidet darüber auch in diesem Fall der Mensch selbst, nämlich dann, wenn der Leidensdruck hoch ist, wie bereits Freud feststellte. Zum anderen sein Umfeld oder entsprechende Fachleute aus der Psychologie oder angrenzenden Gebieten, etwa ein Arzt, der therapieresistente Formen bestimmter Erkrankungen feststellt, die in den psychosomatischen oder somatoformen Bereich hineinragen.

Der allgemeine Trend ist, dass man heute eher zum Psychotherapeuten geht als früher. Das ist einerseits erfreulich, weil es darauf verweist, dass sich das Bild von Psychotherapie inzwischen wandelt, zum anderen führt dieses Verhalten zu langen Wartezeiten und oft sagen heute sogar Psychotherapeuten, dass man nicht wegen jedem Liebeskummer zum Psychologen gehen muss. Menschen mit echten neurotischen Problemen haben oft einen hohen Leidensdruck, so dass sie sich eher helfen lassen, als dies bei anderen Erkrankungen der Fall ist.

Die Ich-Schwäche in der hier definierten Form markiert hingegen eine ernst zu nehmende Grenze, bei der man zu einer Behandlung raten kann, wenn der betreffende Mensch dazu bereit ist. Eine zu grandiose oder paranoide Fassade verhindert eine Behandlung häufig, selbst wenn sie therapeutisch wünschenswert wäre.

Mit dem Hintergrund einer dimensionalen Einstellung entsteht auch eine Hierarchie der Persönlichkeitsorganisation. Die Untergrenze markiert die Realitätsprüfung. Diese entscheidet darüber, ob man es mit einer atypischen Psychose zu tun hat. Psychosen markieren den momentanen Zusammenbruch der Ich-Funktionen und stellen eine Desorganisation des Ichs dar. Ist die Realitätsprüfung bestanden, liegt keine Psychose vor und nun muss geklärt werden, ob eine Identitätsdiffusion oder Ich-Schwäche vorliegt, beides ist durch ein strukturelles Interview festzustellen.[4]

Das breite Reich der Borderline-Persönlichkeits-Organisationsebene stellt demnach die nächste Stufe der Entwicklung und ihrer möglichen Pathologie dar. Ein Ich ist nun vorhanden, aber eben in geschwächter Weise, wie im Artikel über Ich-Schwäche ausgeführt. Die nächste Ebene wäre dann schon die der neurotischen oder normalen Persönlichkeit, auch wie im oben verlinkten Schaubild dargestellt. Diese Ebene ist durch ein integriertes Ich gekennzeichnet, was ein kohärentes und damit stabiles Bild von sich und wichtigen Bezugspersonen präsentieren und die diesem Bild inhärenten oder innewohnenden Ambivalenzen tolerieren kann. Im Falle neurotischer Störungen mit spezifischen Problemen vor allem im kreativen und sexuellen Bereich, im Falle der normalen Persönlichkeit ohne diese Problematik.

Auf der nächsten Seite dieses Artikels möchte ich auf Danielas Frage nach der Wissenschaftlichkeit eingehen und die hierarchische Struktur der psychischen Entwicklung weiter diskutieren.

Wissenschaftliche Psychologie und Theorien

Zwei Menschem im Gleichschritt

Anpassung ist nicht immer die beste Lösung. © Andreas Lehner under cc

Die Frage nach der Wissenschaft in der Psychologie ist im Allgemeinen schwierig, weil wir auch hier das Ideal der Wissenschaft und die Realität der Wissenschaft unterscheiden müssen. Das Ideal der Wissenschaft stellt sich mitunter als reine Methode dar, frei von jedem weltanschaulichen Überbau. Das ist irgendwo zwischen fragwürdig und falsch, weil die Idee, es könne reine Methodik oder gar eine Welt als Anneinandereihung von Fakten geben, nicht frei von einer weltanschaulichen Einstellung ist, sondern die eigene metaphysische Basis nur nicht kennt, es ist die des Naturalismus. Was die Realität der Wissenschaft angeht: Psychologie, die sich explizit auf ihre Wissenschaftlichkeit beruft, hat nicht immer für Sternstunden der Psychologie gesorgt. Das gilt zum einen für die sehr dunklen Zeiten in der Naziherrschaft, wo sich Psychologie und ihre nahe Disziplinen, wie Psychiatrie und Sozialpsychologie, nicht mit Ruhm bekleckert haben, doch auch die Ära, in der der Behaviorismus das Zepter der Wissenschaftlichkeit hochhielt, konnte nicht halten, was versprochen wurde, mit der beschriebenen Problematik der Anpassung. Wissenschaftlichkeit kann selbst zur Ideologie werden, diese wird manchmal Szientismus genannt, und ist nicht immer gut darin, zu erkennen, dass es nicht eine Methode an sich gibt, die ohne jede weltanschauliche Verwurzelung auskommt, unter anderem in Verschwörungstheorien werden diese Hintergründe etwas ausgeleuchtet.

Dennoch kann man sich pragmatisch darauf einigen, dass es so etwas wie gute Wissenschaft gibt, die einem Idealbild der Objektivität und vorurteilsfreihen Prüfung nahe kommt oder wenigstens an diesem ausgerichtet ist. Auf dieser weltanschaulich enthaltsamen Ebene geht es zumeist um Wirksamkeitsnachweise und da bietet die Wissenschaft ein gutes Instrumentarium an. Im obigen Wikipedia-Zitat wird neben der empirischen auf die geisteswissenschaftliche Komponente der Psychologie hingewiesen, die sich dann therapeutisch im Zusammenschmelzen von philosophischen und psychologischen Aspekten manifestiert.

Dies markiert einen Schritt vom Normalen zum Reflexiven oder wie Ken Wilber es hier ausdrückt:

„Das Auftauchen der formal-reflexiven Basisstruktur eröffnet die Möglichkeit der D-5-Selbstentwicklung: eine hochdifferenzierte, reflexive und introspektive Selbststrukturierung. Das D-5-Selbst ist nicht mehr unreflektiert an soziale Rollen und konventionelle Moral gebunden; zum ersten Mal kann es sich auf seine eigenen individuellen Prinzipien von Vernunft und Gewissen stützen (Kohlbergs postkonventionelles, Loevingers gewissenhaft-individualistisches Selbst etc.). Zum ersten Mal kann das Selbst eine mögliche (oder hypothetische) Zukunft konzipieren (Piaget), mit ganz neuen Zielen, neuen Möglichkeiten, mit neuen Wünschen (Leben) und neuen Ängsten (Tod). Es kann mögliche Erfolge und Misserfolge abwägen auf eine Art, die es sich zuvor nicht vorstellen konnte. Es kann nachts wachliegen vor Sorge oder Begeisterung über alle seine Möglichkeiten. Es wird Philosoph, ein Träumer im besten und höchsten Sinn; ein innerlich reflexiver Spiegel, staunend über seine eigene Erkenntnis. Cogito, ergo sum.

„Identitätsneurose“ bezeichnet spezifisch alle Dinge, die beim Auftauchen dieser selbstreflexiven Struktur schiefgehen können. Ist sie stark genug um sich von Regel/Rollen-Geist freizumachen und für ihre eigenen Gewissensprinzipien einzustehen? Kann sie, wenn nötig, den Mut fassen, nach einer eigenen Melodie zu marschieren? Wird sie es wagen, selbst zu denken? Wird sie von Angst und Depressionen erfasst angesichts ihrer eigenen Möglichkeiten? Diese Dinge – die leider von vielen Theoretikern der Objektbeziehungen auf die D-2-Dimension von Trennung und Individuation reduziert werden – bilden den Kern des D-5-Selbst und seiner Identitätspathologie. Erikson (1959, 1963) hat die vielleicht definitiven Studien über die D-5-Selbstentwicklung geschrieben („Identitiät vs. Rollenkonfusion“). Hier kann nur die Beobachtung hinzugefügt werden, dass philosophischen Probleme ein integraler Bestandteil der D-5-Entwicklung sind und philosophische Erziehung ein integraler und legitimer Bestandteil der Therapie auf dieser Ebene ist.“[5]

Das Erreichen dieser Struktur betrifft also Fragen nach Sinn, Existenz, dem Tod, Ethik und der eigenen Rolle in der Welt, die nicht klassisch zum psychotherapeutischen Bereich gehören, aber Individuen umtreiben können, bei denen die Fähigkeit zur Liebe und Arbeit vorhanden ist. Man kann sich dies als weitere Stufe der Entwicklung vorstellen, muss dies aber nicht tun.

Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit des Begriffs oder Konzepts Ich-Schwäche im engen Sinne wurde gestellt. Man findet den Begriff und das Konzept immer wieder bei Otto Kernberg, auf den ich mich gerne und häufig beziehe und der glaube ich mehr als die meisten anderen Psychologen und Psychiater für eine explizite Orientierung an der Wissenschaft, in seinem Selbstverständnis und dem anderer steht. Schon in seinem ersten bedeutenden Werk von 1975, „Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus“, findet sich ein zehnseitiges Kapitel zur Ich-Schwäche, im ersten Standardwerk, „Schwere Persönlichkeitsstörung: Theorie Diagnose Behandlungsstrategien“, taucht der Begriff immer wieder auf und das Konzept wird erläutert und schließlich heißt es noch in seinem jüngsten Werk „Liebe und Aggression: Eine unzertrennliche Beziehung“, über die übertragungsfokussierte Therapie TFP:

„Das Projekt sieht im Modell der psychoanalytischen Psychotherapie – systematische Deutung der Übertragung bei zeitgleich stattfindenden supportiven Maßnahmen außerhalb der Therapie, damit sich die Behandlung erfolgreich entwickeln kann – den optimalen therapeutischen Zugang zur Behandlung von schweren Persönlichkeitsstörungen bzw. „Ich-Schwäche“.“[6]

Selbstverständlich findet man den Begriff nicht ausschließlich bei Kernberg, wie man per Suchmaschine schnell herausfinden wird.

Diagnosen und Kategorisierungen

Diagnosen und Kategorisierungen sind in allen Bereichen der Natur- und Geisteswissenschaft wichtig, damit man weiß, worüber man redet (was gemeint ist, wenn jemand einen bestimmten Begriff benutzt) und vor welchen weltanschaulichen Hintergrund dies geschieht. Alle Konzepte sind tatsächlich nur Konzepte und damit Mittel und Wege, die wir für die Erkenntnis brauchen. Den Begriff der Ich-Schwäche (unter welchem Synonym auch immer) halte ich insofern für wichtig und gelungen, weil dieser mit konkreten Einschränkungen korreliert, die wiederum konkrete Auswirkungen auf viele Bereiche des Lebens haben.

Über Sinn und Unsinn manch anderer Diagnosen und Kategorisierungen in der Psychotherapie ließe sich sicher trefflich streiten, ausgerechnet bei der Ich-Schwäche finde ich das eher nicht, wie dargestellt. Umso verwunderter war ich, dass in den einschlägigen Nachschlagewerken im Internet bisher eher spärliche Informationen zu finden sind. Diese Lücke wollten wir ein Stück weit schließen und ich glaube nach wie vor, dass uns das recht gut gelungen ist.

Quellen:

  • [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Psychologie
  • [2] Otto F. Kernberg, Narzißmus, Aggression und Selbstzerstörung, 2004, dt. 2006, Klett-Cotta, S.22f
  • [3] www.springer.com/cda/content/document/cda_downloaddocument/9783642169731-c1.pdf?SGWID=0-0-45-1337104-p174067859
  • [4] Download zu einer ausführlicheren Variante des Strukturellen Interviews: sap.or.at/wp-content/uploads/2016/08/Fercher_Zeitung_Nr18.pd
  • [5] Ken Wilber, Das Spektrum der Psychopathologie, in: Wilber, Engler, Brown et al., Das Spektrum der Befreiung, Scherz 1988, S.124f
  • [6] Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression: Eine unzertrennliche Beziehung, Schattauer 2014, S. 3