Schmerzmedizin: Interdisziplinäre Diagnose- und Behandlungsstrategien, herausgegeben von den Medizinprofessoren Christoph Maier, Hans-Christoph Diener und Ulrike Bingel, in der 5. Auflage von 2017, ist ein Buch, das sich nicht nur an Mediziner wendet, sondern ausdrücklich an alle, die am System der Schmerzmedizin beteiligt sind. Wie alle Gebiete, in die man sich tiefer einarbeitet, werden die Aspekte, die zunächst einfach scheinen, immer komplizierter, allen voran die Frage:

Was sind eigentlich Schmerzen?

Die klassische Definition des Schmerzes ist der Beginn des ersten Kapitels, „… ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird“ (Seite 4). Doch schnell wird klar, dass hier ein neuer Wind weht, denn spätestens bei den chronischen Schmerzen reicht „das traditionelle, rein biomedizinisch orientierte Krankheitsverständnis mit seiner Abgrenzung (somatisch versus psychisch bedingt) nicht mehr aus“ (S. 12).

Das ist der angenehme Sound des Buches, der durchgehalten wird. Die insgesamt 54 Autoren des über 600 Seiten starken Werkes präsentieren sich kritisch und pragmatisch, im jeweils besten Sinne des Wortes, es wird geschaut, was funktioniert. Von der Wiederholung starrer Leitlinienempfehlungen grenzen sich die Autoren schon im Vorwort ab, da diese im klinischen Alltag oft nicht durchgehalten werden können, etwa wenn Kontraindikationen bestehen, weil der Schmerzpatient Allergien hat, die Patientin schwanger ist, gefährliche Vorerkrankungen vorliegen oder andere medikamentöse Wechselwirkungen zu erwarten sind. Dann müssen, zum Wohle des Patienten, andere Wege gegangen werden und das Buch vermittelt praxisnah solche Möglichkeiten.

Was kann man lernen?

Neben der Praxis liegt auf der Diagnose ein weiterer Schwerpunkt des Buches, das Herzstück bildet ein Mittelblock, in dem 16 Schmerzsyndrome vorgestellt und besprochen werden, von den Klassikern Kopf- und Rückenschmerzen, über die Gelenk- und Weichteilschmerzen, Nerven- und Tumorschmerzen, das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS) bis zur Schmerztherapie von Kindern, Opioidabhängigen, Alten, Stillenden und Patienten in der Palliativmedizin.

In wünschenswerter Klarheit ist hier von der Definition über die Diagnose, Differentialdiagnose bis zu primären und alternativen Therapievorschlägen, ihren Indikationen und Kontraindikationen, viel praktisches Wissen verdichtet vorzufinden. Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Das Buch ist außer für explizite Schmerzmediziner auch für Angehörige anderer Berufsgruppen, thematisch Interessierte und betroffene Patienten interessant: Schmerzmedizin ist deutlich mehr als die Alternative Tabletten oder Operation. Das wird in dem Buch deutlich und dargestellt.

Schmerzmedizin ist immer auch ein kreativer Akt, bei dem nicht nur der medikamentöse Plan B oder C gesucht wird, sondern weitergehende Fragen erörtert werden müssen: Besteht eine Indikation für diesen oder jenen, monotherapeutischen, kombinierten oder multimodalen Ansatz? Diese Frage muss in jedem Einzelfall immer wieder neu gestellt und beantwortet werden, denn das ist die Konsequenz der oben angesprochenen Abkehr vom biomedizinischen Krankheitsverständnis hin zum biopsychosozialen Modell. Dies bedeutet auch, ein Verständnis für die Grenzen der jeweiligen Ansätze zu entwickeln.

Jeder Patient hat seine eigenen Schmerzen und braucht sein eigenes Behandlungskonzept, weit über die Zuordnung von Unverträglichkeiten und Risikofaktoren hinaus, womit die Tür zum noch immer recht unbekannten Reich des Biopsychosozialen aufgestoßen wird. Dies schlägt sich immer wieder in den Kapiteln über die Schmerzsyndrome nieder, expliziter in den Beiträgen über den Placeboeffekt, die multimodale Schmerztherapie und die Psychotherapie.

Angenehm ist die pragmatische Offenheit, ohne dass auf Präzision verzichtet wird. Ein schwieriger Akt, der gelungen ist, einzig einige spezialisierte Operationsverfahren werden nur angerissen, doch sind diese für den Alltag des Schmerzmediziners ohnehin nachrangig und nur in seltensten Fällen die ultima ratio. Offenheit bedeutet nicht unkritisch zu sein. So wird immer wieder deutliche Kritik geübt, wie zum Beispiel an der Verschreibungs- und Zulassungspraxis von Schmerzmitteln; insbesondere die oft als relativ harmlos angesehenen NSAR-Präparate (z.B. Ibuprofen) sind gerade bei längerem Gebrauch mit erheblichen Risiken verbunden und sorgen insgesamt für die größten Schäden.

Es gibt keine einfache Hierarchie der Schmerzmittel. Leicht, mittel und stark sind keine Abstufungen, die länger allgemeine Gültigkeit beanspruchen können, da die schmerzstillende oder -reduzierende Wirkung von Krankheitsbild zu Krankheitsbild variiert und auch vermeintlich schwächere Mittel den stärker eingeschätzen überlegen sein können. Die Darstellung, welche Mittel bei welcher Krankheit wirken und wie man sie in welchen Fällen therapeutisch gewinnbringend kombiniert, ist eine der starken Seiten des Buches. Dass einige Basics klar herausgestellt werden, ist erfreulich und leider notwendig: Wenn ein Schmerzmittel eine deutlich schmerzstillende oder -reduzierende Wirkung nicht erreicht, ist gegebenenfalls die Dosis zu erhöhen und bringt das keinen Erfolg, dann sofort abzusetzen. Es gibt keinen Grund, ein Mittel, das nicht wirkt, also die Schmerzen nicht deutlich reduziert, einzunehmen. Ob es deutlich wirkt, entscheidet der Patient, denn der merkt es. Was geradezu banal klingt, ist ein häufiger praktischer Fehler von Ärzten und Patienten.

Der unideologische Tenor des Buches ist am besten an einer Anekdote zu verdeutlichen. Ich sah einen der Herausgeber des Buches, der in der Fragerunde eines öffentlichen Vortrags um seine Einschätzung der Osteopathie gebeten wurde. Die Antwort: „Super, wenn es sich um Osteopathie als Therapie und nicht als Religion/Ideologie handelt.“ Die Idee, zu nehmen was hilft, ohne sich vollständig auf die Hintergründe der jeweiligen Verfahren einlassen zu müssen, ist nicht immer leicht, weil die Hintergründe manchmal bedeutsam sind, dennoch ist ein gesunder, unideologischer Pragmatismus hier oft von Erfolg gekrönt. So finden auch alternative und komplementäre Verfahren Erwähnung und aufgeführt werden jene, die ihre Wirkung in Studien beweisen konnten. Häufig, wenn auch nicht immer, zeigt sich das Zusammenspiel der einzelnen Elemente den Monotherapien überlegen, explizit in der multimodalen Schmerztherapie, die aber ausdrücklich nicht bedeutet, einfach mehrere Verfahren zu kombinieren, sondern diese im beständigen Dialog, ausgerichtet auf ein gemeinsames Ziel, aufeinander abzustimmen.

Was ist neu?

So muss man die multimodale Schmerztherapie leider noch immer zu den nicht ausreichend umgesetzten Neuerungen zählen. Bekannt ist sie seit den 1970ern, in die Praxis kommt sie, trotz hoher Wirksamkeit bei entsprechender Indikation und erheblichem Bedarf, eher schleppend. Das liegt auch daran, dass man mit dem biopsychosozialen Ansatz so richtig immer noch nichts anfangen kann. Die Wirkmechanismen der Medikamente kennt man in den meisten Fällen, die der Ergo- und Physiotherapie oft auch, die der Psyche nicht oder nur begrenzt.

In der Medizin wird die Psyche noch immer als unberechenbare bis willkürliche Größe, wenn nicht sogar als Hemmnis angesehen. Schmerzmedizin bricht mit dieser Tradition, insgesamt kann man aber auch hier nichts an dem Umstand ändern, dass wir mit unserem Wissen über psychosomatische oder biopsychosoziale Zusammenhänge noch sehr am Anfang sehen. Man darf hoffen, dass der Mut des Buches, zu fordern, den Placeboeffekt umfassender einzubinden, Freunde findet und ausgebaut wird, statt ihn klammheimlich zu ignorieren. Was in diesem Buch über den Placeboeffekt zu lesen ist, ist streckenweise nicht weniger als sensationell zu nennen, es gilt nun, den ethischen Imperativ zu hören und den Placeboeffekt in ein therapeutisches System einzubinden, wo er mehr als die Rolle eines zufälligen oder intuitiven Faktors spielt.

Nicht immer wird ein multimodales oder integratives Konzept gebraucht, da man nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen muss. Die kleinste Intervention kombiniert mit dem größten Nutzen ist auch hier leitend, aber je chronischer die Schmerzen werden, umso mehr scheint die Lösung in komplexeren Ansätzen zu liegen. Die Rolle der Psyche ist längst nicht nur auf den Placeboeffekt beschränkt und aller Voraussicht nach auch nicht nur auf die Verhaltenstherapie.

Die sprechende, deutende, imaginative und edukative Medizin ist auch dann die Medizin der Zukunft, wenn sich verschiedene pharmakologische oder technische Aspekte weiter ausdifferenzieren, einfach weil eine Richtung vorgegeben werden muss und diese ist das Wohl des Patienten. Die Autoren haben hier nicht nur keine Berührungsängste, sondern verfügen über weitreichende Kenntnisse auf dem Gebiet, was auch für den psychologisch interessierten Leser erfreulich ist.

Weniger bekannte, aber effektive Verfahren wie die Spiegeltherapie kommen in dem Buch ebenso zur Sprache wie Kühl- oder Wärmetechniken, physio- und ergotherapeutische Verfahren und damit die Betonung eines unverzichtbaren Standbeins: Bewegung. Am besten die eines motivierten und gut gelaunten Patienten, der nicht einfach lieblos einen Programmpunkt abarbeitet. Rechtliche und organisatorische Fragen haben ein eigenes Kapitel.

Menschen, die an irgendeiner Stelle des medizinischen oder psychologischen Systems mit Schmerzpatienten arbeiten, werden das Buch mit Gewinn lesen, interessierten Patienten kann dazu geraten werden, wenn sie sich ein wenig in medizinischer Terminologie auskennen. Schmerzmedizin: Interdisziplinäre Diagnose- und Behandlungsstrategien ist ein insgesamt starkes, sehr empfehlenswertes Buch, das auch stilistisch anspricht, da zu komplizierte Formulierungen auf eine verstehbare Form heruntergebrochen werden.