Verena K* hat Schizophrenie. Aber hätte sie genauso gut eine Depression entwickeln können? Um eine Schizophrenie oder eine andere psychische Erkrankung zu bekommen, braucht es zum einen eine spezielle genetische Veranlagung für diese Erkrankung. Zum anderen bestimmte Umwelteinflüsse, das heißt bestimmte Stressoren, Auslöser. So jedenfalls lautet das derzeitige Krankheitsmodell für diverse psychische Erkrankungen. Eine internationale Studie, an der auch die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn beteiligt war, hat darüber hinaus Entscheidendes in Bezug auf die Entstehung psychischer Erkrankungen herausgefunden.

Modell zur Entstehung psychischer Erkrankungen

Das Diathese-Stress-Modell, auch Vulnerabilitäts-Stress-Modell genannt, nimmt an, dass für die Entstehung psychischer Erkrankungen einerseits eine Kombination individueller Faktoren, wie zum Beispiel biologische beziehungsweise genetische Dispositionen, familiäre Häufung des Auftretens dieser Erkrankung, biografische und soziale Faktoren, verantwortlich ist. Andererseits stellen bestimmte Stressereignisse die Bedingungen für die Entstehung psychischer Erkrankungen dar.

Verschiedene entwicklungsbezogene Faktoren können sich positiv in Bezug auf die Entstehung und den Verlauf der jeweiligen Erkrankung auswirken. Insbesondere die soziale Unterstützung, die individuelle Fähigkeit zur Bewältigung der stressauslösenden Ereignisse sowie die Impulskontrolle spielen unter anderem eine Rolle, ob und wie stark eine psychische Erkrankung eintreten kann.
Wichtig ist anzumerken, dass belastende Ereignisse nur dann die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung psychischer Erkrankungen erhöhen, wenn die erstgenannte Kombination individueller Faktoren (genetische Veranlagung etc.) vorliegt.

Aber: Psychische Erkrankungen haben gemeinsame Basis

Moleküle Struktur

Moderne Technologien machen es möglich, die Entstehung psychischer Erkrankungen auf molekularer Ebene zu prüfen. (All changes made to the image settings are applied to the selected photo only.) © osde8info under cc

Neu ist nun, was in einer Studie des Brainstorm Consortiums, unter der Beteiligung der Uniklinik Bonn, an Ergebnissen zutage getreten ist. Offenbar haben viele psychische Erkrankungen eine gemeinsame molekulare Basis. Die gemeinsame Basis ist bisher in den diagnostischen Kriterien psychiatrischer Klassifikationssysteme nicht berücksichtigt.

In der Studie arbeiteten mehr als 500 Forscher aus aller Welt zusammen. Es wurde herausgefunden, dass psychische Erkrankungen offenbar zahlreiche genetische Faktoren teilen. Neurologische Erkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer tun dies nicht in dem Ausmaß. Diese sind bezüglich ihrer genetischen Grundlagen stärker voneinander abgegrenzt. Demzufolge weisen psychische Erkrankungen, wie Schizophrenie, Depression und ähnliches Gemeinsamkeiten auf molekularer Ebene auf.

Überlappung genetischer Muster psychischer Erkrankungen

Die Forscher prüften die genetischen Muster verschiedener psychischer und neurologischer Erkrankungen, unter anderem von an Schizophrenie, bipolarer Störung und an Depression Erkrankten. Im Ergebnis zeigten sich entscheidende genetische Überlappungen in den Mustern, so zum Beispiel bei der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung** (ADHS), der bipolaren Störung, der schweren Depression und der Schizophrenie. Außerdem existieren starke genetische Überlappungen bei Magersucht (Anorexia nervosa) und Zwangsstörung (OCD) sowie bei der Zwangsstörung und dem Tourette-Syndrom.

Bei neurologischen Erkrankungen: wenig Überlappung

Neurologische Erkrankungen wie Parkinson und Multiple Sklerose ließen sich dagegen genetisch deutlicher voneinander sowie auch von den psychiatrischen Störungen abgrenzen. Interessant ist hierbei die Ausnahme der Migräne, welche mit ADHS, der schweren depressiven Störung und dem Tourette-Syndrom genetische Überlappungen aufweist.

Persönlichkeit und Störungen

Kugel bestehend aus silbernen Kugeln

Einige psychische Erkrankungen haben offenbar eine überlappende molekulare Basis (All changes made to the image settings are applied to the selected photo only.) © fdecomite under cc

Ferner zeigte sich in der Studie, dass ein hoher Wert bei der Persönlichkeitseigenschaft Neurotizismus, sprich die emotionale Labilität, signifikant in Zusammenhang steht mit nahezu jeder psychiatrischen Störung genauso wie mit Migräne.

Darüber hinaus existierten korrelative Zusammenhänge zwischen genetischen Überlappungen bei den Störungen und kognitiven Messungen im früheren Leben, etwa dem Intelligenzquotienten und der Anzahl der Bildungsjahre etc. So gab es zum Beispiel einen positiven Zusammenhang von hohen kognitiven Werten und Magersucht sowie Bipolarer Störung, und einen negativen Zusammenhang zwischen hohen kognitiven Werten und neurologischen Erkrankungen wie Alzheimer und Schlaganfall im späteren Leben. Mit anderen Worten, eine schlechtere kognitive Performanz im früheren Leben scheint die Wahrscheinlichkeit für Alzheimer im späteren Leben zu erhöhen. Diesbezüglich bedarf es natürlich noch weiterer Forschung.

Bedeutung für psychiatrische Klassifikationssysteme

Berücksichtigt man die gefundenen, zugrunde liegende molekularen Gemeinsamkeiten in den genetischen Mustern verschiedener Erkrankungen könnte dies Auswirkungen auf die Nosologie beziehungsweise die Neuordnung psychiatrischer Diagnosekriterien in den bestehenden Klassifikationssystemen haben. Die derzeitige Struktur in den Klassifikationssystemen scheint nur unzureichend die zugrundeliegenden pathogenen Prozesse bei der Entstehung psychischer Erkrankungen wiederzuspiegeln. Als Beispiel führen die Wissenschaftler an, dass »ein einziger Mechanismus, der die Menge eines Proteins im Gehirn reguliert, sowohl das unaufmerksame Verhalten bei ADHS als auch die gestörte Funktion bei schizophrenen Störungen beeinflussen« kann (zitiert nach idw-Informationsdienst Wissenschaft). Diese Erkenntnis wiederum schafft neue Wege für Diagnostik und Therapie und nicht zuletzt zur Klärung der Entstehung psychischer Erkrankungen.

* Name von der Redaktion geändert
** Anm. der Red.: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung gilt als eine streitbare Diagnose. Oft verschwimmen die Grenzen zwischen der Existenz der Störung als solche und dem natürlichen Bewegungsdrang und Verhalten der Kinder.

Quellen