Im ersten Teil der Serie über die biologische-medikamentöse Behandlung von Sexualstraftätern ging es um die chirurgische Kastration. In diesem Beitrag soll es um eine andere Art, nämlich die chemische Kastration gehen. Darunter versteht man die Unterdrückung des Sexualtriebs durch Medikamente.

2009 wurde in Polen ein Gesetz verabschiedet, in dem festgeschrieben ist, dass Kinderschänder sich künftig nach ihrer Haftstrafe einer chemischen Zwangsbehandlung unterziehen müssen. Alle Sexualstraftäter, die Minderjähre unter 15 Jahren vergewaltigt haben bzw. Inzest mit ihnen begangen haben, müssen sich der medikamentösen Zwangskastration unterziehen. Bei der daraus entstehenden Debatte lässt sich fragen, ob diese Maßnahme gegen die Menschenrechte verstößt. Eine Therapie und daraus resultierende körperliche Veränderungen ohne die Zustimmung des Täters lässt sich schon fast als Folter bezeichnen. Die Befürworter hingegen plädieren darauf, dass eine chemische Kastration reversibel sei. [1]

Chemische Kastration von Sexualstraftätern

Da die Erfolge mit der chirurgischen Kastration nennenswert groß sind, scheint die Idee, mit Medikamenten das Absinken des Testosteronlevels herzustellen, nicht weit hergeholt. Wenn eine solche Methode funktioniert, ist sie natürlich um einiges attraktiver als die chirurgische Kastration. Neben den entstehenden Kosten und der Einfachheit hat die „chemische Kastration“ noch einen entscheidenden Vorteil: sie ist reversibel. [2]

Der sexuelle Sadist und Serienmörder Michael Ross schreibt über ein triebdämpfendes Präparat:

„The drug (Depo-Lupron) clears my head of the vile and noxious thoughts of rape and murder that plagued my mind for so long; the drug eliminates the previously uncontrollable urges that drove me to commit the crimes that put me here on death row. That monster still lives in my head, but the medication has chained him and has banished him to the back of my mind. And while he is still able to mock me, he can no longer control me – I control him; I am human once again.“ [3]

Auf Deutsch: Das Medikament (Depo-Lupron) befreit meinen Kopf von den gemeinen und schädlichen Gedanken von Vergewaltigungen und Morden, die meinen Geist so lange geplagt haben; das Medikament beseitigt die bisher unkontrollierbaren Triebe, die mich dazu brachten, die Taten zu begehen, die mich hier in die Todeszelle brachten. Dieses Monster lebt noch immer in meinem Kopf, aber die Medikation hat es in Ketten gelegt und es in die Tiefen meines Geistes verbannt. Und während es mich immer noch verspottet, kann es mich nicht mehr kontrollieren – ich kontrolliere ihn; ich bin wieder menschlich.

Er ist sehr dankbar über das Medikament, da er sich wieder menschlich fühlt und Kontrolle über sich hat.

Medikamentöse Behandlung mit…

Die drei folgenden Substanzklassen haben sich alle in der Behandlung des Prostatakarzinoms bewährt und können auch als Triebdämpfer für Sexualstraftäter eingesetzt werden. [4] Neben diesen Präparaten können auch Antidepressiva verwendet werden, deren Nebenwirkung ein verminderter Sexualtrieb ist.

Cyproteronacetat (CPA)

Die Medikamente, die genutzt werden, sollen den Testosteron- bzw. Androgenspiegel senken. Androgene sind männliche Sexualhormone, wovon Testosteron eines der wichtigsten ist. [5] Bereits 1966 wurde ein bisexuell-pädophiler Mann mit dem Antiandrogen Cyproteronacetat (CPA) behandelt. Der Hauptwirkmechanismus des Wirkstoffes ist es, das Andocken des Hormons Testosteron an den Rezeptoren der Zielorgane zu hemmen. [6]

Medroxyprogesteronacetat (MPA)

CPA ist in den USA als Medikament nicht zugelassen, deswegen nutzt man dort Medroxyprogesteronacetat (MPA). Es handelt sich hierbei um ein synthetisches Gestagen (Schwangerschaftshormon), welches mitunter als Ovulationshemmer zur Empfängnisverhütung in der Dreimonatsspritze verwendet wird. Im männlichen Organismus sorgt es dafür, dass der Stimulus für die Androgenbiosynthese fehlt, welche eine Umwandlung von Cholesterin in Androgene ermöglicht. [7]

LH-RH-Agonisten

Die LH-RH-Agonisten hemmen ebenfalls, wie das MPA, die Androgenbiosynthese männlicher Geschlechtsorgane.

Probleme bei der medikamentösen Behandlung

Ein problematischer Ansatzpunkt ist, dass eine erfolgreiche medikamentöse Behandlung zu der Schlussfolgerung führen kann, dass es sich um eine einfache Kausalitätskette handelt, die auch einfach gelöst werden kann. Der psychosoziale Aspekt rückt hier in den Hintergrund. [8] Dieses Vorgehen ist von der Pharmaindustrie geprägt und findet sich leider auch unter vielen Medizinern wieder. Es gibt ein Problem, dagegen gibt es eine Pille, Problem gelöst. Doch der eigentliche psychologische Anspruch sollte darin bestehen, Ursachenforschung zu betreiben und die Straftäter therapeutisch zu betreuen, so dass ein Leben ohne Abhängigkeit eines Medikamentes ebenso möglich ist.
Weiterhin ist die Bezeichnung „chemische Kastration“ ein Indiz dafür, dass hinter den medizinischen Behandlungen ein Kastrationswunsch steht. [9] Angesichts der Nebenwirkungen ist eine dauerhafte medikamentöse Behandlung ebenso nicht möglich.

Chemische Kastration und deren Wirksamkeit

Für CPA und LH-RH-Agonisten gibt es keine Wirksamkeitsnachweis in Bezug auf ein vermindertes Rückfallrisiko von Sexualstraftätern. Sämtliche Studien zu CPA und LH-RH erfüllen nicht die Kriterien, um in eine Meta-Studie von Schmucker im Jahr 2004 aufgenommen zu werden, da sie mitunter das Rückfallrisiko nicht mit einbeziehen. Einige Studien zu MPA wurden hingegen in die Meta-Analyse aufgenommen. Methodisch kann man dennoch Kritik üben, denn es ist aus ethischen Gründen schwer, eine Placebo-Kontrollgruppe bereitzustellen. Es gibt jedoch immer wieder Studien, die behaupten, dass Straftäter nach einer MPA-Therapie keine Rückfälle verzeichneten. [10]

Selbstbestimmung im Maßregelvollzug

Um evaluieren zu können, wie selbstbestimmt Sexualstraftäter über die Einnahme von testosteronspiegelsenkenden Präparaten entscheiden, ist es zunächst von Nöten, das System Maßregelvollzug genauer zu verstehen. Der Maßregelvollzug ist meist in verschiedene Stationen untergliedert, die jeder Straftäter durchlaufen muss. Mit jedem Schritt gibt es Lockerungsmaßnahmen, mehr Freiheiten. Die Mitarbeiter der Klinik gewähren ein „Weitergehen“, wenn sich beim Patienten ein Fortschritt erkennen lässt. Den Sexualstraftätern ist es freigestellt, ob sie ein triebdämpfendes Medikament nehmen möchten. Doch der Drang, möglichst schnell voran zu kommen und auch eventuell möglichst schnell wieder in die Freiheit zu kommen, verleitet viele Straftäter dazu, das Medikament zu wählen. Viele Sexualstraftäter nehmen ein Medikament ein, doch kaum einer tut das aus einer inneren Überzeugung heraus.

Es kann vorkommen, dass während der medikamentösen Behandlung erstaunliche Fortschritte erzielt werden, die sich jedoch auf Dauer nicht bewähren. Sobald es abgesetzt wird, steht man im schlimmsten Fall wieder am Anfang. Bevor die Straftäter entlassen werden, nehmen sie das Medikament nicht ein. Denn in der Freiheit wird dies nicht von den Krankenkassen getragen und ist von einem Straftäter, der sein Leben in Freiheit neu strukturieren muss, nicht bezahlbar. Zudem ist eine dauerhafte Einnahme aufgrund der Nebenwirkungen ohnehin nicht möglich. Das Medikament kann also nur als Therapiehilfe eingesetzt werden, wobei sich die Frage stellt, ob man mit dieser Methode am Ende wirklich schneller voran kommt.

Moralische Fragen

Wenn es um die biologisch-medikamentöse Behandlung von Sexualstraftätern geht, gibt es verschiedene Ebenen, auf denen man über dieses Thema diskutieren kann.

1. Was für Vor- und Nachteile bringen die chirurgische oder die chemische Kastration mit sich?

Der wohl größte Vorteil der chemischen Kastration ist, dass sie reversibel ist. Bei schlimmen Nebenwirkungen kann das Medikament jederzeit abgesetzt werden. Der Patient behält sich auch die Option, irgendwann einmal Nachwuchs zeugen zu können, offen. Allerdings sind die Medikamente auf Dauer eine große finanzielle Belastung und sie müssen regelmäßig eingenommen werden. Wenn Straftäter irgendwann wieder in Freiheit leben, besteht die Gefahr, dass sie ihre Medikamente nicht nehmen und rückfällig werden. Bei der chirurgischen Kastration ist die Wahrscheinlichkeit, rückfällig zu werden, allerdings äußerst gering. Doch wie es auch gesetzlich geregelt ist, niemand sollte ohne seine Einwilligung zwangskastriert werden, da das gegen die Menschenrechte verstoßen würde.

2. Unter welchen Umständen ist eine (chemische) Kastration ethisch vertretbar?

Die Einnahme von triebdämpfenden Präparaten ist nur ethisch vertretbar, wenn der Patient sie freiwillig einnimmt. Außerdem sollten auch keine Einflüsse von außen bestehen, die den Druck erhöhen (Maßregelvollzug schneller beenden wollen). Es ist wichtig, dass Menschen diese Entscheidung aus einer intrinsischen Motivation heraus vollkommen selbstbestimmt treffen. Zudem sollten sie vorher über die möglichen Nebenwirkungen aufgeklärt werden.

3. Lohnt sich eine medikamentöse Behandlung angesichts des Rückfallrisikos?

Die Forschung mit der medikamentösen Behandlung steht noch relativ am Anfang. Es ist wichtig, dass wissenschaftliche Studien durchgeführt werden, die man in Meta-Analysen zusammenfassen kann. Erst dann lassen sich fundierte Aussagen darüber treffen, wie wirksam die Behandlung ist. Medikamente sollten allerdings auf keinen Fall als die Wunderlösung gelten, sondern nur neben einer Therapie bestehen. Eine Therapie ist nachhaltiger und tiefenpsychologischer als eine medizinische Behandlung und deswegen auf keinen Fall auszulassen.

Nicht alle Fragen lassen sich einfach und unbedacht beantworten. Es ist immer noch viel Forschung und Aufklärungsarbeit in diesem Bereich nötig. Man sollte sich auf jeden Fall vor Augen führen, dass eine medikamentöse Behandlung nicht alles ist und es tiefere Ursachen für die Taten, Gedanken und Gefühle von Sexualstraftätern gibt.

Quellen