Es gibt vielleicht keinen besseren Moment um den großen Sprung ins Integrale darzustellen, als die Gegenwart, mit ihrer kuriosen Mischung, in der einige die Welt am Rande einer definitiven und unumkehrbaren Katastrophe sehen, während andere nicht müde werden, von der besten Zeit zu reden, in der wir je lebten, bezogen auf so gut wie alle Lebensbereiche. Da kommt keiner mehr so richtig mit und die Fraktionen sehent sich wechselseitig, entweder als die großen verantwortungslosen Verharmloser oder als hysterische Spinner, gegenüber. Schnittmengen sind kaum zu finden, außer vielleicht in der Emotionalität mit der jeder seinen Standpunkt vertritt.
Was man sich wünschen würde, wäre die Möglichkeit einen Überblick zu gewinnen und eine integrale Sichtweise bietet uns eine solche an. Integral und der integrale Ansatz sind Begriffe, die in unserer Zeit stark mit dem Denken und Werk von Ken Wilber verbunden sind, der hier eine Pionierarbeit geleistet hat. Wilber selbst greift dabei auf die Arbeit von Jean Gebser und Sri Aurobindo zurück. Ich will hier jedoch weniger auf diese historischen Bezüge oder auf Ken Wilber eingehen, über dessen Wirken man sich auf der Website des Integralen Forums informieren kann, ich konzentriere mich auf die Darstellung des integralen Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns selbst.
Der große Sprung
Der große Sprung ins Integrale, das klingt zunächst nach einer sensationellen Neuerung, umso überraschender ist die Antwort auf die Frage, was denn nun den Inhalt dieser neuen Sichtweise ausmacht, die lauten muss: Eigentlich nichts, was man nicht schon kennt. Mit dem integralen Bewusstsein sieht man inhaltlich gar nicht viel Neues, was man aber erkennt, sind die Zusammenhänge zwischen all dem, was bisher eher als neben einander stehend erschien und was einen nicht unwesentlichen Teil unserer Verwirrungen darstellt.
Es ist aber gut, wenn man versteht, dass diese Neuordnung der Sichtweise alles andere als eine Kleinigkeit ist. In den Folgen 1 bis 7 haben wir die Weltbilder dargestellt und diskutiert, ob es diese hierarchische Abfolge überhaupt gibt. Wir gingen vom Überleben und Fortpflanzen aus, es folgten Clans und Magie, dann Mythos und Ritual, die wichtige, weil wenig verstandene mythisch-rationale Stufe, die wissenschaftlich-technische Stufe und schließlich das empfindsame Selbst. Wenn ich in meinem letzten Beitrag erneut Rituale und Mythen als Rettung vorgestellt habe, dann ist das nicht als Rückfall in frühere Zeiten oder Denkweisen zu verstehen, sondern als ein Baustein im Kontext eines integralen Ansatzes, den ich ebenfalls favorisiere und erläutern möchte. Was macht nun den großen Unterschied und Sprung aus?
Alle zuvor genannten Weltbilder, haben bei allen gravierenden Unterschieden auch Gemeinsamkeiten, sie können nämlich einander nicht leiden. Ein typischer Vertreter der genannten Weltbilder meint, seine Sicht sei im Grunde richtig und dass die anderen das einfach noch nicht begriffen hätten. Darum ist die nächste Gemeinsamkeit der vorherigen Weltbilder, dass sie meinen ihre eigene, einzig richtige Sichtweise, sollten folgerichtig alle anderen auch übernehmen. Es gibt also den missionarischen Trend alle anderen mit der eigenen Sichtweise zu überziehen oder die Vorstellung, alle andere dächten und fühlten ohnehin bereits so, wie man selbst, könnten sich und anderen das aber aus gewissen konventionellen Gründen nicht eingestehen.
Aus der integralen Sicht ist das anders. Zum einen wird akzeptiert, dass es in der Welt sehr unterschiedliche Sichtweisen gibt und es soll nicht versucht werden, alle Menschen irgendwie zur integralen Denkweise zu bewegen, schon aus dem Wissen heraus, dass die Fähigkeit die Welt integral zu erfassen, elitär und exklusiv ist. Nicht in dem Sinne, dass nicht jeder eingeladen wäre, aber es kann nicht jeder. Ebenso wie nicht jeder, der Fußball oder Klavier spielt, am Ende in der Champions League spielt oder auf der Konzertbühne. Das ist nicht weiter schlimm, denn beides hat einen Wert an sich.
Weiter werden die anderen Sichtweise nicht nur zähneknirschend als „die sind eben noch nicht so weit“ akzeptiert, ganz im Gegenteil besteht das integrale Denken darin zu sehen, dass alle anderen Weltbilder in Teilen vollkommen recht haben und sich in anderen Teilen irren, nämlich wenn sie übertreiben und ihre Sicht verabsolutieren. Das tun sie gelegentlich und dann kippt auch ein an sich guter Ansatz ins Schädliche oder Pathologische um. Es gilt also die Waage zu halten, eine harmonische Position zu erreichen, die nach Möglichkeit die Stärken aller Vorgänger mitnimmt, aber ihre Schwächen zurück weist. Dies wirkt schwer und das ist es auch, das macht diese Stufe elitär und den Sprung ins Integrale wirklich zu einem Sprung.
Wobei das im Grunde schon alles ist, worum es geht, aber wie schon in Neue Realitäten ausgeführt, muss man dafür die Fähigkeit besitzen mehrere Themen in ihrem Zusammenhang zu sehen und zu betrachten, hinzu kommt dann noch, dass man mehrere Weltbilder hineinfühlen und diese ausbalancieren muss. Ein direkter Lohn dieser Stufe ist die Freiheit von Vorurteilen und ideologischen Engführungen, wobei man natürlich auch mit dem integralen Ansatz fehlerhaft und ideologisch umgehen kann, ich komme auch auf die kritischen Punkte zurück, die man keinesfalls verschweigen darf.
Integral vs. Integral informiert
Innerhalb der integralen Bewegung wird die Unterscheidung zwischen integralen und integral informierten Menschen gemacht. Der integrale Ansatz wird auch AQAL Ansatz genannt, ein unfertiges Akronym für alle Quadranten, alle Linien, alle Stufen, alle Typen, alle Zustände. Ich gehe nur auf die Linien und Stufen ein, der Rest ist in knapper Form hier zu finden.
Entwicklungslinien sind die verschiedenen Ausdifferenzierungen des Inneren: Kognition, Affekt/Emotion, Moral, Ästhetik, Kommunikation, Spiritualität, Selbstbild, Körperbild, Weltbild, Empathie, Musikalität usw., die eine gewisse innere Beziehung zueinander haben. So gilt die kognitive Linie als eine Pionierlinie, Moral als eine sehr späte, was erklärt, warum intelligente Menschen unmoralisch sein können, aber ethische entwickelte nicht dumm, einige Linien haben aber nur lose Verbindungen untereinander.
Stufen oder Ebenen meint, dass alle diese Linien verschieden weit entwickelt sein können. In aller Regel kristallisieren sich aber Schwerpunkte der Entwicklung heraus. Wo sich jemand aktuell befindet, in seiner Entwicklung ist also eine Art Durchschnittswert aller etwa 30 Linien. Man wäre auf einer bestimmten Stufe, wenn etwa 50% der Linien in dem Bereich dieser Stufe sind, etwa 25% eine Stufen zumeist unmittelbar darüber, bzw. darunter, wobei besondere Talente und Sub-Persönlichkeiten als Ausrutscher nach oben und unten gelten.
Als ‚integral informiert‘ gilt jemand, der kognitiv versteht, was der integrale oder AQAL Ansatz ist und will, aber wirklich ‚integral‘ ist jemand bei dem also etwa 15 Linien integral/gelb entwickelt sind.