Es gibt vielleicht keinen besseren Moment um den großen Sprung ins Integrale darzustellen, als die Gegenwart, mit ihrer kuriosen Mischung, in der einige die Welt am Rande einer definitiven und unumkehrbaren Katastrophe sehen, während andere nicht müde werden, von der besten Zeit zu reden, in der wir je lebten, bezogen auf so gut wie alle Lebensbereiche. Da kommt keiner mehr so richtig mit und die Fraktionen sehent sich wechselseitig, entweder als die großen verantwortungslosen Verharmloser oder als hysterische Spinner, gegenüber. Schnittmengen sind kaum zu finden, außer vielleicht in der Emotionalität mit der jeder seinen Standpunkt vertritt.
Was man sich wünschen würde, wäre die Möglichkeit einen Überblick zu gewinnen und eine integrale Sichtweise bietet uns eine solche an. Integral und der integrale Ansatz sind Begriffe, die in unserer Zeit stark mit dem Denken und Werk von Ken Wilber verbunden sind, der hier eine Pionierarbeit geleistet hat. Wilber selbst greift dabei auf die Arbeit von Jean Gebser und Sri Aurobindo zurück. Ich will hier jedoch weniger auf diese historischen Bezüge oder auf Ken Wilber eingehen, über dessen Wirken man sich auf der Website des Integralen Forums informieren kann, ich konzentriere mich auf die Darstellung des integralen Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns selbst.
Der große Sprung
Der große Sprung ins Integrale, das klingt zunächst nach einer sensationellen Neuerung, umso überraschender ist die Antwort auf die Frage, was denn nun den Inhalt dieser neuen Sichtweise ausmacht, die lauten muss: Eigentlich nichts, was man nicht schon kennt. Mit dem integralen Bewusstsein sieht man inhaltlich gar nicht viel Neues, was man aber erkennt, sind die Zusammenhänge zwischen all dem, was bisher eher als neben einander stehend erschien und was einen nicht unwesentlichen Teil unserer Verwirrungen darstellt.
Es ist aber gut, wenn man versteht, dass diese Neuordnung der Sichtweise alles andere als eine Kleinigkeit ist. In den Folgen 1 bis 7 haben wir die Weltbilder dargestellt und diskutiert, ob es diese hierarchische Abfolge überhaupt gibt. Wir gingen vom Überleben und Fortpflanzen aus, es folgten Clans und Magie, dann Mythos und Ritual, die wichtige, weil wenig verstandene mythisch-rationale Stufe, die wissenschaftlich-technische Stufe und schließlich das empfindsame Selbst. Wenn ich in meinem letzten Beitrag erneut Rituale und Mythen als Rettung vorgestellt habe, dann ist das nicht als Rückfall in frühere Zeiten oder Denkweisen zu verstehen, sondern als ein Baustein im Kontext eines integralen Ansatzes, den ich ebenfalls favorisiere und erläutern möchte. Was macht nun den großen Unterschied und Sprung aus?
Alle zuvor genannten Weltbilder, haben bei allen gravierenden Unterschieden auch Gemeinsamkeiten, sie können nämlich einander nicht leiden. Ein typischer Vertreter der genannten Weltbilder meint, seine Sicht sei im Grunde richtig und dass die anderen das einfach noch nicht begriffen hätten. Darum ist die nächste Gemeinsamkeit der vorherigen Weltbilder, dass sie meinen ihre eigene, einzig richtige Sichtweise, sollten folgerichtig alle anderen auch übernehmen. Es gibt also den missionarischen Trend alle anderen mit der eigenen Sichtweise zu überziehen oder die Vorstellung, alle andere dächten und fühlten ohnehin bereits so, wie man selbst, könnten sich und anderen das aber aus gewissen konventionellen Gründen nicht eingestehen.
Aus der integralen Sicht ist das anders. Zum einen wird akzeptiert, dass es in der Welt sehr unterschiedliche Sichtweisen gibt und es soll nicht versucht werden, alle Menschen irgendwie zur integralen Denkweise zu bewegen, schon aus dem Wissen heraus, dass die Fähigkeit die Welt integral zu erfassen, elitär und exklusiv ist. Nicht in dem Sinne, dass nicht jeder eingeladen wäre, aber es kann nicht jeder. Ebenso wie nicht jeder, der Fußball oder Klavier spielt, am Ende in der Champions League spielt oder auf der Konzertbühne. Das ist nicht weiter schlimm, denn beides hat einen Wert an sich.
Weiter werden die anderen Sichtweise nicht nur zähneknirschend als „die sind eben noch nicht so weit“ akzeptiert, ganz im Gegenteil besteht das integrale Denken darin zu sehen, dass alle anderen Weltbilder in Teilen vollkommen recht haben und sich in anderen Teilen irren, nämlich wenn sie übertreiben und ihre Sicht verabsolutieren. Das tun sie gelegentlich und dann kippt auch ein an sich guter Ansatz ins Schädliche oder Pathologische um. Es gilt also die Waage zu halten, eine harmonische Position zu erreichen, die nach Möglichkeit die Stärken aller Vorgänger mitnimmt, aber ihre Schwächen zurück weist. Dies wirkt schwer und das ist es auch, das macht diese Stufe elitär und den Sprung ins Integrale wirklich zu einem Sprung.
Wobei das im Grunde schon alles ist, worum es geht, aber wie schon in Neue Realitäten ausgeführt, muss man dafür die Fähigkeit besitzen mehrere Themen in ihrem Zusammenhang zu sehen und zu betrachten, hinzu kommt dann noch, dass man mehrere Weltbilder hineinfühlen und diese ausbalancieren muss. Ein direkter Lohn dieser Stufe ist die Freiheit von Vorurteilen und ideologischen Engführungen, wobei man natürlich auch mit dem integralen Ansatz fehlerhaft und ideologisch umgehen kann, ich komme auch auf die kritischen Punkte zurück, die man keinesfalls verschweigen darf.
Integral vs. Integral informiert
Innerhalb der integralen Bewegung wird die Unterscheidung zwischen integralen und integral informierten Menschen gemacht. Der integrale Ansatz wird auch AQAL Ansatz genannt, ein unfertiges Akronym für alle Quadranten, alle Linien, alle Stufen, alle Typen, alle Zustände. Ich gehe nur auf die Linien und Stufen ein, der Rest ist in knapper Form hier zu finden.
Entwicklungslinien sind die verschiedenen Ausdifferenzierungen des Inneren: Kognition, Affekt/Emotion, Moral, Ästhetik, Kommunikation, Spiritualität, Selbstbild, Körperbild, Weltbild, Empathie, Musikalität usw., die eine gewisse innere Beziehung zueinander haben. So gilt die kognitive Linie als eine Pionierlinie, Moral als eine sehr späte, was erklärt, warum intelligente Menschen unmoralisch sein können, aber ethische entwickelte nicht dumm, einige Linien haben aber nur lose Verbindungen untereinander.
Stufen oder Ebenen meint, dass alle diese Linien verschieden weit entwickelt sein können. In aller Regel kristallisieren sich aber Schwerpunkte der Entwicklung heraus. Wo sich jemand aktuell befindet, in seiner Entwicklung ist also eine Art Durchschnittswert aller etwa 30 Linien. Man wäre auf einer bestimmten Stufe, wenn etwa 50% der Linien in dem Bereich dieser Stufe sind, etwa 25% eine Stufen zumeist unmittelbar darüber, bzw. darunter, wobei besondere Talente und Sub-Persönlichkeiten als Ausrutscher nach oben und unten gelten.
Als ‚integral informiert‘ gilt jemand, der kognitiv versteht, was der integrale oder AQAL Ansatz ist und will, aber wirklich ‚integral‘ ist jemand bei dem also etwa 15 Linien integral/gelb entwickelt sind.
Warum die Integralen besser sind
Die Idee, dass alle recht haben kennen wir in unserer Zeit recht gut, es ist die Idee des Pluralismus. Jede Sichtweise ist irgendwie richtig und alle würden sich auch vertragen, wenn man einander nur respektvoll begegnet. Nur, wie will man die Einstellungen von Nationalisten oder gar Rassisten mit denen, die für Offenheit und Toleranz werben, verbinden? Wo ist der gemeinsame Nenner? Die praktische Antwort der Pluralisten ist daher auch, dass sie einige aus dem Diskurs raushaben wollen. Denn eigentlich könnten sich alle lieb haben, wären da nicht diese blöden Rassisten und Nationalisten. Oder auch die anderen Skeptiker, die ihre Probleme oder eine andere Antwort als maximales Verständnis haben und auf enttäuschtes Vertrauen als Antwort nur noch mehr Vertrauen kennen. Im Grunde wollen Pluralisten mit sehr vielen nicht reden oder finden sie blöd, ihr gutes Recht, nur ist das weder tolerant, noch sonderlich pluralistisch.
Die Integralen nehmen die Sache insofern ernst, als sie sagen, dass eigene Interessen prinzipiell in Ordnung sind, nur eben nicht zu weit gehen dürfen. Dass regionale oder nationale Regeln in Ordnung sind, aber ebenfalls kippen können, wenn das Wohl des eigenen Landes über die Herabsetzung oder gar den Krieg mit anderen erreicht wird. So geht es weiter und natürlich ist auch der tolerante Diskurs in Ordnung, er ist sogar großartig. Selbst den Vorschuss, den er anderen zu geben bereit ist, ist im Grunde richtig, nur kippt das System in Richtung Naivität, wenn man nicht erkennen will, dass andere am Diskurs überhaupt kein Interesse haben und Kooperation, wenn überhaupt, bestenfalls vorspielen, wenn es ihnen nützt. Dann ist der Pluralismus in Ideologie übergegangen, der einfach nicht sehen will, was andere erkennen und dieser Diskurs muss geführt und nicht trotzig verweigert werden.
Aus einer integralen Sicht kann man bei einem der heißen Themen, wie Einwanderung, durchaus fordern, dass wir mit starkem Vorrang jene Menschen aufnehmen, die für uns nützlich sind, der Staat hat neben echtem Asyl die Pflicht das zu tun. Aber hier zu beginnen, bedeutet ja nicht hier stehen zu bleiben. Im Gegenteil, wer nützlich ist, hat zunächst schon einmal eine soziale Rolle und wird gebraucht, was im Grunde sehr gut ist und vielen fehlt. Dass ein Mensch darüber hinaus auch noch weiter kommt, gemocht oder gar geliebt wird, wäre ein wunderbarer Fortschritt und ist dadurch keinesfalls ausgeschlossen. Dass man nicht die ganze Welt nach Deutschland holen kann, da dürfte inzwischen ein breiter Konsens bestehen, dass man aber klare Regeln für die aufstellt, die kommen und nebenbei von allen diskutiert wird, wie wir zusammen leben wollen, das sollte längst ein Grundvoraussetzung sein. Neben rechtlichen Möglichkeiten besteht bei einem Konsens obendrein die Möglichkeit der moralischen Ausgrenzung oder Aufwertung, die sehr wirksam ist. Dafür muss aber diskutiert, gestritten und formuliert werden, was man von einander erwartet.
Das Thema Migration ist nur eines, aber eines, was die Gesellschaft spaltet. Klima und Umwelt, Wohlstand, Rente, Demographie, Infrastruktur und Sicherheit im Alltag und im virtuellen Raum, sowie Privatsphäre wäre weitere Themen und längst nicht alle. Sie müssen eingeflochten werden, es müssen verschiedene Konzepte diskutiert werden und erneut alle Stufen berücksichtigt werden, die konstruktiven Seiten, nicht die pathologischen Verzerrungen. So wie wir es für das Thema Umwelt in Rituale und Mythen durchgespielt haben.
Integration der Vorgänger
Dort wurde der Fokus auf die Integration von Mythen und Ritualen gesetzt, weil diese eine Lücke füllen können, die sich in unserer Zeit aufgetan hat, die mangelnde Verbindlichkeit. In einer im praktischen Alltag zunehmend funktionalen Welt besteht die Rolle die für den Einzelnen bleibt weitgehend darin, sich an die Verhältnisse anzupassen, so dass die Frage, ob man die Verhältnisse so überhaupt haben will, kaum noch auftaucht.
Man ist als Einzelner kaum noch gefragt, nur noch in der Weise, ob man einer ist, der gut oder nicht gut funktioniert und zu gebrauchen ist. Wie oben, beim Thema Migration gesagt, mit der Nützlichkeit kann es ja anfangen, man braucht gemeinsame Werte und Ziele in einer Gemeinschaft, aber es wird kalt und technokratisch, wenn unser Dasein damit endet. Manche Menschen wollen auch herausragen und nicht nur brav angepasst funktionieren, andere haben noch weitere Interessen als einfach alles am Laufen zu halten, mit recht wird die Wachstumsideologie als Trip in den kollektiven Selbstmord problematisiert und „Weiter so“ ist längst zum Buhwort geworden.
Nur bringen eben Protest und Empörung allein auch nichts, als erster Impuls sind sie okay, aber immer nur angewidert gegen alles zu sein, ist wiederum zu wenig. Konkrete Schritte und positive Ziele vermitteln Mythen und Rituale, hier können sich immer wieder auch Menschen treffen, die ansonsten sehr verschieden sind, hier können sie zusammen agieren.
Jeder kann dabei jedoch auch ein Individuum bleiben, man muss nicht in der Masse und Gruppe aufgehen. Rein und wieder raus, mal befindet man sich im Modus der Gruppe, mal des reifen Individuums und auch dafür zu sorgen, dass man selbst nicht zu kurz kommt, ist vollkommen in Ordnung. Man sieht, dass dieser Ansatz nicht starr sein kann man hat zwar gewisse Standpunkte, reagiert aber flexibel auf sie, hier vielleicht ähnlich wie im Buddhismus, wo Weisheit und die geeigneten Mittel dynamisch Hand in Hand gehen.
Entscheidend ist, dass die Themen zusammen gesehen und angegangen werden und die Vorgänger der Entwicklungsstufen eingebunden werden, auch weil die Psyche davon profitiert wenn Kopf, Hand und Herz gleichermaßen angesprochen werden. Ein gesundes Ich hat keine Probleme damit sich in Rollen einbinden zu lassen, vor allem dann, wenn man weiß, dass man die Rollen auch verlassen kann und bei einem reifen Ich ist das der Fall.
Die Allianz von Innen und Außen
Dass man die problematischen Themen der Gegenwart zusammen denken muss, haben inzwischen einige erkannt doch es gibt nach wie vor einen entscheidenden Unterschied, den die meisten anderen Ansätze nicht auf dem Schirm haben, nämlich dass das Bewusstsein ein ungeheuer entscheidender Faktor ist. Die Medizin macht gerade diese Erfahrung und bindet den Patienten wenigstens auf dem Gebiet chronischer Erkrankungen stärker mit ein, bei globalen Problemen erkennt man das Bewusstsein noch immer nicht als Verbündeten, sondern sieht es eher als Gegner an, zumeist jedoch als etwas, was man vernachlässigen kann.
Dabei sind gerade wir Menschen, wie niemand sonst in der Lage unser Verhalten komplett zu verändern, wenn wir überzeugt sind. Das Zusammenspiel individual- und massenpsychologischer Effekte ist dabei wenig bekannt, dass individuelle Veränderungen auch über den Einzelnen hinaus wirken und so wie ein System das Individuum beeinflussen kann, dieser auch das System ändern kann, wird selten wahrgenommen. Hier sind Multiplikatoren entscheidend, etwa dann, wenn Menschen mit einem integralen Bewusstsein an bedeutsamen Schaltstellen der Gesellschaft sitzen. Wiederum nicht, indem sie eine Ideologie transportieren, sondern Vorbild sind und andere begeistern, was am besten dadurch geht, dass man selbst für etwas brennt.
Im Zuge der Esoterikwelle, die in den 1980ern für mindestens 10, wenn nicht 15 Jahre das Land erfasste, hat man die Bereiche des Inneren stärker berücksichtigt und mit einbezogen. Doch damals war alles ein ziemlicher Gemischtwarenladen, der letzten Endes dazu führte, dass das, was mit Anspruch und guten Ideen begann, nach einiger Zeit versandete. Hier konnte man bereits sehen, dass eine zu unkritische Haltung zwar kreativ und offen ist und schöne Impulse bringt, dann aber irgendwann auch zerfasert und immer flacher oder abgedrehter wird.
Doch etwa zur selben Zeit hat die Tiefenpsychologie, zunächst von der Öffentlichkeit unbemerkt, bedeutende Fortschritte gemacht, auch wenn öffentlich noch die Verhaltenstherapie dominierte. Als die Esowelle den Scheitelpunkt schon überschritten hatte, wurde in Deutschland das Werk von Ken Wilber populärer, das 1997 in Deutschland erschienene „Eros, Kosmos, Logos“ gilt noch immer als sein Hauptwerk und bald darauf wurde der integrale Ansatz formuliert. Wilber vereinte Spiritualität, Psychologie und Philosophie, sowie das westliche, naturwissenschaftliche Denken in furioser Weise und brachte eine Struktur in die oft unorganisiert wirkenden deutschen Ansätze. Aber er kam letztlich ein paar Jahre zu spät und um die 2000er Jahren begann eine stark biologisch orientierter Naturalismus dominierend zu werden, der gemeinsam mit der damaligen Begeisterung für den Neoliberalismus Moral und Werte diskreditierte. Der Mensch galt fortan als ein rationaler Agent, der stets in allem seinen Vorteil sucht, so hatte es die Idee des Homo Oeconomicus und die Ideen des Biologismus beschlossen. Die Hirnforschung behauptete wir hätten keinen freien Willen und die Neuen Atheisten, wir alle seien Diener egoistischer Gene, die uns zu allenfalls berechnender Mitspielern machten, Wirtschaft und Wissenschaft passten zusammen. Dass es auch ein Innen gibt, hatte man für 15 Jahre wieder vergessen, der Sprung ins Integrale erinnert wieder daran.
Die Chance der Wiedervorlage
Inzwischen brodeln die Affekte, die Erfolgsmeldungen können nicht mehr darüber hinweg täuschen, dass die äußerlichen Verbesserungen nicht mehr beeindrucken. Das Innen ist zurück, wenngleich oftmals in einer regressiven und manchmal hässlichen Form. Aber man könnte lernen, dass man das Innen nicht verleugnen kann, es reicht nicht aufzuzählen, was im Außen alles super läuft, die Menschen sind nachhaltig verärgert und man kann verstehen, dass einige Politiker tatsächlich nicht kapieren, wie ihnen geschieht. Sie starren auf die Zahlen, alles wirkt so gut, doch viele Menschen sind einfach nicht mehr bereit irgendwem was zu glauben und fühlen sich tatsächlich schlecht. Man hat manchmal das Gefühl um Jahrzehnte zurückgeworfen zu sein. Gleichzeitig aber gab es immer welche, die die neuen Informationen verarbeiten und einordnen konnten und so ist die Zahl derer, die heute zum integral informiert sind, oder sogar integral leben, gar nicht so gering, wie man meinen könnte und dazu kommt noch, dass man keine Mehrheit sein muss, um Anstöße zu geben.
Die Themen, um die es in den nächsten Jahren gehen wird, kristallisieren sich gerade heraus: Klima und Umwelt, Migration, Wohlstand, Rente und einige mehr, wie oben schon beschrieben. Diese Themen verschwinden nicht von selbst wieder, was aber erheblich ins Wackeln gerät, ist der alte Lösungsstil des Abwartens und Aussitzens, des Wachstums und der Warnung, dass etwas Arbeitsplätze kosten könnte, die Menschen wollen es nicht mehr. Wir haben die Chance es noch mal mit Visionen zu versuchen, nun mit einer besseren Ordnung und Struktur versehen, die ein wohlmeinendes, aber leider oft naives: Alles ist gut und jeder hat recht in die Schranken weist.
Doch nicht nur die Pluralisten haben Fehler gemacht, auch bei den Integralen haben sich kritische Punkte gezeigt.
Gefahren des integralen Ansatzes
Ich sehe vier bedeutende kritische Punkte des integralen Ansatzes:
Immunisierung gegen Kritik
Am auffälligsten ist die Gefahr der Immunisierung gegen Kritik. Der integrale Ansatz hat zwar den Vorteil, dass er die innere Entwicklung des Individuums und statistischen gesehen der Bevölkerung ernst nimmt und einbezieht, doch das Farbenmodell selbst ist eher einfach und wer es versteht, sieht sich oft befugt, nicht mehr auf die Argumente des Gegenüber zu achten, sondern ihn sogleich von der Warte seiner vermeintlichen Entwicklung her zu bewerten.
Das problematische: ‚Alle haben recht‘ der Pluralisten wird hier in ein ‚Du hast nicht recht, weil das ein orangenes Argument ist und ich von gelb her argumentiere.‘ Anders ausgedrückt: ‚Du bist noch nicht so weit, ich weiß es besser als du, irgendwann wirst du das einsehen.‘ Das ist so nervtötend, wie falsch, Wilber selbst weiß es besser, wenn er sagt, dass niemand nur falsch liegt und jede Sicht in Übertreibungen enden kann.
Die Angst der Pluralisten vor Hierarchie wird hier korrigiert, aber übertrieben, wenn höher oder tiefer Argumente ersetzen soll. Denn die Einstufungen und demjenigen, der ad hoc einstuft unhinterfragt glauben zu schenken zu müssen, dazu besteht kein Grund und als Argument ist: ‚Du bist noch nicht so weit wie ich, sonst wärst du ja meiner Meinung‘ ein Fehlschluss, eine Petitio Principii, die die Prämisse in der Konklusion wiederholt.
Die Angst vor ‚bösen‘ Hierarchien zu überwinden, ist super, nur noch Hierarchien gelten zu lassen, ohne dass ihre Plausibilität geklärt ist, ist eine gefährliche und diskursschädigende Übertreibung.
Der integrale Supermensch
Menschen, die Projekten folgen, wie dem integralen Ansatz, der im Grunde ein Superoptimierungsprogramm ist, können der Tendenz erliegen, sich dann auch wie Superman oder Supergirl zu fühlen und entsprechende Allüren entwickeln, selbst wenn diese angestrengt kaschiert werden, da man ja auch in sozialer Kompetenz und ethischer Entwicklung vorbildlich ist. Solche Ansätze bergen ein erhebliches narzisstisches Potential und hier muss man wachsam sein, denn auch der superempathische Allversteher, der für alles und jeden eine Lösung weiß und für die ganze Welt natürlich auch, sowie sein weibliches Pendant, können mit erheblichen Größen- und Allmachtsphantasien durchsetzt sein, was allein schon für die Absicht gilt erleuchtet sein zu wollen. Eine Problematik, die die keinesfalls nur schlechten esoterischen Ansätze hat untergehen lassen.
Die bisherigen praktischen Rückschläge
Der integrale Ansatz hat sich entgegen dem, was man von seiner Effizienz hörte, bislang nicht durchgesetzt. Das muss man nüchtern anerkennen und dann heißt die Aufgabe, zu überlegen, woran das liegen könnte. Einem integralen Ansatz zu folgen macht einen nicht automatisch super gesund und erfolgreich, spirituell, kreativ, sexy und nett. Überdies dauerte es sehr lange, bis man über halbwegs valide Kriterien verfügte, die mehr als oberflächlich erkennbar werden lassen, was die eine Stufe nun tatsächlich von der anderen unterscheidet und das für alle Entwicklungslinien. Was unterscheidet genau ‚grüne‘ Kunst von ‚gelber‘ und woran kann man das sicher erkennen? Das haben die Integralen inzwischen auf dem Schirm und bezeichnen sich als lernende Bewegung.
Das Wohl der ganzen Spirale?
Ein inhaltlicher Punkt: Der integrale Ansatz verfolgt nicht die Absicht, dass alle Menschen integral werden sollen, sondern hat statt des Wohls der integralen Stufe, das Wohl der ganzen Spirale der Entwicklung im Blick, mit dem Ziel die Entwicklung des Bewusstseins zu fördern, wo immer es geht. Das klingt zunächst einmal nach einer guten Idee, ist aber letztlich auch nicht mehr als ein utilitaristischer Ansatz.
Utilitarismus ist aber nirgendwo überzeugend, seine Schwächen hat er immer im Einzelfall, wenn konkret gemacht werden soll, wo denn nun mehr Glück, Leid oder Entwicklung zu finden ist und schon Kant hat gegen ihn argumentiert. Zudem geht der Utilitarismus oft mit einer Aufweichung prinzipieller Standards einher, was eher eine Schwäche als eine Stärke sein könnte. Vielleicht ist ein einziehen roter Linien, die nach wie vor die Menschenwürde als unantastbar festlegt, sinnvoll, aber jeder Integrale muss es, in seiner Zeit und Kultur selbst und immer wieder neu beantworten, so mitfühlend und gut begründet es geht.
Vergesst das Bewusstsein nicht
Der vermutlich stärkste Aspekt der Integralen ist, dass sie um die Bedeutung des Innen wissen, auch darum, dass aus Brunnen bohren und Wahlurnen aufstellen nicht automatisch eine Demokratie wird. Auch ein demokratisches oder gelungenes postdemokratisches Modell muss wachsen, muss verstanden werden und eine Selbstverständlichkeit im Alltag werden.
Die Integralen wissen, dass sich Bewusstsein hierarchisch entwickelt, andere trauen sich aus ideologischen Gründen nicht, dies zu formulieren und landen in Selbstwidersprüchen. Man tritt für universelle Werte ein, vermeidet aber zu sagen, dass man meint, dass diese besser sind und vergisst dann ganz nebenher auch zu begründen, warum man meint, dass sie es sind. So entsteht der Eindruck, der auf wachsende Gegenwehr stößt, dass universelle Werte einfach eine Idee des Westens sind, die er – wie man immer öfter nachweisen kann – obendrein sehr bedarfsangepasst bis willkürlich interpretiert.
Wer keine besseren Werte einfordert braucht auch nicht zu begründen, warum sie besser sein sollen, aber warum sollte sich dann irgendwer dran halten, wenn doch alles andere auch gut ist und ohnehin jeder irgendwie recht hat? Nur wenn man Ansprüche offen formuliert und begründet und die Begründung mehr als ein Zirkelschluss ist, kann man einen fairen Diskurs führen und das können die Integralen im Zweifel viel besser, als die Pluralisten.
Und es war Ken Wilber, der neben diesem Punkt schon 1995 in „Eros, Kosmos, Logos“ auf den subtilen Reduktionismus hinwies, der alle noch so umfassenden systemtheoretischen und materialistischen Ansätze durchzieht, die das Bewusstsein und seine Entwicklungsfähigkeit vernachlässigen. Dass das Bewusstsein nicht vergessen werden darf haben zwar auch andere erkannt, aber man hat aufgrund des naturalistischen Weltbildes nach wie vor große Schwierigkeiten zu verstehen, dass das Bewusstsein ein relevanter und kausal wirksamer Faktor ist. Im naturalistischen Weltbild ist Bewusstsein irgendwie nicht greifbar, weil hier nur Materie wirken darf und so muss Bewusstsein in Hirnaktivität oder Neuronenfeuer übersetzt werden, bei dem man dann wieder nicht nachvollziehen kann, wie dieses über das Innere des Kopfes oder Körpers hinaus wirken kann. Integrale haben von der Innerlichkeit ein sehr viel klareres Bild.
Bewusstsein und Praxis sind nicht zwei
So wird die Beziehung zwischen Innen und Außen, zwischen Bewusstsein und Praxis noch immer kaum verstanden. Obwohl alle gegen einen Dualismus argumentieren, sind sie diesem doch verfallen, wie nicht zuletzt Siri Hustvedt völlig zurecht feststellte. Praxis und Bewusstsein scheinen merkwürdig getrennt zu sein und fast beziehungslos neben einander zu stehen, im Bewusstsein vieler Forscher.
Die Beziehung zwischen Innen und Außen, Individuum und Kollektiv können die Integralen zwar auch nicht erklären, aber sie leugnen die engen Zusammenhänge und Wechselwirkungen wenigstens nicht. Dass Innen und Außen einander beeinflussen ist eine Idee, die sich auch in neuen Lebensformen niederschlagen kann. Wenn das Integrale sich auch nicht flächendeckend durchgesetzt hat, so wächst die Bewegung doch langsam und integrale Splitter und ein integrales Bewusstsein sind immer mehr zu sehen.
So ist eine Reintegration von Ritualen und Mythen auch in dem Kontext des Integralen zu sehen, weil es speziell die mythische Ebene ist, die Menschen mit Werten, Zielen und Sinn und somit mit Orientierung versorgt. Die Angst die Psyche könne zerfasern, wenn man nicht einem Weltbild aus einem Guss folgt, erscheint mit praktische widerlegt, da wir bereits inmitten unseres naturalistischen Weltbildes in einer hochgradig zersplitterten Zeit leben, vermutlich gerade weil ein fortschrittsgläubiger Funktionalismus der technische Erklärungen oft mit Bedeutung verwechselt und selbst nicht erklären kann, warum irgendetwas Bedeutung haben sollte, sehr trocken und bürokratisch wirkt.
Integrale sind im besten Fall Wegbereiter und notwendiges Korrektiv in einer Zeit, die oft nicht ein und aus weiß, in der ein hysterischer bis aggressiver Grundton herrscht und das ist etwas, was auf die Dauer immer mehr Menschen auf die Nerven geht. Vernetzte Projekte, wie etwa die Cittaslow Bewegung, deren Mitglieder im Rahmen kleiner Städte und Dörfer ein lebenswertes und entschleunigtes Leben führen wollen, haben das Zusammenspiel von Innen und Außen durchaus auch begriffen. Nachhaltigkeit, regionale Produkte, dennoch ein effektives Leben, was die Zukunft annimmt ohne alte Bräuche und regionale Traditionen zu vergessen, die auf Kultur setzen und die Natur dennoch nicht vergessen, haben Wesentliches verstanden und hier weht, auch wenn man sich dort nicht darauf beruht, sicher auch ein integraler Wind.
Integrale haben begriffen, dass sie keine Mehrheit sein müssen, sondern sie können sich als kulturell Kreative effektiv in Diskurse einmischen. Dabei geht es nicht um Gleichschaltung oder Werbung, sondern um die Verbreitung einer Bewusstseinsstufe, dadurch, dass man sie praktiziert, die eine Richtung kennt, Förderung von Bewusstsein zum Ziel hat. Das alles bei persönlich zu findenden und zu interpretierenden Wegen, die sich in regionale Gefüge einpassen können, die das aufnehmen was ist, mal Ideen geben, mal Fehlentwicklungen kritisieren und mal eigene Projekte gründen. Über den Pluralismus hinaus, der es gut meinte, ohne es gut zu machen, weil er die Stimmen derer die gegen blinden Pluralismus Vorbehalte hat, nicht ernst nimmt und konservative Positionen oft ablehnt. In der Wiedervorlage kann der große Sprung ins Integrale durchaus gelingen und das sollte er sogar.