Co-Abhängigkeit ist ein schwieriges Thema. Wer ist schon gerne abhängig? Vor allem, wenn man abhängig von einem anderen ist? Und überhaupt: Wenn man von einem Abhängigen – oder von einem Menschen ganz allgemein – abhängig ist, gilt man dann nicht selbst als abhängig? Schließlich kann man von vielem abhängig sein: Alkohol, Süßigkeiten, Arbeit – und eben auch Menschen … Wir wollen Sucht nicht bagatellisieren. Wir wollen aber auch nicht die Hemmschwelle unnötig hochsetzen, etwa weil wir mit allzu schweren Geschützen auffahren würden. In diesem Artikel versuchen wir, aus psychologischer Sicht vereinfacht aufzumachen, wie man Co-Abhängigkeit überwinden kann. Wie schafft man loslassen?
Co-Abhängigkeit: Klingt schlimmer, als es ist …?
Die amerikanische Schriftstellerin Melody Beattie, die selbst im Suchtbereich tätig ist, prägte in entscheidendem Maße den Begriff der Co-Abhängigkeit mit ihrem Bestseller Die Sucht gebraucht zu werden. Eine co-abhängige Person definiert sie als jemanden, der:
- sich stark von dem Verhalten eines anderen Menschen beeinflussen lässt
- stark das Verhalten von anderen Menschen kontrollieren möchte
In meiner Gruppe sah ich Menschen, die sich für die ganze Welt verantwortlich fühlten, die sich aber weigerten, Verantwortung dafür zu übernehmen, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen und zu leben.
(Melody Beattie)
Warum bin ich co-abhängig?
Die ersten Bindungserfahrungen im Leben prägen uns. Oft ist bei Co-Abhängigen bereits die Eltern-Kind-Dyade von einem Ungleichgewicht geprägt. Kinder mussten schon früh in unterschiedlicher Weise für die Eltern Sorge tragen, etwa weil diese nicht fähig waren, in verschiedener Hinsicht elterliche Verantwortung zu übernehmen. Das Kontinuum der elterlichen Verhaltensmuster reicht dabei weit: von eigenem Substanzmissbrauch bis hin zu erlernter Hilflosigkeit in Bezug auf die allgemeinen Dinge des Lebens. Kurzum: Kinder mussten in verschiedenen Punkten, die verantwortungstragende Elternrolle übernehmen.
Auch im Umfeld von Narzissmus findet sich Co-Abhängigkeit. Verhaltensweisen, die von einem an den Tag gelegt werden, damit man der Tageslaune des Narzissten etc. nicht ausgeliefert ist.
Kinder lernen schon früh, dass unterstützende und kontrollierende Verhaltensmuster die Wahrscheinlichkeit für eine Eskalation verringern. Auch in späteren Partnerschaften mit Süchtigen, mit Narzissten etc. wird dieses Verhaltensmuster fortgesetzt. Die Fürsorge für sich selbst wurde nie gelernt, da man sich – salopp gesagt – schon seit der Kindheit anderen, drängenderen Problemen zuwenden musste. Leider.
Die Co-Abhängigen fühlten sich für so vieles verantwortlich, weil die Menschen um sie sich für so wenig verantwortlich fühlten …
(Melody Beattie)
Co-Abhängigkeit: Wenn Hilfsbereitschaft zur Kontrolle wird
Hilfsbereitschaft ist normalerweise etwas Natürliches und Schönes. Aber bei einer Co-Abhängigkeit kann dahinter eben auch die Kontrolle stehen. Und zwar weil man sich nicht anders zu helfen weiß. Co-Abhängige haben in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass irgendeiner die Verantwortung übernehmen musste: sie selbst. Sie helfen, fokussieren sich auf andere, übernehmen Verantwortung für andere – zu Lasten der eigenen Persönlichkeits– und Reifeentwicklung. Mit der Folge, dass sich eine co-abhängige Person über das Außen definiert. Wie hilfsbereit ist sie? Ist sie ausreichend aufopferungsvoll? Wie sehr hat sie alles im Griff …? Das damit zusammenhängende Kontrollmotiv ist weitreichend.
Kontrolle ausüben aufgrund der Angst vor Kontrollverlust
Die Angst vor Kontrollverlust beinhaltet die nahezu katastrophenartige Angst, dass …
- alltägliche Situationen eskalieren könnten
- das gesamte Leben plötzlich in Scherben liegt
- Diplomatie, gar Manipulation erfolgen muss, damit alles in gerichteten Bahnen läuft
- notfalls gelogen werden muss, um beispielsweise den anderen zu decken
- Macht ausgeübt werden muss, damit das brüchige Leben um den Süchtigen, Bedürftigen etc. herum nicht vollends entgleitet
Ich arbeitete mit Frauen, die Expertinnen waren, sich um alles zu kümmern, jedoch ihre Fähigkeit anzweifelten, sich um sich selbst zu kümmern. … Die meisten Co-Abhängigen waren auf andere Menschen fixiert. Sie konnten mit großer Genauigkeit und in allen Einzelheiten lange Listen mit Taten und Missetaten der Süchtigen aufsagen; was er oder sie dachte, fühlte …
(Melody Beattie)
Die Konsequenzen beim Co-Abhängigen
Diese Angst vor Kontrollverlust kann in kontrollierenden Verhaltensweisen, in einem Kreislauf aus Wut, Scham und Schuldgefühlen sowie in einer Selbsttäuschung, die man für sich vornimmt, münden.
- Gram und Groll werden empfunden
- das Verstecken und die Lügen passieren auch nach innen, um vor sich selbst das Verhalten zu rechtfertigen
- Verwischung der eigenen Wahrnehmung; moralische Werte verschwimmen
- ständig damit beschäftigt, die Tageslaune des anderen abzufedern, auszugleichen
- eigene Probleme geraten vollständig in den Hintergrund
- man rotiert nur noch um den/die anderen
- man ist durch Schmerz betäubt, Erleichterung verschafft einem nur Wut beziehungsweise Flucht in die Fantasie
- ggf. flüchtet man selbst in Alkohol etc.
Co-Abhängigkeit überwinden: zu sich selbst finden
Hat man einmal die Erkenntnis, man könnte co-abhängig sein, für sich aufgemacht, offenbart sich einem eine große Chance fürs Leben. Hat man einmal verstanden, dass man nie die Möglichkeit hatte, sich psychisch gesund zu entwickeln, einfach weil einem von Kindesbeinen an ein abhängiges Beziehungsmuster suggeriert wurde, festigt sich nun der Wunsch, den Opfermantel abzulegen und für sich selbst Sorge zu tragen.
Indem man sich bewusst mit den vergangenen Gedanken- und Verhaltensmechanismen auseinandersetzt, hat man die Option, zu sich selbst zu finden.
Das Beispiel einer Frau
Ich kenne eine Frau, welche in zwei Teilzeitjobs arbeitet, um das Geld für die Versorgung ihrer Familie zu verdienen. An einigen Tagen in der Woche arbeitet sie im Einzelhandel und packt die meiste Zeit Waren in verschiedenen Drogeriefilialen aus. Wenn Not am Mann ist, sitzt sie vorn an der Kasse und hilft aus. Der zweite Job, welchem sie nachgeht, ist der einer Putzkraft. Abends, wenn die Hausarztpraxen geschlossen sind, findet sie sich mit dem Schlüsselbund und zwei Körben voller Putzmittel in den Räumlichkeiten der Arztpraxen ein und reinigt diese gewissenhaft. Unmittelbar, nachdem sie vor einigen Jahren eingestellt wurde, vertrauten ihr die Praxisleitungen viele Tätigkeiten, die hohe hygienische Standards erfordern, eigenverantwortlich an. Und man ist bis zum heutigen Tag nach wie vor sehr zufrieden mit ihrer Arbeit.
Diese Frau ist Mutter zweier Kinder. Eine Tochter ist zwölf Jahre alt. Der Sohn ist sieben Jahre alt. Beide Kinder hat sie bis vor Kurzem noch jeden Morgen in die Schule gebracht und nachmittags aus dem Hort abgeholt. Und auch heutzutage noch versucht sie, die Kinder zu begleiten, um mehr Zeit mit ihnen zu haben. Ehe sie an den Abenden fußläufig zu den Arztpraxen im Ärztehaus geht, isst sie mit den Kindern Abendessen und ist zuvor bemüht, die Hausaufgaben zu kontrollieren. An den Samstagvormittagen geht sie gemeinsam mit ihren Kindern einkaufen. An den Sonntagvormittagen putzt sie die gesamte Wohnung. Sobald sie Zeit findet, kümmert sie sich zudem noch um ihre Eltern, welche sie bei den Einkäufen unterstützt oder einfach gern ein bisschen Zeit mit ihnen verbringt.
Erkenntnis wäre der erste Schritt zur Änderung
Diese Frau hat einen Partner. Der Mann ist arbeitslos und hat hin und wieder nur einige Gelegenheitsjobs auf dem Bau. An den Tagen, an denen ihr Mann überhaupt aus dem Haus geht, kehrt er am frühen Abend von den Arbeiten auf dem Bau mit einer Bierfahne zurück nach Hause. An den Wochenenden trifft er sich häufig mit seinen Kollegen in der Kneipe, um mal auszuspannen, wie er sagt. Ansonsten ist dieser Mann die meiste Zeit daheim, unterstützt die Frau nicht bei der Hausarbeit und kümmert sich auch nicht um die gemeinsamen Kinder. Fragt die Frau ihn nach Hilfe, erhält sie zumeist schnodderige Antworten.
Diese Frau hat mich nun gefragt, ob sie sich trennen solle. Allerdings befürchtet sie, das Leben nicht alleine bewerkstelligen zu können. »Zu zweit ist es doch einfacher im Leben«, sagt sie. Wenn wir die Eckpunkte des Lebens dieser Frau kennenlernen, denken wir: Natürlich schafft sie es allein. Sie stemmt es doch jetzt schon locker alles allein. Doch der entscheidende Knackpunkt zum Aufbrechen dieser Konstellation muss von ihr selbst kommen.
Wie verhält es sich in unserem Leben? Welche finanziellen Unterstützungen bekämen wir eventuell? Und welche Freiheiten würden wir dazu gewinnen, wenn wir uns von unnützen Beschwerlichkeiten befreien würden?
Die Freiheit der Liebe zu sich selbst
Du hast die Wahl, jederzeit!
Was könntest du tun anstatt der Verhaltensweisen, die du tust:
- statt abhängig in der Co-Abhängigkeit zu bleiben, sich für die Freiheit der Eigenliebe entscheiden (sowie der aufrichtigen Liebe zu den Kindern etc.)
- statt die eigene Selbstbestimmtheit und die der anderen zu untergraben, seine eigene Selbstbestimmtheit akzeptieren, genauso wie die Selbstbestimmtheit der anderen zu respektieren
- sich nicht die Lasten des Partners aufbürden, sondern akzeptieren, dass jeder für sich selbst Verantwortung hat
- statt in Habacht-Position ständig die Gefühle des Partners zu erahnen, in sich hineinhorchen und für die eigenen Bedürfnisse Sorge tragen
- statt die eigenen Belange ständig außen vor zu lassen, sich selbst wahrnehmen
- Bis zu welchem Punkt fühle ich mich gut; ab wann stehen die Gefühle des Partners für mich im Vordergrund?
- Wann verlasse ich meinen eigenen Bereich der Selbstfürsorge, weil ich Angst davor habe, der andere könnte mich verlassen, verletzen etc.?
- Was tue ich, um zu gefallen?
Co-Abhängigkeit überwinden: Entscheide dich für dich!
- anstatt sich hinter den Problemen des anderen zu verstecken, die eigenen Unzulänglichkeiten aktiv angehen
- statt sein Selbst unter den Teppich zu kehren und in Minderwert zu verharren, das eigene Selbst in den Mittelpunkt rücken (ebenso wie das Wohlergehen der Kinder)
- nicht die eigenen Emotionen in Schmerz und Apathie zu betäuben, sondern den Emotionen Gehör schenken
- statt sich vom anderen verletzen zu lassen, den eigenen Weg gehen
- anstatt sich zurückzunehmen, auf sein Recht auf ein eigenes gutes Leben bestehen
- statt den eigenen Selbstwert aus der Selbstaufopferung für andere zu beziehen, das eigene Selbstwertgefühl aus dem Innen heraus stärken
- nicht im ewigen Chaos-Jetzt zu verharren, sondern den Blick auf ein eigenes aktives Leben richten mit eigenen Zielen
Entscheide dich zudem für deine Kinder!
- anstatt um die Bedürfnisse des Partners zu rotieren, sich den Belangen der Kinder widmen, denn sie brauchen ein verantwortungsvolles, stärkendes, zugewandtes Elternteil, damit der Kreislauf der Co-Abhängigkeit unterbrochen werden kann
- statt Energie darauf zu verwenden, den anderen selbstwertschützend zu manipulieren, Energien auf sich und seine Kinder konzentrieren
- Kinder in der Umsetzung ihrer Selbstfürsorge begleiten
- sich und seine Kinder aus schadhaften Beziehungskonstellationen distanzieren (bei potentieller Gefahr Hilfen der Polizei u.ä. zu Rate ziehen, ggf. heimliche Flucht)
Grundsätzlich: Übe dich in einem respektvollen, grenzenwahrenden und grenzensetzenden Umgang.
Du bemerkst Co-Abhängigkeit, wenn du gedanklich mehr bei dem anderen als bei dir selbst bist. Hole dir deine Eigenverantwortung zurück. Und belasse die Eigenveranwortung des Partners bei ihm. Nur so lässt sich Co-Abhängigkeit überwinden.