Der Minderwert ist ein übler Geselle. Er sitzt uns auf der Schulter, grinst hämisch und ist nur allzu schnell bereit, uns irgendwelche Komplexe ins Ohr zu flüstern. Wenn wir scheitern, flüstert er uns zu: »Siehst du, habe ich es doch gewusst, du kannst es nicht. Du bist einfach nicht gut genug.« Wenn wir bei etwas erfolgreich sind, schnauft er spöttisch: »Du hast einfach nur Glück gehabt.« Minderwertigkeitskomplexe sind Überzeugungen, die in der Kindheit angelegt worden sind. Besitzt man einen geringen Selbstwert, wird man oft ein Leben lang von diesen schadhaften Selbsteinschätzungen begleitet. Bei jeder Herausforderung, bei jedem Gespräch, bei jedem Blick in den Spiegel ploppt das geringe Selbstbewusstsein auf und beherrscht unsere Gedanken. Wir fühlen uns ihm ausgeliefert, huschen mit gesenktem Kopf durch die Stadt und wollen uns am liebsten vor der Welt verstecken. Mit diesen Minderwertigkeitskomplexen führen wir fort, was uns in der Kindheit eingeimpft wurde. Wir behandeln uns selbst so, wie wir früher behandelt worden sind. Das sollte nicht sein. Doch wie entkommt man ihm, dem Minderwert?

Minderwertigkeitskomplexe. Und nun?

In diesem Artikel wurden einige Ansätze zusammengetragen, welche dabei helfen können, den Minderwertigkeitskomplexen mit Umdenken zu begegnen. Diese Komplexe greifen tief und es ist wichtig, sie zu ergründen und zu verstehen, damit man sie loslassen kann. Versuchen wir es.

Ich schaffe das einfach nicht …

Mädchen umklammert angstvoll Tasche

Wer unter einem geringen Selbstwert leidet, fühlt sich ängstlich und unwohl. © Carlos Ebert under cc

»Ich bekomme mein Leben nicht auf die Reihe.«
»Ich habe es schwerer als andere, weil ich nicht so gut/stark/offen/selbstbewusst/schön/erfolgreich bin.«

Wir kennen diese Sätze. Sie sind uns zu treuen Begleitern geworden. Wir bemerken sie kaum noch bewusst. An Ängste und Selbstzweifel sind wir so sehr gewöhnt, dass wir sie nicht einmal mehr als schlechte Stimmungen erkennen. Sie sind für uns normal und zu uns zugehörig geworden. Wir halten sie für alltägliche, normale Gefühle. Aber das sind sie nicht. Sie gehören nicht zu uns. Wir können lernen, sie abzukoppeln und als fremd zu betrachten.

Wir nehmen uns zurück

Viele von uns kümmern sich um die Familie. Wir haben für die Kinder ein offenes Ohr, helfen ihnen bei Problemen in der Schule und sind mit Schutz und Trost für sie da. Auf der Arbeit sind wir es gewohnt, uns auf andere Menschen einzustellen. Wir unterstützen sie, soweit es in unserem Aufgabenbereich liegt. Mit Ehepartnern und Freunden führen wir stundenlange Gespräche, hören uns ihre Sorgen an und beratschlagen gemeinsam auf der Suche nach einer Lösung. Wir schaffen es hervorragend, uns um andere zu kümmern. Und doch bezweifeln wir, uns um uns selbst kümmern zu können.

Warum für Probleme schämen?

In unserer Gesellschaft wird uns Perfektion getriggert. Wenn wir müde nach einem Arbeitstag zu Hause auf das Sofa fallen und den Fernseher anschalten oder einen Streamingdienst bemühen; wenn wir im Internet surfen, weil wir Lektüre für das Wochenende benötigen, oder wenn wir auf Instagram unterwegs sind, um zu schauen, was Heidi Klum & Co. am heutigen Tag so gemacht haben, überall begegnet uns Perfektion. Vermeintliche Perfektion. Uns wird eine heile Welt suggeriert, die es so nicht gibt. Es ist auch nicht so, dass man die Probleme nur lösen muss und dann wird alles gut, dann wartet ein Happy End auf uns. Nein, so ist das nicht. Das Leben ist ein beständiger Prozess von Herausforderungen. Wir werden es nicht schaffen, diese wie die Level eines Videospiels abzuarbeiten und dann – nach dem Endgegner – wartet das perfekte, ruhige Leben auf uns.

Hinter Minderwertigkeitskomplexen lauert Perfektionismus

Mann versteckt sich hinter Augenschere

Wenig Selbstbewusstsein: Wenn man sich am liebsten verstecken möchte. © Björn Rohles under cc

Probleme gehören zum Leben dazu. Probleme sind keine Maßeinheit dafür, wie gut oder wie schlecht ein Mensch ist oder wie erfolgreich oder nicht erfolgreich er sein Leben bewerkstelligen kann. Jeder Mensch hat Probleme, ein Leben lang. Anstatt sich und seine Probleme also selbst zu verleugnen, können wir zwar Mut zur Verletzlichkeit aufbringen, aber nicht in psychischer Selbstverletzung übergehen. Wir können erkennen, dass wir uns selbst degradieren, wenn wir uns mit unseren Problemen und Zweifeln als schlechte Menschen fühlen. Gerade Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen sind die, welche am meisten nach Perfektion streben, welche die höchsten Ansprüche haben.

Kein Übel ist so schlimm wie die Angst davor.

(Seneca, Philosoph)

Selbstwert: Wir sind nicht die Probleme

Mindwertigkeitskomplexe sind keine Wahrheiten über uns selbst. Sie sind keine Überzeugungen, die wir im Laufe des Lebens erlangten. Es mag sein, dass wir bei Misserfolgen, wie anfangs erklärt, dem Minderwert, der auf der Schulter sitzt, aufmerksam zugehört haben und zu der Überzeugung gelangt sind, dass wir einfach nicht gut genug sind. Dadurch nähren wir den Minderwert und er kann noch stärker werden und noch selbstgefälliger grinsen. Aber wir sind nicht unsere Probleme. Selbst wenn Probleme sich auf ein Verhalten von uns beziehen, haben sie nichts mit uns als Person zu tun. Unsere Probleme haben nichts mit unserer Wertigkeit als Menschen zu tun. Es sind lediglich Probleme, die das Leben zu seinen Bedingungen nun einmal für uns bereithält. Es sind Herausforderungen des Lebens, an denen wir mal wachsen oder mal scheitern können. Denn wie jeder andere auch schaffen wir Probleme manchmal besser, manchmal schlechter zu lösen. Unser Selbstwert kann davon abgekoppelt werden. Wir brauchen nichts weniger als diese Minderwertigkeitskomplexe!

Für den Anfang: So tun als ob

Fällt es anfangs noch schwer, die Minderwertigkeitskomplexe abzulegen, sollte man zu einer bewährten psychologischen Strategie greifen. Wir tun so, als ob wir selbstbewusst sind. Positive Gedanken werden formuliert. Negative schadhafte, die uns schlecht machen und nicht konstruktiv zu einer Lösung beitragen, werden aus dem Kopf verbannt.

Acting as if is a positive way to overcome fears, doubts, and low self-esteem. We do not have to lie; we do not have to be dishonest with ourselves. We open up to the positive possibilities of the future, instead of limiting the future by today’s feelings and circumstances.

(Melody Beattie)

Erlauben wir uns diesen psychologisch-handwerklichen Kniff, um der Selbstliebe einen Schritt näher zu kommen.

Selbstwert: Unsere innere Stimme der Angst

Minderwertigkeitskomplexe sind, wie bereits erwähnt, im Grunde nichts anderes als Stimmen aus der Kindheit, die zu unseren inneren Stimmen geworden sind. Diesen Minderwert können wir hinter uns lassen. Wir brauchen ihn nicht mehr. Akzeptieren wir die Minderwertigkeitskomplexe als etwas, was uns aus der Kindheit mitgegeben wurde. Nicht wir haben diese Gedanken zu verantworten, sondern sie wurden uns ungefragt indoktriniert. Wir können sie als den Besitz anderer betrachten, nicht als unseren Besitz.

Warum sich verstecken?

grüne Schüssel Big Bowl of Self Esteem

Eine große Portion Selbstwert. Das können Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen gebrauchen. © Jamie under cc

Wenn wir Minderwertigkeitskomplexe haben, neigen wir dazu, uns zu verstecken. Dadurch schützen wir uns vor Konfrontation und vor weiteren Verletzungen unserer Seele. Werden uns negative Meinungen zuteil, Beleidigungen oder verletzende Kritik, so müssen wir uns darüber klar werden, dass diese herablassenden Ansichten mehr über die andere Person und ihre persönlichen Probleme verraten als über uns. Diese Verletzungen sind folglich das Problem der anderen Person und nicht unseres. Es ist ihr Besitz an geistigem Eigentum, ihre negativen Überzeugungen über die Welt, ihr Glaube, sich über andere erheben zu können, ihr labiler Selbstwert, den sie mit der Arroganz gegenüber anderen zu schützen versucht. Manipuliert uns jemand, versucht uns jemand zu kontrollieren oder möchte er dafür sorgen, dass wir uns schlecht fühlen, so ist das sein Problem. Nicht unseres.

Keep it simple

Viele von uns sind mit der Annahme aufgewachsen, das Leben sei furchtbar schwer. Wir glaubten, wenn wir diese oder jene Chance verpassen würden, wenn wir uns als nicht dankbar oder demütig genug zeigen würden, wenn wir nicht achtsam genug wären oder ähnliches – würde uns alles über den Kopf wachsen. Wir glaubten, sobald wir nicht genug auf unser Umfeld achten würden, könnte uns ein eklatanter Fehler passieren und wir wären sozial oder finanziell oder karrieretechnisch erledigt. Weil wir irgendetwas auf unserem Lebensweg übersehen hätten.

Es mag etwas überspitzt klingen, diese Gedanken in der Art zu schreiben, aber nicht wenige von uns neigen zu diesen katastrophisierenden Gedanken. Wir fühlen uns schneller schuldig als andere und schneller in der Verantwortung. Unser schlechtes Gewissen springt schneller an im Vergleich zu vielen anderen Menschen. Sobald sich einer von unseren Freunden nicht meldet oder ein Kollege sich zurückhaltend verhält, denken wir augenblicklich, das Verhalten des anderen Menschen hat mit uns zu tun. Wir haben es ausgelöst durch irgendeine unüberlegte Aussage, einen schiefen Blick oder weil wir nicht ans Telefon gegangen sind, als der andere uns anrief.

Wie groß ist unser Einfluss auf andere wirklich?

In der Kindheit wurde Menschen wie uns oftmals suggeriert, dass wir einen starken Einfluss auf die Stimmungen und Verhaltensweisen anderer Menschen haben würden. Womöglich hat unsere Mutter uns vorgehalten, dass der Vater nun sehr böse sei, weil wir nicht unser Zimmer aufgeräumt haben. Oder ähnliches. In der kindlichen Unbedarftheit glaubt man nun, dass man tatsächlich mit seiner Unachtsamkeit das verärgerte Stimmungsbild des anderen verursacht hätte und den Groll des Vaters zu verantworten hätte. Man weiß nichts davon, dass der Vater vielleicht sehr viel Druck auf der Arbeitsstelle hat und diese Spannungen mit nach Hause bringt.
Natürlich kann es sein, dass Eltern genervt sind, wenn die Kinder mal wieder das Zimmer nicht aufräumen und wiederholt daran erinnert werden müssen. Jedoch in eine tiefe Verärgerung sich zu versteigen und emotional vielleicht sogar zu eskalieren, hat immer auch mit der mangelnden Abgrenzung der Eltern zu tun und damit, dass sie schlussendlich ihre eigene Unzufriedenheit an den Kindern auslassen. Letztendlich wurde uns mehr »Macht« über andere suggeriert, als wir eigentlich haben.

Fühle dich freier

Diese tiefe Schuldigkeit und Verantwortung tragen wir bis heute in uns. Und diese ist es, die uns allzu häufig den Minderwert beschert. Wir sind unsicher bezüglich unserer Verhaltensweisen aus Angst vor Bestrafung. Die Wahrheit ist: Niemand interessiert sich wirklich für das, was du tust. Weil alle ihre eigenen Leben zu bestreiten haben. Und Menschen würden sich so oder so in der Art gemäß ihrer Stimmung verhalten, wie sie sich verhalten, du hast gar nicht einen so großen Einfluss darauf. Keep it simple, lautet deshalb das Ziel. Verstricke dich nicht in Annahmen oder Mutmaßungen über die Gründe des Verhaltens anderer Leute. Bleibe bei dir und verhalte dich freundlich. Mehr musst du nicht versuchen zu ergründen. Das genügt.

Es lohnt sich nicht, sich in die Absichten eines anderen gedanklich zu verstricken. Wir kümmern uns um unseren geistigen und emotionalen Besitz. Wenn wir gedanklich bei uns bleiben und den Besitz der anderen bei ihnen lassen, werden wir unsere Minderwertigkeitskomplexe loslassen können. Dadurch können wir uns den Herausforderungen des Lebens leichter stellen. Wie genau? Damit befasst sich der nächste Artikel.