Moral und Moralismus

Der Bauernhof als Sinnbild für eine Zeit, die irgendwie noch in Ordnung war oder schien. © magnetismus under cc

Moral hat bei vielen keinen guten Ruf, wird sie doch verstanden als etwas was man vorschiebt, um andere dort hin zu bekommen wo man sie haben will oder grundlos zu drangsalieren. Eine Haltung der Doppelmoral wird oft kritisiert, dass man selbst nicht tut, was man anderen vorschreibt und als unangenehm wird auch empfunden, wenn man sein vorbildliches moralisches Verhalten demonstrativ zur Schau stellt und immer auf der ‚richtigen‘ Seite des Lebens steht, auch wenn es kurz zuvor noch die andere war.

Doch das ist keine Moral, sondern ein Moralismus mit dem man sich heraus putzt. Der Wert von Ethik und Moral liegt im Grunde darin, dass man bereit ist, sich hier und da in den Dienst einer Sache, Idee oder von Prinzipien zu stellen, die man im Idealfall teilt und befürwortet, denen man sich aber wenigstens, zum Wohle der Gemeinschaft oder eines anderen unterordnet. Dass die Grenzen der eigenen Freiheit dort aufhören, wo die Freiheit der anderen beginnt, ist einer dieser Punkte, an den man sich gut halten kann, den man aber auch einsehen kann. Da es auch hier um Symmetrie geht, gilt dies in beide Richtungen.

Moralisten zerstören diese Symmetrie, in dem sie häufig einseitig von anderen etwas fordern, was sie selbst nicht leisten, oft aber auch etwas, was für sie kein Opfer darstellt, während es für den anderen durchaus ein größeres Opfer wäre. Moralist zu sein hat im Grunde zwei bis drei Bedeutungen. Es kann jemanden meinen, der Moral lehrt und fördern will, ein solcher Moralismus ist nicht abzulehnen, manchmal auch jemanden, der sich in besonderer Weise an moralische Regeln hält – hier käme es auch die Regeln an – häufig meint es aber Menschen, die moralisieren und sich selbst in Szene setzen. Diese sind gemeint, wenn ich den Moralismus kritisiere.

Moralismus

Es spricht viel dafür sich biologisch-dynamisch zu ernähren, wie wir am jüngsten Skandal um Haltungs- und Arbeitsbedingungen in der industriellen Tierzucht wieder gesehen haben. Das Thema ist zum einen durchdrungen von einer gewissen Doppelmoral, weil die Zustände die dort herrschen seit Jahren bekannt sind und kritisiert werden, genauso selbstverständlich schauen aber die meisten weg. Argumente findet man immer. Arbeitsplätze, der Preis und dass das ja wohl sooo schlimm nicht sein könne, schließlich leben wir nicht in einer Bananenrepublik und haben Standards.

Es ist ebenfalls richtig, dass bessere Qualität für alle sinnvoller und gesünder wäre und daher ruhig mehr kosten sollte. Das ist leicht gesagt, wenn man ausreichend Geld zur Verfügung hat, um sich und die Familie biologisch-dynamisch zu ernähren. Neben der finanziellen Hürde gibt es auch eine soziale und eine moralische. Die soziale Hürde ist, dass es eine feine Zuordnung zwischen typischen Verhaltensweisen von Mittel- und Unterschicht gibt und ein Interesse an der eigenen Gesundheit ist und dem eigenen Wohlergehen ist ein wenig zur Ersatzreligion von Teilen der Mittelschicht geworden.

Bio kaufen längst nicht mehr irgendwelche verschrobenen Ökos, sondern vor allem jene, die es sich leisten können und mit dieser sozialen Demonstration andere subtil auf Abstand halten. Man kann sich einerseits darüber freuen, dass bio immer beliebter wird, da dies die Nachfrage steigert und den Druck und die Möglichkeit immer mehr bio zu produzieren erhöht. Falls man sich denn so ernähren will und falls Gesundheit überhaupt ein zentrales Lebensthema ist. Denn auch das muss man sich leisten können. Hat man das Glück es zu können, ist ein Impuls, den man haben kann, sich zu wünschen, dass alle diese Möglichkeit haben sollten.

Wo bio aber neben den reichlich vernünftigen Argumenten, die es gibt, gleichzeitig noch eine Grenze zwischen den Schichten darstellt, hat man im Grunde kein Interesse die soziale Abgrenzung aufzugeben. Man hängt nicht an die große Glocke, dass man natürlich bio kauft, wegen der Qualität und so, zugleich blickt man naserümpfend auf jene, die es nicht tun. Da muss man sich dann eben entscheiden, wofür man sein Geld ausgibt und schnell ist es wieder da, das Bild von der dicken Proll-Familie, die nur fernsieht, raucht, billigen Alkohol trinkt und Müll isst. Ist man ein klüger und beherrschter, so konsumiert man eben etwas weniger, dafür aber qualitativ hochwertig. Tenor ist, dass jeder für sein Schicksal selbst verantwortlich ist, doch das empfinden jene als Hohn, die durchaus gerne anders würden, aber es finanziell nicht können.

Man weiß insgeheim, es könnte einen selbst auch leichter treffen, als man ahnt, nicht nur Covid-19 hat da noch mal vieles durch gekegelt. Die Reaktion ist aber oft kein Mitgefühl, sondern man reduziert die eigene Angst, in dem man sich naserümpfend distanziert, oft so, dass es nicht böse wirkt und klingt, sondern sozial gut etabliert ist und man sich um die anderen nicht groß kümmern muss. Manchmal auch, weil man sich überhaupt nicht für andere interessiert. Die sollen sich selbst um ihre Gesundheit und ihr Leben kümmern. Damit ist man mit den anderen fertig, die müssen sich eben entscheiden, hat man ja für sich auch gemacht und darum geht es einem ja auch gut. Das ist eine Form des Moralismus.

Die Selbstgefälligkeit des Moralismus

Ich bin gut, weil ich es mir leisten kann. Das verdoppelt die Distanz zum anderen noch einmal. Der ist nun nicht nur arm, sondern hat sich auch noch selbst für ein falsches Leben entschieden. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen, wird dieser andere dann auch noch mitverantwortlich dafür gemacht, dass die Welt so in Unordnung ist und – für manche inzwischen das Schlimmste – die eigene Komfortzone angekratzt ist.

Warum essen die denn so viel Billigfleisch, warum kaufen die beim Discounter, wissen die denn nicht wie schlecht das für die Welt ist? Allerdings ist nicht nur Fehlernährung und Verfettung heute wieder ein Problem, sondern auch echter Hunger. Bei Kindern, alten Menschen, doch es ist für keine Altersstufe schön und angemessen, diskriminiert und entwürdigt zu werden. Sich nicht satt essen zu können, ist bei uns ein sozialer Makel.

Doch es wäre falsch sich nun auch von diesen Menschen einfach zu distanzieren, besser ist es zu verstehen, warum sie so sind und nicht in die gleiche Falle zu tappen. Die Selbstgefälligkeit ist zwar unsympathisch, aber oft aus der Not geboren. Die Distanzierung kann man aufweichen, indem man sich befragt, warum man sich selbst eigentlich für bio und Gesundheit interessiert.

Man will sich selbst nicht vergiften, man will ein Refugium, in dem man ein Stück heile Welt leben kann, ungestört vom Leid der anderen und auch dem, was man als deren Fehlverhalten ansieht. Die sollen anders Leben, damit mein Essen nicht vergiftet wird, damit ich nicht unter dem Klimawandel leide und nicht immer diese Berichte von einer kaputten Welt lesen muss. Ich mache ja schon alles richtig, die anderen sind das Problem.

Aber man hilft anderen nicht, durch ausgedehnte Vorträge mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern dadurch, dass man sie in die Lage versetzt, überhaupt so leben zu können, wie man selbst es tut, also in dem man Wohlstand und Bildung fördert und eben auch das Interesse am anderen.

Was interessiert mich denn, wenn ich auf ein Bio-Siegel schaue? Dass ich und meine Nächsten nicht durch Kleidung, Nahrung oder sonstige Gifte gefährdet werden oder dafür, dass die anderen, die das herstellen anständig bezahlt und nicht gefährdet werden? Wofür würde ich im Zweifel mehr Geld ausgeben?

Das Interesse am Anderen sollte nicht so sein, dass man ihn dahin schiebt, dass er so lebt, wie ich es will, denn das wäre jene Instrumentalisierung, vor der Kant ausdrücklich gewarnt hat. Warum sollen denn alle bio essen? Weil ich das richtig finde und so will? Weil es nur eine vernünftige Einstellung gibt, nämlich meine eigene? Die Bios haben gute Argumente, wovon sich viele distanzieren ist die moralische Überheblichkeit, die im Subtext immer sagt: Nur wenn du so bist wie ich, bist du richtig.

Irgendwas stimmt nicht, wenn man sich um jeden bedrohten Käfer sorgt, aber einem seine armen Mitmenschen völlig egal sind. Das Argument dahinter ist, dass wir als Menschen ja die Wahl haben und auch anders könnten, die Tiere können das nicht. Aber so sehr ich selbst immer wieder dafür plädiere, sich nicht in eine Opferidentität zu manöverieren, so wenig darf man die Augen davor verschließen, dass man Menschen erst ermöglichen muss, sich überhaupt dafür oder dagegen entscheiden zu können. Und das sind im Grunde erst die Aufwärmübungen, denn zu einer reifen Ethik gehört, dass man jemandem der selbst entscheiden kann zugestehen muss, dass er andere Prioritäten setzt als die eigenen. Offener Druck ist etwas, wogegen man protestieren kann, die oft so sanft erscheinende Manipulation, bei der man sich und anderen einreden kann, es doch nur gut zu meinen, ist das, was viele heute auf die Palme bringt. Man schiebt den anderen immer ein wenig mehr in die Richtung, in die man ihn haben will und hält ihn damit ein drittes Mal auf Distanz, indem man vorgibt zu wissen, was dem anderen gut und und manchmal, zu wissen, was er eigentlich will. Es geht darum, diesem Punkt immer besser zu verstehen, er wird uns in den kommenden Folgen immer wieder begegnen, weil er viele Themen der Gegenwart durchzieht und von verschiedenen Seiten aus betrachtet werden kann.

Die opportunistische Seite des Moralismus

Der Opportunismus ist einfacher zu durchschauen und sei am Ende nur noch kurz angerissen. Viele Moralisten zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihr Fähnchen im Wind drehen. Man erzählt, was gerade Trend ist, ist damit stets auf der richtigen Seite des Lebens und wenn es das genaue Gegenteil dessen ist, was man gestern vertreten hat, ist das im Grunde auch egal.

Wie kriegt man das eigentlich selbst hin? Am besten, wenn man kein sonderlich stabiles Wertesystem hat, sondern meint, es ginge lediglich darum, den anderen zu erzählen, was sie hören wollen. Im Kern ist das ein egozentrisches Taktieren, in den häufigeren Fällen geht es darum sich einen schlanken Fuß zu machen und den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen.

Sich an nichts reiben zu können – oder auch die Empörung nur zu inszenieren, weil man gerade gut damit ankommt – verweist darauf, dass einem andere im Grunde völlig egal sind. Man beteiligt sich nicht an Diskussionen, hat keine echten eigenen Positionierungen, demzufolge auch keine Argumente, sondern bleibt in oberflächlichen und floskelhaften Artigkeiten, Richtigkeiten und Empörungen stecken.

Moral und Moralismus sind dadurch getrennt, dass der Moralismus im Wesentlichen unterhalb einer moralischen Positionen und echter Werte bleibt, für die man einsteht und die man, auch gegen Widerstände und Schwierigkeiten durchhält. Moralismus ist der Verzicht auf eine echte moralische oder ethische Position, unter oftmals dem Betreffenden selbst nicht bewussten egozentrischen Prämissen. Man will selbst gut dastehen und denkt, echte Ideale und Werte wären ohnehin nur vorgeschoben. Wir werden vertiefen, wie man das durchdringt und zu reifen Gewissensfragen vorstoßen kann.

Quelle:

[1] Immanuel Kant, zitiert aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorischer_Imperativ#Formeln