Mit fünf Jahren wollte man Feuerwehrmann werden. Oder Feuerwehrfrau. Obwohl Gendern für die Menschen in meiner Generation – also solche, die heute um die Vierzig sind – damals noch nicht aktuell war. Eisverkäufer/in stand ebenfalls hoch im Kurs. Unser kindlicher Lebenstraum war bescheiden – und irgendwie machbar. Es sei denn, man wollte Prinzessin werden. Ein Jahrzehnt später wurden wir kühner, was unseren Lebenstraum hinsichtlich unseres zukünftigen Werdegangs im Erwachsenenalter betraf. Aus der Einsverkäuferin wurde eine Sängerin, andere Schönheiten wollten Schauspielerin werden, die Jungs Profifußballer oder eben Rockstar. Auf jeden Fall wollten wir reich sein oder wenigstens gut situiert, wohnhaft in einem schönen Haus mit Garten.
Viele von uns hatten den Anspruch, etwas aus ihrem Leben zu machen, etwas Besonderes, etwas Kreatives, etwas Sinnvolles. Wir wollten außerdem die Liebe unseres Lebens finden und eine intakte Familie mit wunderbaren Kindern haben. Wir stellten uns vor, wie wir mit unserem Herzmenschen am Lebensabend auf einer Bank vor unserem Haus sitzen und in den Sonnenuntergang blicken. Glücklich und erfüllt wollten wir sein. Alles sollte sich zu einem sinnenhaften Ganzen zusammenfügen und sich irgendwie richtig anfühlen.
Und heute? Heute sind wir Ü40. Nicht alles hat sich so eingestellt, wie wir es erhofften. Nicht alles fühlt sich richtig an. Im Gegenteil: So manches Mal fühlt sich das Dasein an wie eine Aneinanderreihung von Lebensbaustellen, die wir nach und nach in aller Hast abarbeiten.
Wenn wir überhaupt noch Zeit haben, über unseren Lebenstraum nachzudenken, spüren wir eventuell im Inneren eine Leere, eine Resignation oder eine tiefe Schwärze. Natürlich sind wir keine Loser, aber manchmal fühlt man sich eben so. Alle anderen haben ihr Leben scheinbar hinbekommen, so denken wir, und wir scheinen die einzigen zu sein, für die es irgendwie nicht rund läuft. Glauben wir.
Ü40: Zerplatzt ist der jugendliche Lebenstraum
Sollte sich unter den Lesern ein Rockstar oder eine Prinzessin verirrt haben, dann bleibt mir nur zu sagen: Herzlichen Glückwunsch, Sie haben es geschafft! (Wobei der berufliche Status ja nicht automatisch bedeutet, dass man glücklich ist.) Für alle anderen, die doch »nur« Sachbearbeiter/in, Einzelhandelskaufmann/-frau, Chemiker/in oder Psychologe/in etc. geworden sind und ein ganz normales, wenig glamouröses Leben leben, ist dieser Artikel gedacht. Manche von uns haben zwei Jobs und versuchen irgendwie über die Runden zu kommen. Andere leben in einer viel zu kleinen Wohnung, in der es Drunter und Drüber geht. Wieder andere müssen jeden Euro umdrehen, sind auf Zuschüsse vom Amt angewiesen und verspüren ein Gefühl von Stagnation. Wir sind im mittleren Erwachsenenalter angekommen. Was bleibt uns noch?
Das Leben als Wettrennen
Nach dem irren Wettrennen in der ersten Lebenshälfte, in welcher man sich um einen guten Schulabschluss, eine gute Ausbildung, einen guten Partyspaß, guten Sex, einen guten Mann (bzw. eine gute Frau), ein gutes Heim, gute Kinder, einen guten Workflow (trotz Überlastung) und eine gute Work-Life-Balance (erneut trotz Überlastung) bemühte, tritt mit circa 40 Jahren die erste Verschnaufpause ein. In der deutschen Durchschnittsfamilie ist das erste Kind dann etwa 10 Jahre alt. Das gegebenenfalls zweite bzw. 1,57 Kind (denn das ist die durchschnittliche Anzahl an Kindern pro Frau) ist zumeist 2-3 Jahre jünger. Und ja, wir sind immer noch mittendrin in der Erziehung und die Pubertät, in welcher der Nachwuchs so richtig aus dem Häuschen ist, wartet ja auch noch auf uns, aber aus dem Gröbsten sind wir als Eltern zumindest raus. Hoffen wir jedenfalls …
Die Desillusionierung der Lebensliebe
Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen – und mit dem Partner. Immerhin wird mehr als jede dritte Ehe geschieden. Mit Anfang Vierzig trennen sich die Frauen im Durchschnitt von ihren Männern aus der ehelichen Partnerschaft. Im Jahr 2019 lag das durchschnittliche Alter für eine Scheidung bei den Frauen bei 44,4 Jahren und bei den Männern bei 46,6 Jahren. Die durchschnittliche Ehedauer lag bei 14,8 Jahren. Übrigens, die Ausdrucksweise am Anfang des Absatzes ist nicht zufällig gewählt: Frauen reichen tatsächlich signifikant häufiger die Scheidung ein.
Während im Alter von 20 bis 35 Jahren weibliche Singles häufiger als Männer den Wunsch äußern, verheiratet zu sein, wollen Frauen jenseits der Fünfzig einen (weiteren) Bund fürs Leben seltener als Männer in diesem Alter. So lauten die Ergebnisse einer Studie der Universität Stanford.
Abschied vom Lebenstraum?
Unabhängig davon, ob wir nun verlassen haben, verlassen worden sind oder (mehr oder weniger glücklich) liiert, jetzt sind wir in der 40er Dekade. Wir blicken zurück auf eine ereignisreiche erste Lebenshälfte, in welcher wir eine Etappe nach der anderen absolvierten, und blicken nach vorn auf das, was uns bleibt. Den Zenit des Lebens haben wir beinahe erreicht – so glauben wir zumindest an dunklen Tagen –, wir stehen nun oben auf dem Hügel, ab jetzt geht es bergab oder wenigstens bleiben wir eine Zeit lang auf dem 40er-Plateau. Wir begleiten die Kinder weiter auf ihrem Lebensweg, halten uns beruflich einigermaßen fest im Sattel, feiern eventuell das eine oder andere Jubiläum (20 Jahre Mitarbeiter bei XY), fahren in den Urlaub, zahlen unsere Kredite, feiern Weihnachten, Ostern, Geburtstage, wieder Weihnachten … Irgendwann lauert dann der Status »Rentner« auf uns. Oder »Großeltern«, was wesentlich warmherziger anmutet, aber mit den gleichen Lebensängsten einhergeht. So weit, so normal. Lebenskrise halt.
Das Leben als Wartezimmer
Wer sein heutiges Leben als eintönig empfindet oder eben schlimmstenfalls als gescheitert betrachtet, der fällt erst einmal in ein emotionales Tief. Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts wird oft als Gesellschaft der Angst beschrieben. Angst ist unser aller einheitlicher Nenner, sie eint unser Dasein und der Austausch über sie dient der Kommunikation und der Verbundenheit, weil eben alle ähnliche Ängste haben. Wir haben Arbeit und haben Angst, die Arbeit zu verlieren. Sollten wir ein Haus besitzen, sorgen wir uns ab und an, das Haus zu verlieren. Insgesamt verspüren wir Angst vor der Armut und dem sozialen Abstieg.
Die unterschwellige Angst vor dem Statusverlust gleicht einem langsamen Einsickern von Gift in die Psyche, welches lähmt. Hinzu kommt die Angst vor Erkrankungen bei uns beziehungsweise unseren Familienangehörigen. Dem gegenüber steht die Angst, das Leben nicht ausreichend gelebt zu haben.
Der Soziologe Heinz Bude spricht in seinem Buch Gesellschaft der Angst davon, dass wir heutzutage ein Leben im Wartezimmer führen. Immer warten wir auf irgendetwas – Positives wie Negatives. Wir wollen auf kaum eine Chance verzichten und versuchen, die Vielzahl der Optionen, die sich uns bietet, unter einen Hut zu bekommen. Wir können nicht anders als scheitern …
Die ganze Welt ist voll armer Teufel, denen mehr oder weniger angst ist.
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
Das Leben als Horrorfilm
Einerseits werden wir gesellschaftlich in einer Art Bildungspanik gehalten. Immerhin könnte man jederzeit alles verlieren. Einen Lebenstraum umzusetzen, gleicht einem Hirngespinst. Schließlich sind wir Realisten. Phasenweise müssen wir uns selbst diese Statusangst bewusst machen, um uns an einem Montagmorgen zur Arbeit zu motivieren.
Der dahinterstehende Mechanismus ähnelt dem Phänomen, dass nicht wenige Menschen gern Horrorfilme oder Thriller anschauen. Dahinter steckt eine gewisse Angstlust. Die Anspannung, welche man beim Betrachten der angsterregenden Szenen spürt, weicht einer Erleichterung und Lebenslust, sobald sich alles zum Guten gewendet hat und uns bewusst wird, dass wir in den heimischen Wänden in Sicherheit sind. Eine sozialwissenschaftliche Studie der britischen Coventry University zeigt, dass Probanden nach dem Betrachten eines Horrorfilms einen Anstieg der weißen Blutkörperchen zu verzeichnen haben. Diese sind essenziell zur Unterstützung des Immunsystems. Normalerweise reagiert unser Organismus damit als Immunantwort auf etwaige Krankheitserreger. Man könnte demnach provokant schlussfolgern, dass hin und wieder ein wenig Fürchten unserer Gesundheit zuträglich sein könnte.
Brauchen wir deswegen unsere Ängste im Alltag, um Immunsystem und Psyche in Schach zu halten? Nach den durchgestandenen, durchgespielten Angstszenarien von Jobverlust & Co. wartet dann ein Gefühl von Dankbarkeit auf uns. Dankbarkeit dafür, dass unser Leben einigermaßen stabil verläuft.
Altersmilde Ausblicke
Unabhängig davon, ob man nun emotional aufwühlende Filme schaut oder nicht: Viele spüren in der Phase des 40er-Plateaus – mich eingeschlossen – mehr Lebenszufriedenheit als jemals zuvor. Die Umsetzung des Lebenstraums erscheint weniger absolut und ist einer gewissen Altersnachsicht gewichen. Außerdem kann man immer noch durchstarten und viele Menschen in unserem Alter machen das auch.
Unsere Gedanken von heute, bestimmen unser Handeln von morgen.
Wäre es nicht beruhigend zu wissen, dass auch die Menschen vergangener Jahrhunderte die gleichen Selbstzweifel durchliefen, als sie sich der Endlichkeit des Seins stellten und ihren Lebenstraum bzw. ihre Vorstellung vom Leben hinterfragten? Der zweite Artikel dieser Reihe zur Desillusion des Lebenstraumes befasst sich unter anderem damit.