Uaaahhhh… © Stefan Rheone under cc

Sind Sie eher unsicher und ängstlich oder selbstbewusst und mutig?

Egal, wo Sie sich einordnen, Sie werden vermutlich Menschen kennen, die auch an den Enden des Kontinuums beheimatet sind. Einige, die irgendwie superängstlich sind oder von denen Sie sogar wissen, dass sie unter einer Angststörung leiden. Und auch die anderen, deren Mut oder Tollkühnheit Sie bewundern. Stuntmen, Artisten, Höhlenforscher, Bombenentschärfer oder vielleicht neuerdings Intensivpflegerinnen?

Vielleicht Menschen, die öffentliche Reden halten oder sich trauen ‚Nein‘ zu sagen? Auch zum Chef und zur Mutter? Wir sehen hier schon, dass Angstfreiheit nicht unbedingt heißen muss, auf zwei Rädern mit dem Auto zu fahren oder beim Sondereinsatzkommando zu sein.

Angst: Biologisch sinnvoll, persönlich unangenehm

Angstpatienten bekommen, wenn Sie sich therapieren lassen, häufig eine biologische Einordnung präsentiert. Dass die Angst evolutionär sinnvoll sei. Denn ohne Angst, ist man schneller tot, als man denkt. Wer in grauer Vorzeit das Rascheln im Gebüsch nicht ernst nahm, hatte später keine Möglichkeit mehr sich fortzupflanzen, wenn das Rascheln eben doch dieser oder jener Feind war.

Aber was hilft einem das, wenn man Angst hat in den Fahrstuhl einzusteigen? Es ist halt blöd, wenn man etwas nicht kann, was anderen leicht fällt und da man sich gerne vergleicht, fühlt man sich da vielleicht etwas minderwertig. Warum kann ich das eigentlich nicht? Manche denken drüber nach, andere nicht. Für die zweite Gruppe ist das einfach so, dass sie die Treppe nehmen. Vielleicht ist die Ursachenforschung da gar nicht immer besser. Dann benutzt man eben die Treppe, fertig.

Wer grübelt und zweifelt kommt eventuell sogar in die Nähe der Depression, die häufig mit Angst und Unsicherheit zusammen auftritt. Was nützt es mir also zu wissen, dass die Angst von evolutionären Nutzen ist? Der Säbelzahntiger lauert heute nicht mehr hinterm Baum und überhaupt ist es recht sicher geworden, in unseren Breitengraden. Wir geraten in Sorge, wenn der nächste Defibrillator zu weit entfernt ist oder die Polizei zu lange braucht.

Eigentlich kann uns heute nicht mehr viel passieren, aber seltsamerweise nehmen Ängste nicht ab, sondern immer mehr zu. An Angst kann man nicht sterben. Auch so eine Weisheit, die der angehende Angstpatient lernt. So lernen es Therapeutinnen ja oft selbst. Hat man das Pech von einem Fall zu lesen, bei dem jemand doch an Angst gestorben ist, hat man mit der Therapeutin im weniger guten Fall Streit, der auf Kosten des Vertrauens gehen kann. Mir hat das nie so gut gefallen, auch wenn es ein wohlmeinender, aber durchsichtiger Versuch ist, den Angstpatienten in Sicherheit zu wiegen. Ihm ein Fundament zu geben, damit dieser wieder einen etwas festeren Boden unter den Füßen hat, wenn er von der Angst schlimmer erwischt wurde.

Ob Angst, Broken Heart oder psychogener Tod, sowas gibt es. Es ist keine Hilfe für einen Herzneurotiker, wenn er hört, dass jemand, der an Angst stirbt, dann aber bestimmt einen unentdeckten Herzfehler gehabt haben muss. Genau das ist der heimliche Albtraum dieser Art von Angstpatienten. Man kann dran sterben, aber man muss es nicht und es gibt Wege aus dem tiefen Tal wieder heraus zu kommen. Das scheint mir ehrlicher zu sein und eröffnet dennoch psychotherapeutische Optionen.

Neben der verständlichen Angst vor dem Tod, ist der Gedanke der Einordnung, ob man unsicher und ängstlich ist sehr sinnvoll. Das Rad der Evolutionsbiologie ist aber erstens, viel zu groß und zweitens, viel zu reduktionistisch. Was man schon daran sieht, dass viele Ängste und Unsicherheiten soziokulturelle Faktoren sind. Genügend Futter und Schutz haben wir heute, wir leben zum Glück nicht mehr in einer Situation in der man ums nackte Überleben kämpfen muss.

Die Kompensierer

Es gibt Berufe und Hobbys, die Mut erfordern. Freeclimbing, Rodeoreiten, Soldat sein und die bereits erwähnten. Fragt man Menschen mit gefährlichen Berufen oder Hobbys, warum sie keine Angst haben, ist die Antwort meistens, dass sie sehr wohl Angst haben und die Angst sogar sehr wichtig sei, für ihre Tätigkeit. Angst fördert die Wachsamkeit und Konzentration, sie haben nur gelernt, mit dieser Angst umzugehen, sie sind nicht gelähmt von der Angst. Das oft, weil sie sich an die Situation schrittweise gewöhnen konnten. Was man kennen lernen konnte, macht weniger Angst. Die ganz neue oder lange nicht mehr geprobte Situation macht Angst oder verunsichert zumindest manchmal. Ob ich das noch kann?

Manchmal macht man sogar die merkwürdige Entdeckung, dass ein auf einem Gebiet sehr angstfreier und selbstsicherer Menschen, seinen Mut auf einem anderen Gebiet plötzlich verliert. Bei manchen könnte man sogar das Gefühl haben, dass sie die Gefahr suchen, um vor einem bestimmten Lebensbereich davon zu laufen, sich und anderen aber sagen zu können, dass sie dennoch mutig sind.

Die Liste von Phobien ist lang, es gibt kaum etwas, vor dem man sich nicht fürchten kann. Vor Erröten, aber auch Mundgeruch, Obst, der Zahl 4, Schnee, Erbrechen oder Frauen.

Ob Kompensation oder nicht, häufig kann man beobachten, dass jemand eine bestimmte Situation mit Bravour meistert, aber in einer anderen mindestens verunsichert ist. Das gilt für so gut wie alle Menschen. Vielleicht ist es ein bisschen so, dass die einen sich Schwächen und Lücken gut verzeihen können. Sie können etwas eben nicht, sagen das auch und sehen keinerlei Notwendigkeit, sich dafür zu rechtfertigen. Bei manchen ist das anders. Sie können etwas nicht und es ist ihnen peinlich, weil das, was sie können doch angeblich jeder kann. Das was sie nicht können aber auch. Es ist so schrecklich einfach, aber sie bekommen es nicht hin. Sind sie verunsichert, weil sie es nicht hinbekommen, oder schaffen sie es nicht, weil sie verunsichert sind? Auf jeden Fall keine gute Kombination, aber, wie man hört, eine häufige. Angst und Depressionen sind die psychischen Erkrankungen Nummer 1 und 2 und sie treten gerne zusammen auf.

Es ist zumindest vorstellbar, dass jemandem, der viel grübelt, es peinlich ist, wenn etwas ‚Leichtes‘ nicht gelingen will. Das verunsichert noch mehr, man fühlt sich vielleicht wertloser und auf einmal ist das, was nicht klappt, die wichtigste Sache der Welt. Man weiß irgendwo, dass es nicht die wichtigste Sache ist, aber man will ja auch nicht die Eiger Nordwand erklimmen, nein, vielleicht nur eine kurze Ansprache halten oder im Supermarkt etwas einkaufen. Kein Problem, aber auf einmal stehen zwei Leute vor einem an der Kasse, man kann nicht weg, ist gefangen, hat die Situation nicht mehr im Griff, ist von den anderen abhängig. Man will schnell raus, muss aber bezahlen, man könnte alles stehen und liegen lassen, aber wie unendlich peinlich wäre das? Die Kontrolle entgleitet und vorne geht es nicht weiter. Die Hände sind klamm, die Knie zittern, das Herz wummert, man wird hier gleich sterben, also doch nichts wie raus? Aber man will ja noch mal wieder kommen, da wäre es unendlich peinlich, wenn man nun raus rennt. Herzphobie? Soziale Phobie? Irgendwie beides? Und hey, es ist nur ein blöder Einkauf, jeder Idiot kriegt das hin, warum ich nicht? Das macht einen nicht selbstbewusster.

Es ist ja nicht nur das Denken. Alles geht blitzschnell. Auf einmal ist die Panik da und man will nur noch raus, weg. Oder man kann sich nicht mehr rühren. Aber es ist auch Denken. Sich dafür noch fertig zu machen, macht die Sache nicht besser. Es war eben nicht die Eiger Nordwand. Wer an ihr scheitert und sagt: „Puh, sorry, da hab ich mich wohl übernommen.“ Wer könnte das nicht verstehen?

Es ist eben nur der blöde Einkauf. Kann doch jeder. Das ist die Denkschleife. Alle schaffen das, nur ich nicht. Warum nur? Ich verstehe es nicht. Das ist doch nicht schwer. Hier hilft die Einordnung. Viel mehr Menschen als man denkt, können irgendwas nicht. Man redet halt nur nicht so gerne drüber. „Nein, ich gehe nicht zur Vorsorge, weil ich Angst habe, dass die was finden.“ „Meinem Chef widersprechen?“ „Meine Träume leben?“ Dann kompensiert man vielleicht doch lieber.