Stell dir vor, du kommst zu einem Therapeuten und er fragt dich: „Was wünschen Sie sich in Ihrem Leben? Welche Stärken haben Sie und was hemmt Sie auf Ihrem Weg? Gemeinsam werden wir genau an diesen Stärken anknüpfen und Ihnen dabei helfen, Ihre Wünsche und Ziele umzusetzen.“ Was wäre, wenn der diagnostische Prozess etwas weniger dazu dienen würde, herauszufinden, welche psychiatrischen Diagnosen du hättest? Und der Fokus relativ zeitnah auf das Ergründen der Ursachen und dem Stärken deiner Kompetenzen liegen würde? Dann wäre die Frage „Brauche ich eine Therapie?“ weniger ein Eingeständnis von möglichen Defiziten, sondern eher ein Bekenntnis, seine Persönlichkeit zu optimieren.
Wissenschaft hinterfragt ständig
Wissenschaft befindet sich immer im Wandel. Kommen Studien zu bestimmten Ergebnissen, die aufhorchen lassen, sollte dem nachgegangen werden. Eventuell ergeben sich daraus neue Ansatzpunkte für Interventionen.
Stimmen Diagnose und Intervention?
Jüngere Forschungsansätze zeigen beispielsweise, dass es in der Gruppe der Borderline-Betroffenen eine Subgruppe mit autistischen Zügen zu geben scheint. Eventuell existiert bezüglich beider symptomatischen Ausprägungen eine klinisch bedeutsame Komorbidität. Die Forschergruppe um die Neuropsychologin Katia Nanchen hat in klinischen Studien herausgefunden, dass fast die Hälfte aller BPS-Patienten den Cut-off-Wert beim Autism Spectrum Quotient (AQ) überschritten. In dieser benannten Subgruppe fanden sich niedrige Werte für kognitive Empathie sowie höhere Alexithymie-Werte, also ein stärkeres Defizit in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Emotionen.
Es stellt sich damit aus klinischer Perspektive die Frage, ob eine möglicherweise subsyndromal ausgeprägte Variante des Autismus im Sinne eines Persönlichkeitsmusters (Tebartz van Elst, 2016) Basisstruktur für eine sich daraus psychoreaktiv entwickelnde Borderline-Persönlichkeitsstörung sein könnte (Tebartz van Elst et al., 2013).
Nanchen et al. (2016)
Genetische Überlappungen bei psychischen Erkrankungen
In einer Studie unter der Beteiligung der Uniklinik Bonn zeigte sich, dass viele psychische Erkrankungen eine gemeinsame molekulare Basis besitzen und offenbar zahlreiche genetische Faktoren teilen. Die Studienergebnisse weisen darauf hin, dass entscheidende genetische Überlappungen in den Mustern zum Beispiel bei der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), der bipolaren Störung, der schweren Depression und der Schizophrenie vorliegen. Außerdem existieren offenbar starke genetische Überlappungen bei Magersucht (Anorexia nervosa) und Zwangsstörung (OCD) sowie bei der Zwangsstörung und dem Tourette-Syndrom.
Bei neurologischen Erkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer zeigt sich dies im Gegensatz dazu nicht in dem Ausmaß.
Fokus auf Traumata als Ursprung?
Es ist bekannt, dass die Ausprägung einer psychischen Erkrankung ein Zusammenspiel zwischen der genetischen Anlage und der Umwelt ist. Welche Symptome entwickeln wir in Abhängigkeit von unseren genetischen Mustern, unserem Erfahrungshintergrund aufgrund von Traumatisierungen und unserem Temperament? Und eben diese Traumatisierung müsste individuell aufgearbeitet werden, zu gewissen Teilen unabhängig von der jeweiligen Symptomausprägung. Auch sollte die Stärkung der Kompetenzen individuell erfolgen. Verschiedene medikamentöse Behandlungen sowie Trainingsprogramme wie zum Beispiel ein Soziale-Kompetenz-Training oder ein Training im Umgang mit Ängsten oder Panikattacken haben in diesem Zusammenhang natürlich ihre Berechtigung im klinischen und psychotherapeutischen Kontext.
Brauche ich eine Therapie und wenn ja, welche?
Nicht wenige Betroffene, die sich die Frage stellen („Brauche ich eine Therapie?“) und die Hilfe für ihre seelischen Leiden suchen, begeben sich oft durch einen Dschungel von Verdachtsdiagnosen. Mit jeder Diagnose kommt auch – und das sollten wir nicht vergessen – eine neue Etikettierung dazu. Häufig bereits im Kindesalter. Was macht diese Stigmatisierung mit dem Einzelnen? Natürlich ist eine Diagnose als eine Erklärung für die individuellen seelischen Leiden ein wichtiger Punkt. Oftmals kann sie einen besseren Zugang zur Bewältigung des Alltags verschaffen, nicht zuletzt, weil man eventuelle Lebenshilfen, therapeutische Interventionen und weitere Unterstützungen bekäme. Eine Vielzahl von Diagnosen kann aber auch Verwirrung stiften, den Glauben in die Diagnostik mindern und möglicherweise auch ein Stück weit machtlos machen.
Eine verschlankende Diagnostik wird deshalb von einigen Experten wie Peter de Jonge, dem Professor für Entwicklungspsychologie und vormals Psychiatrische Epidemiologie an den Universitätskliniken Groningen, empfohlen. In einem Interview mit SciLogs, den Wissenschaftsblogs vom Spektrum Verlag, äußert sich de Jonge, der auch Mitglied des von der Harvard University geführten World Mental Health Surveys ist, das unter anderem Empfehlungen für die Weltgesundheitsorganisation verabschiedet, zu einer Revolutionierung der psychologischen Versorgungslandschaft. Die Frage „Brauche ich eine Therapie?“ schließt, wenn es nach de Jonge ginge, eine eher individuelle Betrachtung des Einzelnen ein.
Den Einzelnen mit sich selbst vergleichen
Der Professor schlägt vor, in der therapeutischen Diagnostik nicht anzuschauen, ob der Einzelne sich schlechter oder besser fühlt als der Durchschnitt, sondern, wie gut sich jemand aus sich selbst heraus fühlt, auch im Vergleich zu früheren Zeiten. Verallgemeinerungen in Bezug auf die Psyche des Menschen erscheinen insofern obsolet, da jedes Individuum mit seinem eigenen Erfahrungskontext für sich steht.
Die Psyche der Menschen ist aber so unterschiedlich, dass kaum Verallgemeinerungen möglich sind. Wenn man es trotzdem versucht, dann verliert man das Individuum aus den Augen.
de Jonge, Prof. für Entwicklungspsychologie (2017)
Neurodiversität akzeptieren
Jeder Mensch ist anders. Genauso schlägt auch jede psychotherapeutische Behandlung unterschiedlich an.
So gut wie alle Behandlungen für Depressionen helfen ebenfalls bei Angststörungen. Wir sehen auch auf genetischer Ebene sehr viele Überschneidungen. Wenn die Behandlung aber dieselbe ist, warum muss man dann verschiedene Diagnosen voneinander unterscheiden? Mir erscheint es als sinnvoller, nur ein paar große Problemgebiete zu unterscheiden und in diesen die Behandlung für eine bestimmte Person anzupassen.
de Jonge, Prof. für Entwicklungspsychologie (2017)
Individuumszentrierte psychologische Ansätze
Wie unterschiedlich wir Menschen doch sind! Was für den einen funktioniert, das kann bei einem anderen sehr schlecht funktionieren. Denken Sie beispielsweise an Antidepressiva: Im Mittelwert finden wir einen kleinen positiven Effekt. Früher habe ich selbst solche Untersuchungen gemacht, auch heute noch. Aber so ein Effekt bedeutet, dass das Medikament bei manchen hilft, bei anderen nicht und bei wieder anderen sogar kontraproduktiv sein kann. Solche Unterschiede, also die Diversität der Menschen, sind wichtig für die Praxis …
de Jonge, Prof. für Entwicklungspsychologie (2017)
De Jonge schlägt eine Unterscheidung in drei Gruppen vor: internalisierende, externalisierende und psychotische Störungen. Diese Unterteilungen sollen ein hinreichendes Bild vermitteln, welchen psychischen Anfälligkeiten ein Betroffener ausgesetzt ist. Die Gruppen schließen sich selbstredend nicht einander aus. Betroffene können sowohl Symptome aus der einen als auch aus der anderen Gruppe haben. Alsbald könnte es therapeutisch in das Eruieren der individuellen Ursachen gehen. Außerdem sollen nicht nur die Probleme des Einzelnen, sondern vor allem seine Kompetenzen und Ansätze zur Genesung und Veränderung betrachtet werden. Wir sprechen hierbei von einer Positiven Psychologie. Diese rückt nicht die Krankheitslast, sondern die Aktivierung der individuellen Stärken in den Mittelpunkt. Ähnlich wie die Zwölf-Schritte-Programme, die aus dem Selbsthilfebereich kommen und für jeden individuell anwendbar sind, der die Bereitschaft dazu mitbringt.
De Jonge wünscht sich personalisierte, maßgeschneiderte Ratschläge für den Einzelnen statt bestimmter Verfahren, die flächendeckend standardisiert in Zusammenhang mit einer bestimmten Diagnose angewendet werden. Der persönlichen Überlegung in Bezug auf „Brauche ich eine Therapie?“ könnte sich der Einzelne vor diesem Hintergrund deutlich weniger stigmatisierend und wesentlich selbstwertschützender stellen.