Das degenerierte, rationale Weltbild

Grand Canyon

… und das auch. © Güldem Üstün under cc

So fiel auch nicht auf, dass durch die Jahrzehnte die breite Version der reifen Rationalität, die die innere und äußere Natur verbinden sollte, immer mehr zugunsten einer interpretatorischen Schmalspurversion abgelöst wurde, die allerdings den Interpreten viele Vorteile brachte. Man konnte sich ungeheuer fortschrittlich fühlen, praktische Erfolge ließen sich weiterhin herzeigen, aber von Kants Staunen

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ (Immanuel Kant)

ging man nach und nach zum Vergessen des Zweiten über. Der Blick wurde zunehmend nach Außen, ins Reich des Messbaren und Materiellen verlegt, auch wenn die Materie selbst sich als immer verrückter erwies. Doch es galt, dass jede gute Erklärung irgendwie über das Außen laufen musste, die Materie. Rezeptoren, Neurotransmitter und Gehirne hier, Wachstumszahlen und Gelder dort und noch die Forderung nach Umverteilung des Besitzes verharrt zu oft auf der Ebene des Materiellen, wenigstens bei der Überzahl der Anhänger.

Moral galt fortan nur noch als altbacken. Für die Linke ein Herrschaftsinstrument, für die Rechte etwas, was für das Raubtier Menschen ohnehin nicht existiert, für die Wissenschaft nichts, was man einfach messen konnte und für die zwischenzeitlich einflussreiche Biologiefraktion unter den Szientisten ein religiöser Rest, von unseren egoistsichen Genen nicht vorgesehen und die wirtschaftswissenschaftlichen Modellrechnungen kreierten mit dem Homo Oeconomicus eine rationalen Agenten, den es so nie gab, der aber prima zum biologischen Zerrbild passte.

Die Skeptiker vom Schlage eines Nietzsche, Horkheimer und Adorno sollten Recht behalten. Aus der stolzen Version der Aufklärung ist ein degenerierter Funktionalismus geworden, bei dem der Fortschritt ohne Sinn und Ziel zum Programm wurde und wir wollten es die längste Zeit nicht sehen. Längst hat der Mensch sich den Bedürfnissen der Wirtschaft, der Cyberwelt und seltsamer, zum Moralismus degenerierten Vorstellungen anzupassen, weil man das moralische Gesetz in mir und nach und nach die gesamte Bedeutung der Innenwelt aus dem Blick verlor.

Die vermutlich verbreitetste Version eines Weltbildes bei uns, ist ein degenertiertes mythisch-rationales, bei dem es völlig in Ordnung scheint, kein Ziel außer weiterem Fortschritt zu haben und alle Fragen nach Sinn und Moral als Firlefanz anzusehen, weil bei uns doch alles prima und so viel besser als anderswo funktioniert. Doch diese Lesart verliert immer mehr an Strahlkraft und Anhängern.

Gefallene Engel: Ein seltsamer Pluralismus

Es gab durchaus Strömungen, die die Reduktion des Rationalismus auf einen schnöden Funktionalismus erkannten und kritisch kommentierten. Es entstand ein empfindsames Selbst, ein ausgesprochen reifes Weltbild, das erkannte, dass mein Wohl vom Wohlergehen der Um- und Mitwelt abhängt und dass man sich nicht nur an die Starken, die Big Player anpassen musste, sondern dass auch die vermeintlich Schwachen zu ihrem und unserem Wohl angehört werden mussten und auch an jene Wesen und Systeme mitgedacht werden sollten, die keine eigene Stimme haben, die wir verstehen. Es ist nicht besonders schlau, an dem Ast zu sägen, auf dem man sitzt, selbst wenn die Säge toll funktioniert.

Also sind Umsicht, Vorsicht und Rücksicht geboten, damit es allen gut gehen kann, nicht nur einigen wenigen, deren Zahl immer kleiner, aber deren Einfluss immer größer wird. Doch die pluralistische Version ist vielleicht noch mehr zerfallen als der Rationalismus und sich dabei selbst oft untreu geworden.

So ist der Pluralismus ganz unpluralistisch zum politischen Pluralismus geworden, der sich für allerlei Buntheit und Vielfalt einsetzt, diejenigen, die anderer Meinung sind, aber gerne aus dem Diskurs heraushalten möchte. Würde der Pluralismus sich offen dazu bekennen die bessere Idee zu vertreten, könnte er in diese Richtung argumentieren, aber in der Regel ist der Pluralismus außerdem ausgesprochen hierarchiefeindlich. Statt dessen wird oft die Idee vertreten jeder habe Recht, aber dann müsste das auch für die gelten, die mit dem Pluralismus nichts anfangen können oder wollen. Statt dessen müsste man heraus arbeiten, welche Hierarchien, aus welchem Grund gut sind und welche nicht.

Doch wird an die Stelle von Argumenten oft ein unerträglich anmutender Moralismus gesetzt, der eine Art Identitätspolitik ist, also eine bestimmte Gruppe in den Fokus rückt, die nun mit der gefühlten oder realen alten Ordnung abrechnen möchte. Gegen Rassismus, gegen Sexismus, gegen Umweltzerstörung, gegen Nationalismus, aber einäugiger als es sich eine an sich hoch entwickelte Einstellung erlauben darf, so dass durch die Hintertür oft diverse Positionen toleriert werden, die das Kind mit dem Bad ausschütten und sich primär in einem Überlegenheitsgestus gefallen, den sich nicht ausformulieren wollen und können.

Europas moderne Mythen

Die Brille durch die man schaut, ist die, die man nicht sieht, egal, wie gründlich man guckt. Die bei uns vermutlich häufigste Form ist ein Mythos der gut geölten Maschine oder vom großen Nutzen. Es ist ein mythisch-rationales Weltbild, das heißt, man glaubt nicht mehr wirklich an einen Gott oder großen Führer, aber an die übergeordnete Idee vom großen Nutzen und einer übergeordneten Rationalität, wie an einen Mythos. Wenn man die große Maschine versteht, kann man die Welt beeinflussen, die aber ansonsten, wie eine aufgezogene Uhr auch ohne uns abläuft.

Je mehr man versteht wie alles funktioniert, umso eher kann man sich an den Mechanismus anpassen und erntet Fortschritt. Nutzen und Funktion stehen als Begriffe im Zentrum und bilden die gedankliche Vorlage für Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und unser Menschenbild. Kants moralisches Gesetz in mir hatte man schnell wieder vergessen und damit auch seine Ausformulierungen, dass man den anderen nicht nur als Mittel zum Zweck gebrauchen sollte. Unser Gegenüber sollte also nicht nur nützlich sein, sondern in seiner Würde als Mensch gesehen werden.

Was wir tun, ist das Gegenteil. In Fernsehformaten bekommen wir die Bewertungsmanie zu spüren, ob jemand singt, tanzt, Kleider vorführt, einkauft oder für andere kocht, er oder sie wird dafür bewertet. Alles hat seinen Preis und jeder wird schnell gescannt, damit man ja kein Wagnis eingeht. Im Geheimen tauscht man Nacktbilder, damit man weiß, woran man ist, als neue Währung oder weil es heute eben dazu gehört. Der Sex wird zunehmend ins virtuelle Reich verlegt, das ist unverbindlicher. Für Kochen, Joggen und Sex hat man seine jeweiligen, ausgewählten Nützlinge.

Wir finden das normal und optimieren uns selbst, die Konkurrenz schläft nicht, so haben es viele schon als Kinder gelernt. Wettkampf ist okay, bei Kindern geschieht er aus Lust, aber wofür ein Leben lang und in jeder Lage? Wo ist der andere Raum, wenn die Arbeit ein Wettkampf ist, der Sex ein Wettkampf ist und schon im Amateursport, der mal aus Lust praktiziert wurde, inzwischen Doping- und Schmerzmittel längst dazu gehören? Wo ist der Raum für Ruhe, Muße und Entspannung? Auch Entspannung muss heute effektiv sein, schnell gehen: Power Napping.

Am einfachsten findet man das neue Normal genau dann normal, wenn man sich ganz rational selbst überzeugt, dass die Welt eben so ist. Ein ewiger Wettkampf, in dem der Zweite der erste Verlierer ist. So ist es ja auch in Schule, Wirtschaft und der Natur. Das Leben als Strategiespiel.

„Naturgemäß waren auch die Kriminalpolizei und das Militär daran interessiert, zu erkennen, wie Menschen ticken. Teil der Strategie war, am besten schon im Vorfeld zu erkennen, wie sich jemand unter bestimmten Bedingungen verhalten würde. Ein weiterer Versuch des Zugriffs auf die Black Box, die das Innere des Menschen nach Ansicht der Behavioristen unter den Psychologen sein sollte.

Auf militärischer Seite und auch bei Konzepten der Kriminalpsychologie versuchte man vor allem mittels der Spieltheorie das mögliche Verhalten der jeweils anderen Seite vorherzusehen und in die eigenen Strategien mit einzuberechnen. Frank Schirrmacher machte in seinem Buch „Ego: Das Spiel des Lebens“ deutlich, dass diese militärische Sicht auf das Verhalten des Menschen zunehmend auch andere Lebensbereiche erfasste und zu einer Algorithmisierung des Menschen führte.“[1]

Die Smart-Watch, die Fitness-App, all das hilft uns, uns weiter zu optimieren: für wen oder was noch mal?