Gefallene Großmächte

Wenn alle gleich denken, gibt es keinen Streit. Meinen manche. © monkeywing under cc

Die NATO gegen Russland heißt es derzeit wieder, als hätte man die Zeit zurück gedreht. Dabei ist manches anders geworden, denn die Karten werden neu gemischt. Obamas Wort von der Regionalmacht Russland findet vielleicht gerade sein Echo, aber im Grunde ist Russland allenfalls noch eine militärische Großmacht und vor allem was die Fläche angeht unglaublich groß. Die Zahl der Einwohner ist eher gering, 145 Millionen Einwohner, darunter 20 – 25% Turkvölker, die nicht als linientreu gelten.

Die 330 Millionen US-Amerikaner bestehen zu 60% aus weißen Menschen, Tendenz sinkend. 1412 Millionen Einwohner hat China – bei weitem mehr als Eurapa, die USA und Russland zusammen –, dicht gefolgt und bald überholt von Indien. China ist längst Atommacht, hat eine autoritäre Führung und vermutlich die derzeit leistungsstärksten Supercomputer der Welt. Es gibt die Idee, dass China und Russland gegen den Westen kooperieren, auf der Basis einer Strategie der Superrechner. Andere Stimmen sagen, die USA bräuchten Russland mittelfristig gegen China, man wird sehen, wohin die Reise geht.

Neben einer Ablösung der Großmächte kommt durch die Möglichkeit des Cyberwars noch eine ganz andere Ebene ins Spiel. Alles hängt heute am Internet und das heißt, ist ein potentielles Angriffsziel. Probeläufe sieht man überall, ständig wird irgendwo ein Teil der Infrastruktur lahmgelegt. Hier ein Krankenhaus, da eine Stadtverwaltung, es könnte aber auch mal ein Atomkraftwerk oder das ganze Stromnetz sein.

Aber das ist nicht alles, denn via Internet könnten nicht nur neue Narrative gestreut werden, das ist längst der Fall. Was ist Propaganda, was nicht und kann man es überhaupt noch erkennen? Eines der neuen Narrative lautet bereits, dass ohnehin überall gelogen wird, also ist es, wenn man meint, dass sowieso alle Welt moralisch völlig enthemmt ist, auch kein Problem, wenn man selbst Fake News streut wo immer es geht. Hauptsache sie erzielen die beabsichtigte Wirkung. Man hat sich bei der Frage nach Wahrheit oder Macht dann völlig auf die Seite der Macht geschlagen. Auch hier es ist, es so, dass je mehr Menschen daran glauben, dass Wahrheit und Aufrichtigkeit eine naive Idee sind, das komplett amoralische Weltbild immer stärker wird. Das Leben ist dann ein Kampf, jeder versucht den anderen geschickt zu übervorteilen. So ist es eben, das Leben, denkt man dann, so war es immer schon, hier zeigt es sich nur wieder einmal. Ein faschistisches Narrativ, die Vision vom nie endenden Kampf. Der Kampf der Weltbilder ist ein anderer, da hier auch solche dabei sind, in denen der Kampf nicht ein und alles ist.

Nicht nur Staaten spielen mit, beim ewigen Kampf, auch multinationale Großkonzerne sind längst mächtige Akteure, auch ihr Antrieb ist Konkurrenz. Partnerschaft und Kooperationen haben allenfalls einen strategischen Sinn und wenn das die Leitidee ist, wirkt sie natürlich bis hinein ins Privatleben. Das Private war den mächtigen Akteuren daher immer schon suspekt, es sollte kontrolliert werden. Es war und ist neben der Liebe der große Feind, Spiritualität ist ein weiterer andere, auch die Gedanken sind (manchen zu) frei, umso besser, wenn man sie mit Algorithmen und einem Belohnungs- und Bestrafungssystem lenken kann. Freiwilliger als heute hat man sein Privatleben und seine Freiheit jedoch nie preisgegeben. Wozu wissen, was jemand denkt und will, wenn man machen kann, was jemand denkt und will?

Zwei Enden des Spektrums und ein gemeinsamer Wunsch

Es ist schon einigen aufgefallen, dass hinter dem Kampf und der Zerstörung des anderen ein, wenn auch pervertierter Wunsch nach Einheit steckt. Eine Einheit, aus Not und Neid gespeist. Was ich nicht kriegen kann, soll auch kein anderer haben. Tod und Zerstörung sind Gleichmacher. Die Einheit begegnet uns immer wieder als Motiv, doch verwandelt in der Form. Der nicht bösartige Narzisst wünscht sich auch die Einheit einer perfekten Welt. Einer Welt, in der alle das wollen und so sind, wie er. Der Narzisst will lauter Kopien von sich erstellen.

Der mythische Wunsch nach Einheit ist anders gefärbt. Es wäre gleichermaßen gut, richtig und auch bequem, wenn alle das gleiche Ziel verfolgten. Eine kitschig-naive Version einer Welt in der es keinen Streit gäbe, weil ja jeder vom anderen weiß, dass auch er der einen großen Idee nacheifert und sich dieser im Zweifel auch opfert, in jedem Fall aber unterordnet.

Das tun wir heute auch, wir Träger der mythisch-rationalen Brille. Wir optimieren uns freiwillig, weil die Idee so gut ist, ganz vorne mit dabei zu sein. Die andern wollen das auch, aber ich zeichne mich dadurch aus, dass ich eben ein bisschen smarter bin oder zäher. Ich schlafe weniger und trainiere härter, ich weiß wie es geht, ich habe meine Netzwerke, ich bin vielleicht nicht in einer Einzeldisziplin der Beste, aber in der Summe der relevanten Qualitäten, bei den Big Points, bin ich überall oben mit dabei und das ist es, was am Ende zählt. Warum? Weil das Leben nun mal so ist, da braucht man sich nichts vorzumachen. Unnötige Fragen lenken nur ab, es heißt fokussiert zu bleiben. Hier finden wir die Einheit im Wettkampf. Es sind alle so und wer es nicht ist, spielt keine Rolle und wird aussortiert. Moral ist nett, ein nice to have, solange sie die Geschäfte nicht stört.

Es gibt Menschen, die anders denken, weil sie wissen und erlebt haben, dass es mehr gibt, als die Jagd nach Erfolg, als ein Leben, das ein Strategiespiel ist. Es sind Menschen, die Argumenten etwas zutrauen, obwohl sie wissen, dass nicht jeder für das Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen empfänglich ist. Es sind Menschen, die sehen, dass das Leben Austausch ist, dass einer vom anderen lebt und dass es kein Makel ist, dass es so ist. Menschen, die sehen, dass die Menschen unterschiedlich sind, Individuen, die unterschiedliche Träume, Ziele, Absichten, Emotion, Gedanken und Intuitionen haben, die sich bei aller Verschiedenheit aber dennoch als eins mit den Menschen fühlen, manchmal auch mit den Tieren oder allen fühlenden Wesen und die sehen, dass alles zusammen gerade dann weiter kommt, wenn jeder seine Stärken findet und mit Lust leben kann. Einheit in der Vielheit wird das manchmal genannt. Das alles ist noch immer ein rationales Spiel. Es ist die reife Rationalität, die sich in dieser Form von einer reifen Version des Pluralismus kaum unterscheidet und auch kaum, von der integralen Weltsicht. Sie alle wissen, dass man die andere Hälfte des Puzzles in sich findet, Innen und Außen verbunden sind und einander unablässig beeinflussen und hier sind die Überschneidungen größer, als die Unterschiede. Ein Weltbild des Kampfes ist etwas anderes als ein Kampf der Weltbilder. Beiden gemeinsam ist der Wunsch nach Verschmelzung, aber das ist eine andere Geschichte.

Quellen:

  • [1] Carsten, Psychologie-Magazin, 2. August 2017, https://www.psymag.de/10273/koerpersprache-profiler-onlineverhalten-wie-berechenbar-sind-wir/
  • [2] Mathieu von Rohr, Spiegel, 12.02.2022, 06.31 Uhr, https://www.spiegel.de/ausland/news-wladimir-putin-joe-biden-ukraine-russland-china-antony-blinken-amanda-knox-a-4b90e479-34e2-494c-b137-9349899f1f46