
Das ist unsere Welt … © Lenny K Photography under cc
Aktuell gibt es Krisen, wohin man schaut, die man auch als Kampf der Weltbilder deuten kann. Eine Annäherung an eine ungewohnte Sichtweise.
Der Höhepunkt der Omikronwelle scheint so eben überschritten, da droht im schlimmsten Fall ein Krieg zu entbrennen. Plus andere Probleme im Hintergrund, die nicht einfach aufhören, nur weil sie aktuell weniger Beachtung finden. Spaß macht das nicht, aber was sich da gerade einruckelt, kann auch als ein Art plattentektonische Bewegung der Weltbilder verstanden werden, mit allen Risiken und Nebenwirkungen.
Entwicklung ist kein linearer Vorgang
Entwicklung ist ein umstrittenes Konzept. Man weiß nicht, ob und welchem Rahmen es insgesamt eine Entwicklung zum Höheren gibt. In der Individualentwicklung setzt man es voraus, aber selbst hier gibt es immer wieder Phasen der Stagnation, der Regression, echte Entwicklungssprünge sind jenseits des 20. Lebensjahrs eher selten.
Betrachten wir die Gesamtsituation unseres Planeten ist das Bild noch wesentlich bunter, weil wir inzwischen eine Vielzahl verschiedenster Lebensformen auf unserem Planeten sehen, die alle zeitgleich stattfinden und alle ihre eigenen Weltbilder haben, die zum Teil kaum zusammen zu passen scheinen, wir werden sie kurz skizzieren.
Zig Systeme, die sich überlagern, verstärken, hemmen, in die Quere kommen oder sich kaum bemerken und es ist schwer daraus eine Essenz zu ziehen, zu zerfasert scheint alles zu sein. Dazu kommt noch eine Phase der demografischen, geopolitischen Neuausrichtung, deren Zeitzeugen wir gerade sind, verbunden mit einer neuen Rolle von multinationalen Konzernen und einem Hereinragen des Cyberraums in unser aller Leben.
Die andere Seite ist die: Egal wie zahlreich und unzusammenhängend die Komponenten zu sein scheinen, wie durch Zauberhand stellt sich doch immer wieder eine neue Phase der Ordnung ein. Manchmal durch den Zerfall, auf Ordnungsstufen, die vorher bestanden, die Regression. Ein anderes Mal durch das plötzliche Auftauchen ganz neuer Ordnungsstrukturen, die man Progression, Emergenz oder auch Transzendenz nennen kann.
Das Verhältnis vom Individuum zum Weltbild
Das Verhältnis vom Individuum zum Weltbild ist wechselseitig. Ich definiere Weltbilder als die Summe der gegenwärtigen, dynamischen, bewussten und unbewussten Einstellungen darüber, wie die Welt und die Beziehungen ihrer Bewohner untereinander interagieren.
Weltbilder geben dem Individuum Sinn und Orientierung. Sie dienen uns bei einer der wichtigsten Aufgaben überhaupt, nämlich die verwirrende Gesamtheit dessen, was uns umgibt, zu verstehen. Dafür werden die Gesamtzusammenhänge auf eine Ebene reduziert, auf der das Individuum Antworten auf seine Fragen danach findet, warum das alles so ist, wie es ist. Da die Menschen verschieden sind und Welt unterschiedlich komplex verarbeiten können, gibt es mehrere Weltbilder als Angebote zur Auswahl.
Man kann sie ab einem gewissen Alter wählen, wie man lustig ist, da wir freie Wesen sind. Auf der anderen Seite können wir natürlich nur jene Weltbilder wählen, die für uns nicht so banal sind, dass ihre Antworten und primitiv und unangemessen vorkommen, denn so ein Weltbild würde mehr Verwirrung als Ordnung stiften. Es darf auf der anderen Seite auch nicht so kompliziert sein, dass wir ständig überfordert sind, dann verstehen wir die Welt nämlich auch nicht und fühlen uns obendrein unwohl und überfordert. Insofern ist die Wahl unseres Weltbildes aus dieser Sicht schicksalhaft, wir können nicht anders, obwohl wir frei sind.
Unsere Freiheit bleibt jedoch erhalten, denn wenn das Weltbild nicht mehr passt, merken wir das. Wir haben nicht mehr das Gefühl der ersten Phase im neuen Weltbild, nun endlich zu wissen, wie die Welt funktioniert, sondern finden uns zunehmend zweifelt, gespannt und am Ende fast zerrissen vor. Es gibt nun zwei Richtungen, in die es weiter gehen kann. Entweder das Gezerre einer anderen Deutung, die in die Schwachstellen und Erklärungslücken des bisherigen Weltbildes fällt, wird mit der alten Weltsicht integriert und ein neues Ganzes emergiert. Oder dies gelingt nicht, man bleibt zerrissen oder sinkt zurück auf frühere, eigentlich überwundene Muster, das ist die Regression.
Der Transport der Weltbilder ist abhängig von den Individuen, die sie teilen. Wenn einer von 8 Milliarden Menschen irgendwo sitzt und verstanden hat, wie das alles funktioniert und vor allem besser funktionieren könnte, dann bringt das wenig, wenn niemand diesen Ansatz versteht und teilt. Er wird niemals in Praxis verwandelt. Je komplexer die Weltbilder werden, umso mehr spielt es eine Rolle, dass ihre Teilnehmer sie wirklich durchdringen und verstehen, man kann nicht alles erklären und vorschreiben. Je mehr ein Weltbild ventiliert wird, je mehr seine Prämissen und Narrative geteilt werden, um so stärker wird es.
Die Akteure
Wir wollen die krisenhafte Situation mit Blick auf die beteiligten Weltbilder beschreiben. Viele kann man problemlos wiedererkennen. Am schwierigsten zu erkennen ist das Weltbild in dem unsere Gesellschaft gerade mehrheitlich steckt, weil genau das, aus psychologischen Gründen kaum als Weltbild zu erkennen ist, man denkt statt dessen, die Welt sei so. Ein Weltbild, das haben die anderen, man selbst sieht, wie die Dinge eben sind. Genau dieses Gefühl ist jedoch das, was uns ein Weltbild vermittelt, wenn es gut funktioniert.
Das mythische Weltbild
Also blicken wir zunächst auf eines, was wir leichter erkennen können, das mythische Weltbild. Oft wird es mit einem religiösen Weltbild gleichgesetzt, was nicht ganz zutrifft. Religion kann ein Teil des mythischen Weltbildes sein, das wesentlich dadurch geprägt ist, dass es eine klare hierarchische Ordnung gibt. Eine unbestreitbare Autorität: Gott, ein religiöser Führer, der mehr oder weniger direkt mit der Gottheit in Kontakt steht, aber auch eine ideale oder utopische Idee oft verbunden mit einem charismatischen Führer definieren ein klares Ziel, mit klaren Regeln und das beste, was das Individuum tun kann, ist die überlegene Autorität anzuerkennen und sich treu in ihren Dienst zu stellen.
Das wirkt einerseits vollkommen unzeitgemäß, gerade auch angesichts der Krise der Religion in Europa, auf der anderen Seite kann man mit Unbehagen spüren, dass das Verlangen nach klarer und manchmal sogar autoritärer Führung auch in Deutschland wächst. Mindestens ist man in wachsendem Maße misstrauischen gegenüber unseren Institutionen, der Bürokratie, der Wissenschaft, der Politik und auch gegenüber der Demokratie. Das mythische Weltbild ist zielgrichtet, oft klar in seinen Rollen und Anforderungen, es wirkt kraftvoll und vital und versorgt uns mit Sinn und Ziel.
Das reife, rationale Weltbild
Das rationale Weltbild verkörpert die Verlockung der Aufklärung. Durch die Kraft der Einsicht und Vernunft entwickelt sich die Menschheit immer weiter, ersetzt alte mythische Bilder durch moderne Erklärungen, aus diesen entsteht ein neues Verständnis der äußeren und inneren Natur und je mehr wir diese verstehen, umso klüger können wir sie zu unserem Wohl nutzen, wobei der Weg ambivalent oder dialektisch ist. Fortschritte auf dem einen Gebiet können mit zwischenzeitlichen Rückschritten auf einem anderen einhergehen, aber unterm Strich sollte die Welt durch die Rationalität immer besser werden.
Die rationalen Visionen führten durch die Jahrhunderte zu einem neuen Menschenbild, zu einer neuen Sicht auf die Zusammenhänge der Natur, zu neuen Erkenntnissen die in der Spitze und Breite in Praktiken und Gerätschaften umgesetzt wurden. Wissenschaft und Technik dominierten die Weltsicht. Ihre Erfolge waren bahnbrechend und so fiel es lange Zeit nur wenigen auf, dass die Deinstallation der alten Narrative und Mythen mehr war, als ein wenig alten Staub zu beseitigen. Mahner gab es durchaus, verstehen konnte oder wollte man sie nicht, zu überzeugend der Siegeszug des Neuen.
Das degenerierte, rationale Weltbild

… und das auch. © Güldem Üstün under cc
So fiel auch nicht auf, dass durch die Jahrzehnte die breite Version der reifen Rationalität, die die innere und äußere Natur verbinden sollte, immer mehr zugunsten einer interpretatorischen Schmalspurversion abgelöst wurde, die allerdings den Interpreten viele Vorteile brachte. Man konnte sich ungeheuer fortschrittlich fühlen, praktische Erfolge ließen sich weiterhin herzeigen, aber von Kants Staunen
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ (Immanuel Kant)
ging man nach und nach zum Vergessen des Zweiten über. Der Blick wurde zunehmend nach Außen, ins Reich des Messbaren und Materiellen verlegt, auch wenn die Materie selbst sich als immer verrückter erwies. Doch es galt, dass jede gute Erklärung irgendwie über das Außen laufen musste, die Materie. Rezeptoren, Neurotransmitter und Gehirne hier, Wachstumszahlen und Gelder dort und noch die Forderung nach Umverteilung des Besitzes verharrt zu oft auf der Ebene des Materiellen, wenigstens bei der Überzahl der Anhänger.
Moral galt fortan nur noch als altbacken. Für die Linke ein Herrschaftsinstrument, für die Rechte etwas, was für das Raubtier Menschen ohnehin nicht existiert, für die Wissenschaft nichts, was man einfach messen konnte und für die zwischenzeitlich einflussreiche Biologiefraktion unter den Szientisten ein religiöser Rest, von unseren egoistsichen Genen nicht vorgesehen und die wirtschaftswissenschaftlichen Modellrechnungen kreierten mit dem Homo Oeconomicus eine rationalen Agenten, den es so nie gab, der aber prima zum biologischen Zerrbild passte.
Die Skeptiker vom Schlage eines Nietzsche, Horkheimer und Adorno sollten Recht behalten. Aus der stolzen Version der Aufklärung ist ein degenerierter Funktionalismus geworden, bei dem der Fortschritt ohne Sinn und Ziel zum Programm wurde und wir wollten es die längste Zeit nicht sehen. Längst hat der Mensch sich den Bedürfnissen der Wirtschaft, der Cyberwelt und seltsamer, zum Moralismus degenerierten Vorstellungen anzupassen, weil man das moralische Gesetz in mir und nach und nach die gesamte Bedeutung der Innenwelt aus dem Blick verlor.
Die vermutlich verbreitetste Version eines Weltbildes bei uns, ist ein degenertiertes mythisch-rationales, bei dem es völlig in Ordnung scheint, kein Ziel außer weiterem Fortschritt zu haben und alle Fragen nach Sinn und Moral als Firlefanz anzusehen, weil bei uns doch alles prima und so viel besser als anderswo funktioniert. Doch diese Lesart verliert immer mehr an Strahlkraft und Anhängern.
Gefallene Engel: Ein seltsamer Pluralismus
Es gab durchaus Strömungen, die die Reduktion des Rationalismus auf einen schnöden Funktionalismus erkannten und kritisch kommentierten. Es entstand ein empfindsames Selbst, ein ausgesprochen reifes Weltbild, das erkannte, dass mein Wohl vom Wohlergehen der Um- und Mitwelt abhängt und dass man sich nicht nur an die Starken, die Big Player anpassen musste, sondern dass auch die vermeintlich Schwachen zu ihrem und unserem Wohl angehört werden mussten und auch an jene Wesen und Systeme mitgedacht werden sollten, die keine eigene Stimme haben, die wir verstehen. Es ist nicht besonders schlau, an dem Ast zu sägen, auf dem man sitzt, selbst wenn die Säge toll funktioniert.
Also sind Umsicht, Vorsicht und Rücksicht geboten, damit es allen gut gehen kann, nicht nur einigen wenigen, deren Zahl immer kleiner, aber deren Einfluss immer größer wird. Doch die pluralistische Version ist vielleicht noch mehr zerfallen als der Rationalismus und sich dabei selbst oft untreu geworden.
So ist der Pluralismus ganz unpluralistisch zum politischen Pluralismus geworden, der sich für allerlei Buntheit und Vielfalt einsetzt, diejenigen, die anderer Meinung sind, aber gerne aus dem Diskurs heraushalten möchte. Würde der Pluralismus sich offen dazu bekennen die bessere Idee zu vertreten, könnte er in diese Richtung argumentieren, aber in der Regel ist der Pluralismus außerdem ausgesprochen hierarchiefeindlich. Statt dessen wird oft die Idee vertreten jeder habe Recht, aber dann müsste das auch für die gelten, die mit dem Pluralismus nichts anfangen können oder wollen. Statt dessen müsste man heraus arbeiten, welche Hierarchien, aus welchem Grund gut sind und welche nicht.
Doch wird an die Stelle von Argumenten oft ein unerträglich anmutender Moralismus gesetzt, der eine Art Identitätspolitik ist, also eine bestimmte Gruppe in den Fokus rückt, die nun mit der gefühlten oder realen alten Ordnung abrechnen möchte. Gegen Rassismus, gegen Sexismus, gegen Umweltzerstörung, gegen Nationalismus, aber einäugiger als es sich eine an sich hoch entwickelte Einstellung erlauben darf, so dass durch die Hintertür oft diverse Positionen toleriert werden, die das Kind mit dem Bad ausschütten und sich primär in einem Überlegenheitsgestus gefallen, den sich nicht ausformulieren wollen und können.
Europas moderne Mythen
Die Brille durch die man schaut, ist die, die man nicht sieht, egal, wie gründlich man guckt. Die bei uns vermutlich häufigste Form ist ein Mythos der gut geölten Maschine oder vom großen Nutzen. Es ist ein mythisch-rationales Weltbild, das heißt, man glaubt nicht mehr wirklich an einen Gott oder großen Führer, aber an die übergeordnete Idee vom großen Nutzen und einer übergeordneten Rationalität, wie an einen Mythos. Wenn man die große Maschine versteht, kann man die Welt beeinflussen, die aber ansonsten, wie eine aufgezogene Uhr auch ohne uns abläuft.
Je mehr man versteht wie alles funktioniert, umso eher kann man sich an den Mechanismus anpassen und erntet Fortschritt. Nutzen und Funktion stehen als Begriffe im Zentrum und bilden die gedankliche Vorlage für Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und unser Menschenbild. Kants moralisches Gesetz in mir hatte man schnell wieder vergessen und damit auch seine Ausformulierungen, dass man den anderen nicht nur als Mittel zum Zweck gebrauchen sollte. Unser Gegenüber sollte also nicht nur nützlich sein, sondern in seiner Würde als Mensch gesehen werden.
Was wir tun, ist das Gegenteil. In Fernsehformaten bekommen wir die Bewertungsmanie zu spüren, ob jemand singt, tanzt, Kleider vorführt, einkauft oder für andere kocht, er oder sie wird dafür bewertet. Alles hat seinen Preis und jeder wird schnell gescannt, damit man ja kein Wagnis eingeht. Im Geheimen tauscht man Nacktbilder, damit man weiß, woran man ist, als neue Währung oder weil es heute eben dazu gehört. Der Sex wird zunehmend ins virtuelle Reich verlegt, das ist unverbindlicher. Für Kochen, Joggen und Sex hat man seine jeweiligen, ausgewählten Nützlinge.
Wir finden das normal und optimieren uns selbst, die Konkurrenz schläft nicht, so haben es viele schon als Kinder gelernt. Wettkampf ist okay, bei Kindern geschieht er aus Lust, aber wofür ein Leben lang und in jeder Lage? Wo ist der andere Raum, wenn die Arbeit ein Wettkampf ist, der Sex ein Wettkampf ist und schon im Amateursport, der mal aus Lust praktiziert wurde, inzwischen Doping- und Schmerzmittel längst dazu gehören? Wo ist der Raum für Ruhe, Muße und Entspannung? Auch Entspannung muss heute effektiv sein, schnell gehen: Power Napping.
Am einfachsten findet man das neue Normal genau dann normal, wenn man sich ganz rational selbst überzeugt, dass die Welt eben so ist. Ein ewiger Wettkampf, in dem der Zweite der erste Verlierer ist. So ist es ja auch in Schule, Wirtschaft und der Natur. Das Leben als Strategiespiel.
„Naturgemäß waren auch die Kriminalpolizei und das Militär daran interessiert, zu erkennen, wie Menschen ticken. Teil der Strategie war, am besten schon im Vorfeld zu erkennen, wie sich jemand unter bestimmten Bedingungen verhalten würde. Ein weiterer Versuch des Zugriffs auf die Black Box, die das Innere des Menschen nach Ansicht der Behavioristen unter den Psychologen sein sollte.
Auf militärischer Seite und auch bei Konzepten der Kriminalpsychologie versuchte man vor allem mittels der Spieltheorie das mögliche Verhalten der jeweils anderen Seite vorherzusehen und in die eigenen Strategien mit einzuberechnen. Frank Schirrmacher machte in seinem Buch „Ego: Das Spiel des Lebens“ deutlich, dass diese militärische Sicht auf das Verhalten des Menschen zunehmend auch andere Lebensbereiche erfasste und zu einer Algorithmisierung des Menschen führte.“[1]
Die Smart-Watch, die Fitness-App, all das hilft uns, uns weiter zu optimieren: für wen oder was noch mal?
Die Weltbilder des gespaltenen Europa

Eine Frage der Perspektive. © [●] wim goedhart under cc
1990 siegte der Kapitalismus über den Kommunismus, doch das führte nicht zu einem Ende der Geschichte. Jürgen Habermas schrieb ein Buch mit dem Titel Der gespaltene Westen bereits im Jahr 2004. Seit dem ist die Spaltung Europas, unter freundlicher Mithilfe der USA und Russlands weiter vertieft worden. Es geht gar nicht darum Europa auf eine bestimmte Seite zu ziehen sondern es reicht die Spaltung als solche.
Wir wollen es nicht wahr haben, weil wir Zeitzeugen einer 500 Jahre währenden Ära sind, aber der Eurozentrismus, die alte Normal kommt genau in diesen Jahren an sein Ende. Europa wird unwichtiger, weil es älter wird, demografisch schrumpft, es wird zunehmend uninteressanter und zur Verhandlungsmasse. Peter Scholl-Latour spricht von einem Ende der weißen Weltherrschaft. 2006 schreibt Gunnar Heinsohn, Amerika sei ein Riese auf tönernen Füßen, wir erleben längst eine Neuausrichtung der Kräfteverhältnisse.
„Die USA möchten über China reden. In der Eskalation um die Ukraine müssen sie sich stark auf Europa und Russland konzentrieren. Doch das kommt der US-Regierung eigentlich nicht gelegen – und vielleicht ist es auch eins der letzten Male, dass die USA sich in Europa so zielgerichtet engagieren. Denn eigentlich möchten sie sich ganz und gar auf den eigentlichen Widersacher konzentrieren: Peking.“[2]
Wir kommen darauf zurück.
Das gespaltene Europa brachte zwei Typen als extreme Pole hervor. Zum einen jene Weißen, die sich überall auf der Welt gegen ihren Bedeutungsverlust stemmen, zum anderen eine Gruppe, die auch diese Wachablösung feiert. Die einen wirken konservativ, bei SINUS finden wir sie als Nostalgisch-Bürgerlich, Traditionelle und Konservativ-Gehobenes Milieu, ihnen gegenüber stehen Performer, Expeditive, Post-Materielle und Neo-Ökologische. In der Mitte Adaptiv-Pragmatische und ein Konsum-Hedonistisches Milieu, das sich anpasst.
So unterschiedlich und zerstritten die Lager zu sein scheinen und mitunter auch sind, so sind sie, was das Weltbild angeht, nahe bei einander. Ken Wilber zeigte recht überzeugend, dass das grüne Mem, der seltsame Pluralismus, zum fiesen grünen Mem (mean green meme) werden kann, dadurch, dass der Werterelativismus (‚auf seine Art hat jeder Recht‘) schnell zum Wertebnihilismus wird (‚wenn alle Werte gleich gut sind, spielen Werte ohnehin keine Rolle‘) und von da aus ist es nicht mehr weit zum Narzissmus (‚wenn Werte keine Rolle spielen, will ich wenigstens Spaß haben‘). Anders ausgedrückt: Wer ‚das moralische Gesetz in mir‘ vernachlässigt, erntet Narzissmus. Der psychologische Gegenpol des Narzissmus ist die paranoide Einstellung und vielleicht durch die neuen Unsicherheiten in der Tektonik der Macht, sieht man bei den Konservativen, als auch bei den Progressiven und bei den angepassten Adaptiven, Regressionen der Masse und Gruppen und die Frage: Macht Angst die Menschen gefügig? zwischen narzisstischer und paranoider Einstellung. Mal fühlt man sich auserwählt und besonders, dann wieder verfolgt und als Opfer. In unseren manchmal seltsamen Zeiten leitet man aus dem Umstand sich als Opfer zu fühlen, eine Besonderheit ab. In der Mitte stehen die smart Anpassungsfähigen, denen Werte ohnehin relativ egal sind und auch der schlanke Opportunismus ist eine Variante narzisstischen Verhaltens.
Auf den ersten Blick hat man hier umweltbewegte und sozial engagierte Kosmopoliten und auf der anderen Seite Menschen, die sich oft überrannt, vergessen und manchmal verachtet vorkommen, doch der selbstgerechte Moralismus mit der neuen Freude an Regeln und Verboten auch im ehemals linken Lager (das für das Gegenteil stand) wirkt nicht so wahnsinnig fortschrittlich und entwickelt, wohingehen die Rechte, die immer Law and Order wollte, sich gerne als Freiheitskämpfer darstellt. Das Freiheitsnarrativ auf der Rechten ist zwar keinesfalls neu, Götz Aly hat es herausgearbeitet. Es sind oft Neid, die Freiheit als Gleichheit in der materiellen Versorgung und am ein merkwürdiger Hang zum Kollektivismus. Der Kollektivismus wurde inzwischen jedoch von der Werbeindustrie geschickt umformuliert. So können sich noch die Angepasstesten als echte Freiheitskämpfer fühlen, wenn sie sich so verhalten, wie die Mode es für Individualisten vorschreibt. Diejenigen die darauf pfeifen, interpretieren ihre Freiheit oft als die Willkür gegen all das zu sein, was sie als moralisches oder gesetzliches Verbot erleben (wollen), so dass sie zwischen Trotz und Opferidentität pendeln. Dass es hier zu allerlei Zwischenstufen und Überlappungen kommt, sieht man immer wieder, wenn Lager zusammenfinden, die angeblich gar nicht zusammen passen.
In der Ansicht, dass es nicht darum geht andere zu überzeugen, sondern zu zwingen, sind sich die meisten einig. Macht über das Argument zu stellen, ist aber nichts anderes als ein erneuter Rückfall hinter die Aufklärung. Doch wenn man sich lagerübergreifend einig ist, dass Moral, Ethik und Gewissen etwas aus der Zeit gefallen sind und das es statt dessen auch Follower und Verbreitung ankommt, bekommt man keinen Fuß in die Tür. Denn aus der Perspektive folgt sogleich die Praxis. Wenn ich immer mehr Menschen davon überzeuge, dass Moral etwas ist, was einen zum Grinsen bringt, dann wird das irgendwann auch Lebensrealität. Der Transport der Weltbilder ist abhängig von den Individuen, die sie teilen.
Der Kampf der Narrative und seine Emergenz: Das integrale Weltbild
Es gibt nicht die eine, richtige Erklärung. Das ist der Wunsch einer Weltsicht, die alles verstehen möchte, doch das ist in einer Situation mit einigen, sich überschneidenden Weltbildern, die alle ihre Wahrheit haben, nicht zu haben. Einfache Erklärungen werden einer komplexen Welt zwar nicht gerecht, aber sie verfangen dennoch, denn sie machen die Welt verstehbar. Man müsste einfach nur … und dann kommt das eine Rezept, das die Welt garantiert besser machen würde. Nur, dass nicht jeder Lust hat, nach diesen Rezepten sein Leben ein- und auszurichten.
Aber könnte man nicht die besten Ideen kombinieren? Genau das ist die Idee des integralen Weltbild, das im Grunde wenig eigene Impulse setzt, aber versucht die starken Seiten aller Vorgänger aufzunehmen und zu kombinieren. Denn das ist der Haken der Weltbilder, sie können einander nicht leiden und noch der Pluralismus des empfindsamen Selbst findet alle Vorgänger kalt, unempathisch und rüpelhaft. Doch zu verwerfen sind im Grunde nur die einseitig gewordenen Versionen. Smarte Organisation ist toll, aber eine Überbürokratisierung ist lähmend für die Kreativität und absolut nervtötend im Alltag, wenn man Zwangsstörungen nicht zu seinem Hobby gemacht hat.
Der reife Rationalismus eines Kant, der Ehrfurcht gegenüber dem Sternenhimmel und dem Moralgesetz empfinden konnte, kann dem reifen empfindsamen Pluralismus, der wirklich alle ernst nimmt und Wort kommen lässt, statt zum politischen Programm und zur eigenen Blase zu werden, problemlos die Hand reichen. Dass es kein Fehler ist, mal wieder – ganz mythisch – ein Ziel zu definieren, statt Menschen zu erklären, dass es ihnen immer besser geht, sie es nur einfach nicht merken, wäre auch nicht so dumm. Zugleich den Einzelnen motivierend und die Einzelnen zu einer Gemeinschaft verbindend. Denn auch das ist die Stärke des mythischen Weltbildes, dem Ich über die Fixierung auf sich hinaus zu helfen, denn sagen wir, wie’s ist, Narzissmus macht unglücklich, ist bereits ein Kompensationsmechanismus, vom Menschen, die grandios wirken (wollen), weil sie fürchterlich unsicher sind. Aber nicht jedes Wollen ist ungesund narzisstisch, es ist ein Vorteil gewesen, seine Individualität zu leben und gehen wir noch mal zu Europa, das Geschenk von Europa an die Welt ist die mühsam errungene Erfindung des Individuums. Es sollte als solches verstanden werden. Der Individualismus selbst entspringt einer Situation der soliden Versorgung, die für alle gesichert sein sollte, wenngleich sie nicht das höchste Ziel ist.
Das sind schon die positiven Eigenschaften, die das integrale Weltbild in sich vereint, indem es aus dem Kampf der Weltbilder ein Miteinander macht. Ein durchaus komplexes Spiel, aber eines, was heute immer mehr Menschen verstehen und durchdringen. Das ist gut, denn auch hier gilt, dass der Transport der Weltbilder abhängig ist, von den Individuen, die sie teilen. Man hört immer mehr integrale Stimmen. Es ist dabei völlig egal, ob sie sich inhaltlich auf eine integrale Theorie beziehen, es reicht, dass man erkennt, dass sie zu integralem Denken in der Lage sind und es ist gut, dass sie ihre eigenen Schwerpunkte setzen.
Gefallene Großmächte

Wenn alle gleich denken, gibt es keinen Streit. Meinen manche. © monkeywing under cc
Die NATO gegen Russland heißt es derzeit wieder, als hätte man die Zeit zurück gedreht. Dabei ist manches anders geworden, denn die Karten werden neu gemischt. Obamas Wort von der Regionalmacht Russland findet vielleicht gerade sein Echo, aber im Grunde ist Russland allenfalls noch eine militärische Großmacht und vor allem was die Fläche angeht unglaublich groß. Die Zahl der Einwohner ist eher gering, 145 Millionen Einwohner, darunter 20 – 25% Turkvölker, die nicht als linientreu gelten.
Die 330 Millionen US-Amerikaner bestehen zu 60% aus weißen Menschen, Tendenz sinkend. 1412 Millionen Einwohner hat China – bei weitem mehr als Eurapa, die USA und Russland zusammen –, dicht gefolgt und bald überholt von Indien. China ist längst Atommacht, hat eine autoritäre Führung und vermutlich die derzeit leistungsstärksten Supercomputer der Welt. Es gibt die Idee, dass China und Russland gegen den Westen kooperieren, auf der Basis einer Strategie der Superrechner. Andere Stimmen sagen, die USA bräuchten Russland mittelfristig gegen China, man wird sehen, wohin die Reise geht.
Neben einer Ablösung der Großmächte kommt durch die Möglichkeit des Cyberwars noch eine ganz andere Ebene ins Spiel. Alles hängt heute am Internet und das heißt, ist ein potentielles Angriffsziel. Probeläufe sieht man überall, ständig wird irgendwo ein Teil der Infrastruktur lahmgelegt. Hier ein Krankenhaus, da eine Stadtverwaltung, es könnte aber auch mal ein Atomkraftwerk oder das ganze Stromnetz sein.
Aber das ist nicht alles, denn via Internet könnten nicht nur neue Narrative gestreut werden, das ist längst der Fall. Was ist Propaganda, was nicht und kann man es überhaupt noch erkennen? Eines der neuen Narrative lautet bereits, dass ohnehin überall gelogen wird, also ist es, wenn man meint, dass sowieso alle Welt moralisch völlig enthemmt ist, auch kein Problem, wenn man selbst Fake News streut wo immer es geht. Hauptsache sie erzielen die beabsichtigte Wirkung. Man hat sich bei der Frage nach Wahrheit oder Macht dann völlig auf die Seite der Macht geschlagen. Auch hier es ist, es so, dass je mehr Menschen daran glauben, dass Wahrheit und Aufrichtigkeit eine naive Idee sind, das komplett amoralische Weltbild immer stärker wird. Das Leben ist dann ein Kampf, jeder versucht den anderen geschickt zu übervorteilen. So ist es eben, das Leben, denkt man dann, so war es immer schon, hier zeigt es sich nur wieder einmal. Ein faschistisches Narrativ, die Vision vom nie endenden Kampf. Der Kampf der Weltbilder ist ein anderer, da hier auch solche dabei sind, in denen der Kampf nicht ein und alles ist.
Nicht nur Staaten spielen mit, beim ewigen Kampf, auch multinationale Großkonzerne sind längst mächtige Akteure, auch ihr Antrieb ist Konkurrenz. Partnerschaft und Kooperationen haben allenfalls einen strategischen Sinn und wenn das die Leitidee ist, wirkt sie natürlich bis hinein ins Privatleben. Das Private war den mächtigen Akteuren daher immer schon suspekt, es sollte kontrolliert werden. Es war und ist neben der Liebe der große Feind, Spiritualität ist ein weiterer andere, auch die Gedanken sind (manchen zu) frei, umso besser, wenn man sie mit Algorithmen und einem Belohnungs- und Bestrafungssystem lenken kann. Freiwilliger als heute hat man sein Privatleben und seine Freiheit jedoch nie preisgegeben. Wozu wissen, was jemand denkt und will, wenn man machen kann, was jemand denkt und will?
Zwei Enden des Spektrums und ein gemeinsamer Wunsch
Es ist schon einigen aufgefallen, dass hinter dem Kampf und der Zerstörung des anderen ein, wenn auch pervertierter Wunsch nach Einheit steckt. Eine Einheit, aus Not und Neid gespeist. Was ich nicht kriegen kann, soll auch kein anderer haben. Tod und Zerstörung sind Gleichmacher. Die Einheit begegnet uns immer wieder als Motiv, doch verwandelt in der Form. Der nicht bösartige Narzisst wünscht sich auch die Einheit einer perfekten Welt. Einer Welt, in der alle das wollen und so sind, wie er. Der Narzisst will lauter Kopien von sich erstellen.
Der mythische Wunsch nach Einheit ist anders gefärbt. Es wäre gleichermaßen gut, richtig und auch bequem, wenn alle das gleiche Ziel verfolgten. Eine kitschig-naive Version einer Welt in der es keinen Streit gäbe, weil ja jeder vom anderen weiß, dass auch er der einen großen Idee nacheifert und sich dieser im Zweifel auch opfert, in jedem Fall aber unterordnet.
Das tun wir heute auch, wir Träger der mythisch-rationalen Brille. Wir optimieren uns freiwillig, weil die Idee so gut ist, ganz vorne mit dabei zu sein. Die andern wollen das auch, aber ich zeichne mich dadurch aus, dass ich eben ein bisschen smarter bin oder zäher. Ich schlafe weniger und trainiere härter, ich weiß wie es geht, ich habe meine Netzwerke, ich bin vielleicht nicht in einer Einzeldisziplin der Beste, aber in der Summe der relevanten Qualitäten, bei den Big Points, bin ich überall oben mit dabei und das ist es, was am Ende zählt. Warum? Weil das Leben nun mal so ist, da braucht man sich nichts vorzumachen. Unnötige Fragen lenken nur ab, es heißt fokussiert zu bleiben. Hier finden wir die Einheit im Wettkampf. Es sind alle so und wer es nicht ist, spielt keine Rolle und wird aussortiert. Moral ist nett, ein nice to have, solange sie die Geschäfte nicht stört.
Es gibt Menschen, die anders denken, weil sie wissen und erlebt haben, dass es mehr gibt, als die Jagd nach Erfolg, als ein Leben, das ein Strategiespiel ist. Es sind Menschen, die Argumenten etwas zutrauen, obwohl sie wissen, dass nicht jeder für das Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen empfänglich ist. Es sind Menschen, die sehen, dass das Leben Austausch ist, dass einer vom anderen lebt und dass es kein Makel ist, dass es so ist. Menschen, die sehen, dass die Menschen unterschiedlich sind, Individuen, die unterschiedliche Träume, Ziele, Absichten, Emotion, Gedanken und Intuitionen haben, die sich bei aller Verschiedenheit aber dennoch als eins mit den Menschen fühlen, manchmal auch mit den Tieren oder allen fühlenden Wesen und die sehen, dass alles zusammen gerade dann weiter kommt, wenn jeder seine Stärken findet und mit Lust leben kann. Einheit in der Vielheit wird das manchmal genannt. Das alles ist noch immer ein rationales Spiel. Es ist die reife Rationalität, die sich in dieser Form von einer reifen Version des Pluralismus kaum unterscheidet und auch kaum, von der integralen Weltsicht. Sie alle wissen, dass man die andere Hälfte des Puzzles in sich findet, Innen und Außen verbunden sind und einander unablässig beeinflussen und hier sind die Überschneidungen größer, als die Unterschiede. Ein Weltbild des Kampfes ist etwas anderes als ein Kampf der Weltbilder. Beiden gemeinsam ist der Wunsch nach Verschmelzung, aber das ist eine andere Geschichte.
Quellen:
- [1] Carsten, Psychologie-Magazin, 2. August 2017, https://www.psymag.de/10273/koerpersprache-profiler-onlineverhalten-wie-berechenbar-sind-wir/
- [2] Mathieu von Rohr, Spiegel, 12.02.2022, 06.31 Uhr, https://www.spiegel.de/ausland/news-wladimir-putin-joe-biden-ukraine-russland-china-antony-blinken-amanda-knox-a-4b90e479-34e2-494c-b137-9349899f1f46