Der blinde Fleck des Westens

Oder so? Die Skyline des Ruhrgebiets. © Huub Janssen under cc
Wenn Lösungen gesucht werden, ist es nötig, dass man sich auch, aber nicht allein, an die eigene Nase fasst. Auch hier findet man das ganze Deutungsspektrum eines monströsen, kriegslüsternen, dekadenten und rein konsumverseuchten Westens, bis hin zur letzten tapferen Schutzmacht, die eigentlich alles richtig macht.
Europa ist nicht Amerika und bei uns gibt es neben der Notwendigkeit verschiedene Sprachen und Kulturen zu integrieren, sicher Probleme mit einer bürokratischen Überregulierung und dass der Westen sehr vieles durch die Markt- und Konsumbrille betrachtet, wird man schwer abstreiten können, es ist oft genug beschrieben und kritisiert worden.
Aus dieser achselzuckenden Geschäftemacherei mit einer Korruption zwischen Politik und Wirtschaft, der im Zweifel der Vorrang vor den Bürgern gebührt, ist auch eine immer häufiger kritisierte Doppelmoral hervorgegangen, es wurden große Reden geschwungen und wenig umgesetzt. So weit, so schlecht.
Der kardinale Fehler des Westens ist in meinen Augen, so gut wie jede Form der Innerlichkeit, zugunsten eines materialisitischen, äußeren und funktionalistischen Erklärungsansatzes über Bord geworfen zu haben. Allenfalls im Privaten, für die eigene Biographie und bei psychischen Problemen soll dem Blick auf die Innerlichkeit Bedeutung zukommen und äußere Manipulation ist ansonsten alles.
Wer so denkt, ist stark geneigt, diese Perspektive auch auf andere zu übertragen. Das führt zu einer Unfähigkeit sich vorstellen zu können, dass es noch etwas anderes gibt, als die eigene tiefgefühlte Überzeugung, dass jede Innerlichkeit Schnee von gestern und in keiner Weise ernst zu nehmen sei.
Der russisch-orthodoxe, machtpolitische und korruptionsdurchdrungene Mischmasch mag so seltsam und synkretistisch erscheinen, wie er vermutlich ist, aber das muss diejenigen, die davon zutiefst überzeugt sind (und auch noch die, die es nur taktisch gewählt haben) nicht jucken. Spätestens seit den Querdenkerphänomenen muss man sich klar sein, dass wirklich so gedacht wird und wenngleich da manches versponnen ist, so gibt es doch auch eine ernst zu nehmende Kritik an kühlen Funktionalismus unserer Zeit. Eine ähnliche Konstellation finden wir übrigens beim IS, der als hochreligiös gilt, doch einen Kern aus kühlen Machtstrategen, vermutlich aus Saddam Husseins Leibgarde, gemischt mit Stalinisten, besteht.
Mit anderen Worten: Die Annahme, dass doch niemand ernsthaft so denken kann, ist ein grober Fehler, der Rekurs auf einen mythischen, politsch-religiösen Mythos ist real. Bindet man diese Sicht mit ein, kann man vieles verstehen, was auf den ersten Blick widersprüchlich war. Das muss für die knappe Skizze reichen.
Diplomatie oder Kampf?
Wie so oft, ist das eine falsche Alternative. Es kann nur beides zusammen geben, worüber wollen die Ukrainer verhandeln, wenn sie nichts anzubieten haben, weil ihr Gegner sich nach Wunsch und ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, selbst bedienen kann?
Miteinander reden I: Erste Hilfe, Waffenruhe
Es muss ein Waffenstillstand her, unter allen Umständen, weil das Eskalationspotential des Krieges nach wie vor erheblich ist. Krieg geht mit einer Orgie an bewussten Lügen und Verdrehungen, sowie mit echten Vergehen auf beiden Seiten einher. Doch über diese Hürde muss man drüber, über kurz oder lang. Russland kann den Angriff stoppen, es hat ihn ja auch begonnen. Je nachdem wie gut oder schlecht es für Russland läuft, kann die NATO auch ein Interesse daran haben, Russland in einem Stellvertreterkrieg ausbluten zu lassen, was das Eskalationspotential mindestens für Europa stark vergrößert.
Miteinander reden II: Selbstkritisch und auf Augenhöhe
Der schwierige Teil ist, dass ein Dialog des Westens und des Ostens ansteht, bei dem die jeweiligen Mythen auf den Tisch müssen. Sie sollten darauf abgeklopft werden, ob nicht die andere Seiten mit ihrer Kritik nicht auch richtig liegt. Dem anderen Vorwürfe zu machen ist immer einfach, die des anderen auf sich wirken zu lassen und sei es nur in der Akzeptanz, dass man uns auch so sehen kann, ist es nicht.
Miteinander reden III: Gemeinsame Ziele
Wir haben inzwischen genügend Probleme auf der Welt, die den Ruf, dass wir sehr dringend, sehr stark an einem Strang ziehen müssen, nicht bloß als Floskel erscheinen lassen. Die Probleme sind bekannt, hängen zusammen und es gibt gute Lösungsansätze. Krieg gehört nicht dazu.
Kritische Begriffe
Wenn Lösungen gesucht werden, kann man durchaus mal in Vorleistung gehen, das heißt, versuchen die Kritik anzunehmen. Die politreligiöse Mythologie Russlands stellt sich vielfach als der buchstäbliche Antiwesten dar, der als dekadent angesehen wird, der Wahrheit und Irrtum nicht unterscheiden kann, der die Verirrung der Homosexualität normal findet und der den Glauben gegen Konsum ersetzt hat.
Konsumismus und Funktionalismus
Ich glaube, dass vollkommen richtig ist, den westlichen Konsumismus ernsthaft zu hinterfragen, der alles meint zur Ware machen zu können, bishin zu Beziehungen. Davor warnte bereits Kant, er ist vom Westen nicht erhört worden. Ich würde den Rahmen größer machen und den Funktionalismus kritisieren, der Konsumismus ist eher Verstärker und/oder Spezialfall.
Aber die Idee eines grenzenlosen Wachstums in einer begrenzten Welt ist immer wieder kritisiert worden, man kann sich auf Marx, den Club of Rome oder moderne Ökologiebewegungen berufen, es ist nicht klug, an dem Ast zu sägen, auf man sitzt. Freilich ist das russische System längst nicht mehr kommunistisch, sondern seinerseits stark kapitalistisch, nur profitieren davon die Oligarchen viel und die Normalbevölkerung wenig bis gar nicht.
Da das zunehmend aber auch bei uns im Westen der Fall ist, ist das Problem klar benannt, die Lösung aber nicht gefunden. Im Westen muss man funktionieren und sich anpassen, damit man fit und interessant für den Markt ist – der einen immer ungenügender versorgt – in Russland muss man eine Zelle oder ein Organ im Organismus Staat sein, ohne Chancen die Position zu verändern. Beides ist in der Form funktionalistisch.
Demokratie
Die Idee der Demokratie nach westlichem Vorbild wird von Putin abgelehnt. Er versteht darunter ein leeres Ritual in dem man Gesetze, Regel und Vorschriften anerkennen muss, die eine Unterwerfung unter die Gesetze der Demokratie verlangen.[3] Ziemlich genau das Gegenteil dessen, was der Westen unter Demokratie versteht.
Mit der Demokratie im Westen sieht es aktuell vielleicht auch nicht sonderlich gut aus und in einigen Ländern ist nicht unbedingt Demokratie drin, auch wenn es drauf gedruckt ist. Man kann hier vieles kritisieren, wird aber, wenn wir von uns ausgehen, noch immer gewaltige Unterschiede zu Russland finden, wenn wir auch die Freiheit der Meinung, der Presse, der Kunst und der Wahlen und den Grad an Korruption schauen.
Freiheit
Für Putin besteht Freiheit in der Idee ein Teil des ganzen Organismus zu sein und dieser Organismus ist Russland. Die Rolle, die man dabei spielt ist festgelegt, ein wenig, wie im indischen Kastensystem. Ob Putin das tatsächlich glaubt oder nur inszeniert, weil es praktisch für ihn ist, kann zumindest ich nicht sagen.
Die Idee, dass wir vom Schicksal an eine bestimmte Stelle im Leben gestellt wurden, ist mir jedoch weder unbekannt, noch – wenn eine bestimmte Flughöhe eingehalten wird – unsympathisch. Sie widerspricht stark unserem westlichen Denken, das vorgeschriebene Rollen und Schicksalverläufe ablehnt, zugunsten der Idee, dass jeder über sein Leben frei und selbst bestimmen können soll und am besten noch halbwegs gerechte Startbedingungen herrschen.
So ein Leben muss nicht zwingend traumhaft verlaufen, wie wir auch bei uns immer häufiger erleben, aber wenigstens sind wir es dann selbst gewesen. Doch auch diese Idee wird zunehmend kritisch gesehen, da man – oft nachvollziehbar – meint, dass die Startbedingungen bei uns inzwischen alles andere als gerecht seien. Immerhin werden diese als veränderbar angesehen, zumindest theoretisch, praktisch haben sich viele damit abgefunden, dass sich ohnehin nichts machen lässt. Letztlich eine Art Schicksalsglaube, ohne dass man an Schicksal glauben möchte.
Für beide Fälle besteht eine weitere Perspektive darin, dass man zwar an eine Stelle gestellt sein könnte, an der man zurecht steht, aber es besteht kein Grund zu glauben, dass diese Position unveränderbar sein muss. Wir wissen nicht genau, wie determiniert unsere Welt ist, aber gesetzt sie wäre es vollständig, die Freiheit würde erhalten bleiben, da wir ja nicht wissen, was kommt, sei es durch natürliche öder schicksalhafte Gesetze. Wir könnten frei sein und uns verändern. Dass keine andere Wahl bestanden hätte, wie Putin immer wieder mal über seine Entscheidungen sagt, wäre bezweifelbar, auch dann, wenn man schicksalhaft steht, wo man eben steht.