Dekadenz
Putin wirft dem Westen pauschal vor dekadent zu sein, sowie Wahrheit und Falschheit nicht mehr unterscheiden zu können. Ein Beispiel für ihn ist die Toleranz des Westens gegenüber der Homosexualität, die er mit Satanismus rückt.[4] Ein erheblicher Vorwurf, der bei uns vielleicht nicht so ernst genommen wird, weil Religion bei uns eine immer geringere Rolle spielt, da wirkt so etwas aus der Zeit gefallen, fällt damit aber möglicherweise auch in den oben beschriebenen blinden Fleck des Westens. Man könnte es als bloße Spinnerei. Provokation oder Homophobie abtun.
Damit und einem rigiden familiären Traditionalismus spielt er eine religiös-konservative Karte weist er auf eine schwache Seite Europas hin, die geringe Reproduktionsrate, die allerdings in Russland noch geringer ist. Zudem schätzen wir die Freiheit auch der sexuellen Selbstbestimmung hoch ein und ob ein weiteres Bevölkerungswachstum in einer Welt die jetzt schon ächzt, wirklich klug ist, sei dahin gestellt, die demographische Schrumpfung Russlands ist allerdings ein reales Problem und wie man ein kluges Management zwischen einer überalternden Bevölkerung in West- und Osteuropa, mit Altersarmut und Wohlstandverlust.
Dabei auf die Karte Religion zu setzen, ist immerhin nicht falsch, aber ob Freiheit und Selbstbestimmung bei uns wirklich ein Ausdruck der Dekadenz ist, ist eher zweifelhaft. Wir haben die Unterdrückung aus guten Gründen abgeschafft, aber bei sehr konservativen Menschen kann er damit punkten und in patriarchalen Systemen ist die Angst vor männlicher Homosexualität und untreuen Frauen die größte unbewusste Angst.
Gut und Böse
Nicht nur, aber auch aus diesem Punkt abgeleitet entspringt der zirkuläre Vorwurf, der dekadente Westen könne Gut und Böse nicht unterscheiden. Gleich einer Krankheit sei der Westen verseucht und so geht von ihm die Gefahr aus, Russland, bzw. Moskau, dem in dieser Erzählung eine besondere Rolle als Erlöser – Drittes Rom – zukommt, zu infizieren. Wenn Russland sich rettet und zur Wehr setzt, rettet es auch die Welt, also tut man Gutes, wenn man dem dekadenten und perversen Westen schadet. Wiederum ist unklar, ob dieser politreligiöse Mythos eine nützliche Inszenierung oder tiefgefühlte Überzeugung ist. Aber wie gesagt, der eine Bereich kann in den anderen übergehen, bei überwertigen Ideen ist das stets so.
Ein Zirkelschluss, den man als Gründungs- oder Wiederanknüpfungsmythos sehen und glauben kann, aber der über den Glauben hinaus nicht trägt. Freilich gilt das für andere Gründungsmythen in gleicher Weise.
Lüge und Doppelmoral
Vor diesem Hintergrund kann man dann wenigstens vor sich selbst aufrichtig sein, bleiben oder es wieder werden, wenn man den Lügner belügt. Wer notorisch die Unwahrheit sagt, tut ja weniger Unrecht, wenn er es quasi als Stilmittel einsetzt, gegenüber jemandem, der dies ebenfalls tut. Das ist zwar nicht so ganz richtig, weil die Basis von was auch immer – und sei es nur der wackeligste Waffenstillstand – Vertrauen sein muss, es sei denn, man muss einsehen, dass mit jemandem keine Einigung möglich ist.
Zu dieser Annahme besteht aber kein Grund, da im Westen genügend Menschen ein Interesse an Frieden haben und wir zudem reichlich drängende Menschheitsprobleme haben, die ein Krieg nicht verbessert. Rund wird die Sache dann, wenn das ganze Prinzip des Westens infrage gestellt wird, wenn also der Westen in toto das Böse ist, was bekämpft und vernichtet werden muss.
Dass wir im Westen Doppelmoral finden, ist richtig und wird auch bei uns so gesehen und kritisiert. Jürgen Habermas schrieb bereits 2004 dazu:
„Etwas anderes ist der antimodernistische Affekt gegen die westliche Welt im Ganzen. In dieser Hinsicht ist Selbstkritik angebracht – sagen wir eine selbstkritische Verteidigung der Errungenschaften der westlichen Moderne, die gleichzeitig Offenheit und Lernbereitschaft signalisiert und vor allem die idiotische Gleichsetzung von demokratischer Ordnung und liberaler Gesellschaft mit wildwüchsigem Kapitalismus auflöst. Wir müssen einerseits eine unmissverständliche Grenze zum Fundamentalismus, auch zum christlichen und jüdischen Fundamentalismus ziehen, und uns andererseits der Erkenntnis stellen, dass der Fundamentalismus das Kind einer entwurzelten Moderne ist, an deren Entgleisungen unsere Kolonialgeschichte und unsere misslungene Dekolonialisierung einen entscheidenden Anteil haben. Gegenüber fundamentalistischen Bornierungen können wir immerhin deutlich machen, dass die berechtigte Kritik am Westen ihre Maßstäbe den Diskursen einer zweihundertjährigen Selbstkritik des Westens entlehnt.“[5]
Pluralismus
Der Pluralismus ist eine in der Regel gut gemeinte, aber schlechte gemachte und durchdachte Geschichte, die, wenn sie nicht rund läuft, selbst zur Ideologie wird und – ganz antipluralistisch – all jene aus dem Diskurs ausschließen möchte, die die pluralistische Lesart nicht teilen. Letzten Endes geht er davon aus, dass es keine generell überlegene Perspektive gibt, was mindestens, wenn man rationale Kriterien anlegt, richtig ist. Es gibt alle möglichen Perspektiven, aber ein zu rechtfertigende Perspektive aller Perspektiven gibt es nicht.
Wir müssten dann religiöse Kategorien anlegen, die man glauben kann, aber auch muss, mit einer an sich richtigen oder falschen Herleitung hat das dann nichts mehr zu tun. Man kann spirituelle oder mystische Kriterien anlegen, die Botschaft der echten Mystiker ist, durch alle Zeiten, Traditionen und Kulturen, wesentlich einheitlicher, als die oft unterschiedlichen Religionen. Aber zu wenige Menschen sind Mystiker und wenn man die Erfahrungen der Mystiker versucht mit dem Alltagsbewusstsein nachzuvollziehen, kommt tendenziell eine Flachland-Esoterik dabei heraus.
Putins Ansatz ist eine Ideologie der Stärke. Warum auch nicht, wir kennen diese Ansätze vom Machiavelli und subtiler von Nietzsche. Es kommt nur langfristig selten etwas anderes dabei heraus, als ein faschistisches System, an dessen Ende die Einheit in der Zerstörung liegt.
Die Kritik, dass die schlechten Spielarten des Pluralismus im gemeinsamen Untergang durch Schwäche liegt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, aber besser wäre es für beide Seiten, ihre Stärken zu verbinden. Es ist nicht der eine Ansatz generell gut und der andere schlecht, beide Ansätze sind in unterschiedlichen Abschnitten relevant und sie haben jeweils ihre Stärken und Schwächen. Wenn man die Schwächen beider zu vermeiden versucht und die Stärken beider nutzt, sind wir insgesamt einen Schritt weiter.
Ehrlich und hart darüber zu reden, ist besser, als einander zu verdampfen, weil man dann immer wieder von neuem aufbauen muss.
Wo könnten wir uns treffen?
Man muss die westliche Lebensweise nicht glorifizieren, es besteht aber auch kein Grund alles zu verdammen. Wenn es weiter gehen soll, mit der Menschheit, müssen wir uns nicht nur zähneknirschend austauschen, sondern zusammen arbeiten, alle und schnell. Wir brauchen nicht zu spekulieren, ob die angenommenen Probleme kommen, mit Seuchen, Krieg, Überbevölkerung, Artensterben, Müllbergen sind etliche schon da, weitere werden folgen. Nicht hübsch nacheinander, mit 10 Jahren Pause dazwischen, nein, es wird eher so sein, wie aktuell: Krieg, Klimawandel und Corona laufen parallel, das findet man inzwischen auch im Westen nicht mehr spaßig.
Ein paar Gänge zurück zu schalten, würde uns gut tun, der Erde auch. Unsere Werte sind, wo sie mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis sind, stark, wir brauchen die Konkurrenz auch in einer ehrlichen Diskussion nicht zu scheuen und wo wir unterliegen, können wir nur gewinnen, weil wir dazu lernen.
Machen wir uns ehrlich, die weltzerstörerischen Aspekte unserer Art zu leben sind vorbei. Wir werden nie wieder so leben und es ist gut so, die tatsächlich dekadente Seite unserer Lebensweise, die Qualität durch Quantität ersetzt, darf ruhig korrigiert werden, alle profitieren davon.
Wenn man sich etwa auf die Werte, die man hier eigentlich vertreten möchte zunächst erst mal wieder selbst besinnt. Putin Schutz der Familie steht, wenn auch unter anderen Vorzeichen, eigentlich auch bei uns im Zentrum. Hier versucht man jeden zu verstehen, dem es gelingt, sich als Opfer darzustellen, wirklichen Opfern tut man damit keinen Gefallen. Wenn es auch kein absoluten Kriterien der Wahrheit gibt, jeden Unsinn ernst zu nehmen, ist nun kein Zeichen von Fortschritt, sondern man kann darin wirklich Verwirrung sehen. Recht hat nicht der, mit der dickeren Knarre, sondern der oder die, mit den besseren Argumenten, darauf dürfen wir uns irgendwann mal wieder besinnen und auch selbst verpflichten.
Was aus Religionen wird, kann ich nicht einschätzen, aber irgendwas zwischen Religion (an die man glauben muss) und Spiritualität (die man selbst erfahren kann) ist vermutlich eine Konstante des Menschseins. Die große Klammer die den Osten, auch den fernen mit dem Westen verbinden kann, Vorarbeiten sind ausreichend geleistet. Wenn Lösungen gesucht werden, es gibt genug, Punkte an denen man ansetzen kann.
Quellen:
- [1] https://www.deutschlandfunk.de/catherine-belton-putins-netz-100.html
- [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Russische_Mafia#Herausbildung_neuer_Mafiagruppierungen_in_den_1990er_Jahren
- [3] Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika, C.H.Beck 2018, S. 64
- [4] Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika, C.H.Beck 2018, S. 60
- [5] Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen, Suhrkamp 2004, S. 109