Dissoziationen dienen mitunter als eine (unbewusste) Bewältigungsstrategie, in Folge von traumatischen Erlebnissen oder schwerwiegenden inneren Konflikten. Man blendet aus, vergisst, verdrängt, fühlt sich fremd, zersplittert, nicht als ein Ganzes, nicht vollständig anwesend etc. Viele Menschen erleben häufiger Dissoziationen in ihrem Alltag, doch sie sind sich gar nicht darüber bewusst, dass es sich um eine psychische Abspaltung als Bewältigungsstrategie handeln könnte. Die Dissoziationen gehören zu ihrem täglichen Erleben dazu, sodass sie von ihnen für normal gehalten werden. Vielleicht, weil sie die Form der inneren Flucht bereits seit ihrer Kindheit so praktizieren. Und sie im Erwachsenenleben damit fortfahren, weil es zu ihrer Copingstrategie geworden ist, mit der sie vergangenen und aktuellen negativen Erlebnissen begegnen. Als ein Schutzmechanismus. Was sind Dissoziationen, kurz erklärt? Welche Beispiele für Dissoziation gibt es, die auf einen Bewältigungsmechanismus hindeuten könnten? Wie fühlt sich Dissoziieren an?
Von Mensch zu Mensch
In diesem Artikel haben wir einige Erfahrungen von Menschen aufgeführt, die anhand der Beispiele für Dissoziation ihr dissoziatives Erleben beschreiben. Nachfolgend geht es nicht um eine psychologische Expertise oder eine therapeutische Diagnostik. Der Artikel dient einzig und allein dazu, die Menschen mit ihren individuellen Erfahrungen und Eindrücken zu Wort kommen zu lassen. Unter ihnen sind Personen, die sich in einer therapeutischen Intervention befinden. Oder auch Menschen, die im Beisammensein mit ihrer Selbsthilfegruppe versuchen, ihr emotionales Erleben zu ergründen. Es sind auch Fachleute dabei, die eigene traumatische Erfahrungen besitzen ebenso wie eine gewisse Expertise dahingehend. Unter ihnen sind auch Personen, die gerade erst begonnen haben, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten und sich mit anderen online vernetzen. Dieser Artikel ist von Menschen für Menschen.
Dissoziation kurz erklärt
Es gibt harmlose Dissoziationen, beispielsweise wenn wir weltversunken sind bei einer Fahrt auf einer bekannten Strecke und gar nicht bemerken, wo wir sind. Es gibt aber auch Dissoziationen, die im Kontext einer Verdrängung auftreten. Sind sie einschneidend in Bezug auf das psychische Erleben und Verhalten und beeinträchtigen die Bewältigung des Alltags, erhalten sie unter Umständen eine klinische Relevanz. In Zusammenhang mit Dissoziationen wird das Bewusstsein von früheren Erinnerungen, negativen Gedanken oder unangenehmen Gefühlen abgespaltet. Die Wahrnehmung der eigenen Person beziehungsweise der Umgebung ist nicht mehr vollständig integriert. Denken, Fühlen und Wahrnehmung werden vom Organismus als eine Art Schutzfunktion voneinander getrennt. Manche Sinnesempfindungen werden quasi abgeschaltet, es entsteht in gewisser Weise eine gedankliche Flucht aus der Situation. Die Auswirkungen davon sind facettenreich. Dissoziation fühlt sich unterschiedlich an. Sie reicht von Gedächtnislücken, einem automatischen Funktionieren im Alltag (ohne wirklich geistig anwesend zu sein), einem verringerten Schmerzempfinden, dem Ausbleiben von Emotionen, einem Gefühl von Losgelöst sein und so weiter.
Sie können das Gefühl haben, dass ihnen die Erinnerung an einen Zeitraum fehlt. Darüber hinaus fühlen sie sich möglicherweise von sich selbst, das heißt, von ihren Erinnerungen, Eindrücken, ihrer Identität, ihren Gedanken, Gefühlen, ihrem Körper und ihrem Verhalten losgelöst (dissoziiert). Oder sie fühlen sich von der Welt um sich herum losgelöst. Ihr Identitätsgefühl, ihre Erinnerung und/oder ihr Bewusstsein ist also bruchstückhaft.
Prof. David Spiegel, Stanford University School of Medicine, zitiert aus MSD Manual
Zusammengefasst: Wie fühlt sich Dissoziation an?
Drei vorrangige Phänomene können bei einem dissoziativen Erleben auftreten, die zusammenfassen, wie sich Dissoziation anfühlt:
- Gefühl des Losgelöst seins von sich selbst oder der Umgebung
- Mangelhafte Erinnerung an persönliche Informationen, die mit Stress oder traumatischen Erfahrungen in Zusammenhang stehen
- die eigene Identität oder die Erinnerungen werden als bruchstückhaft erlebt (wie einzelne Scherben, die man nicht oder schwerlich zusammenzusetzen vermag)
Erfahrungen: Beispiele für Dissoziation
Wie beschreiben Menschen ihr dissoziatives Erleben, die traumatische Erfahrungen in der Vergangenheit wie beispielsweise in einem dysfunktionalen Elternhaus gemacht haben? Nachfolgend haben wir einzelne Aussagen von betroffenen Personen aufgeführt. Dissoziation fühlt sich nicht immer gleich an. Über die nachstehenden Schilderungen als Beispiele für Dissoziation hinaus gibt es eine Vielzahl anderer Erlebniseindrücke. Kurzum: Dissoziation kann sich so anfühlen, muss sie aber nicht.
Beispiele für Dissoziation: Identitätserleben
Für eine Klientin, die sich in einer psychotherapeutischen Behandlung aufgrund von sexuellem Missbrauch in der Kindheit befindet und bis heute unter den traumatischen Erlebnissen leidet, fühlt sich Dissoziation beispielsweise so an:
»Meine Kindheit ist wie ein Film. Ich sehe Fotos und Videos davon, aber es ist für mich so, als wäre ich gar nicht dabei gewesen.«
Eine andere Frau hat durch den jahrelangen Missbrauch ihren Bezug zum eigenen Körper verloren:
»Wenn ich heute mit Männern Sex habe, geschieht das automatisch. Ich bin nicht anwesend in der Situation. Es fühlt sich an, als würde etwas mit meinem Körper geschehen. Ich bin gar nicht darin.«
Auf die Frage, warum sie der Sexualität nachgehe, obwohl es für sie nach eigener Aussage nicht mit einem schönen Gefühl verbunden ist, antwortet sie:
»Ich habe, seitdem ich fünfzehn war, immer wieder Partnerschaften. Auch wenn mich jemand bei einem Date einlädt, fühle ich mich in einem Zugzwang, mit dem Mann zu schlafen. Es ist ein Geben und Nehmen. Es gehört doch dazu in einer Partnerschaft. Andernfalls wird man zurückgewiesen.«
Eine dritte berichtet:
»Ich bin dann die Verführerin. Eine Femme Fatale. Ich wechsele in eine vollkommen andere Person. Nach dem Sex empfinde ich es, als wäre ich gar nicht diese Person.«
Beispiele für Dissoziation: Emotionen
Harmlose Erlebnisse im Alltag können einen emotional zurückwerfen in traumatische Erlebnisse aus der Vergangenheit, selbst wenn man diese Erlebnisse kognitiv vielleicht nicht mehr erinnern kann. Sprich: Die Bedrohungslage ist rein faktisch in der Realität nicht gegeben (da man als Erwachsener meistens aktiv etwas gegen eine negative Situation unternehmen kann und diese auch gar nicht so katastrophal ist, wie man sie emotional bewertet). Aber wir bewerten sie mit den Augen eines Kindes, das sich in der damaligen Situation ausgeliefert fühlte. Diese früheren starken emotionalen Empfindungen treten dann in der aktuellen Situation auf.
Angststörungen gehen auf Konsolidierung des gelernten Zusammenhangs von Angst und auslösendem Ereignis zurück. Wird ein mit dem ursprünglich angstinduzierenden Reiz verbundener Hinweisreiz wahrgenommen, kann über eine konditionierte Reaktion Angst erlebt werden.
Eine Frau berichtet nach dem Streit mit dem Partner:
»In unserer Beziehung gab es noch nie eine Form von Gewalt. Mein Freund war wütend und ich bekam plötzlich eine unsägliche Angst vor ihm. Ich fühlte mich total ausgeliefert, hatte totale Panik, weil er mit der Trennung drohte. Nach einem Tränenschwall war ich plötzlich wie abgeschottet. Ich spürte nichts mehr, nur eine unsägliche Leere. Ich war nichts wert und wollte einfach nur sterben.«
Eine andere Frau berichtet:
»In meiner Beziehung habe ich oft das Gefühl wie in einem weißen Nebel zu sein. Manchmal ist alles ganz undurchsichtig. Ich begreife nicht, was um mich herum geschieht.«
Gerade wenn man sich eventuell in einer Beziehung befindet, die durch ein Ungleichgewicht beider Partner gekennzeichnet ist und toxische Muster aufweist, können Emotionen, Bewertungen und Verhaltensmuster aus der Kindheit reaktiviert werden. Aber auch in neutralen Situationen kann von den Betroffenen eine emotional negative Überbewertung vorgenommen werden. Die Gründe zu eruieren, gegebenenfalls in Verbindung mit einer Traumatherapie, obliegt jedem selbst.
Beispiele für Dissoziation: Erinnerung
Auch Gedächtnislücken können entstehen und ein Anzeichen von Dissoziation sein.
Ein Mann schildert:
»Wenn ich versuche, mich an gestern zu erinnern, ist alles schwarz. Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht habe. Ich weiß noch, wie ich die Straße entlanggelaufen bin, in der früher mein Onkel wohnte. Mehr erinnere ich allerdings nicht.«
Eine Frau berichtet:
»Plötzlich fand ich mich nachts im Park wieder. Obwohl ich eigentlich ein sehr ängstlicher Mensch bin. Ich weiß noch, dass ich mich mit meinem Freund gestritten habe. Ansonsten habe ich nur eine schwammige Vorstellung, wie ich da hin gekommen bin. Es war wie in einem Wut-Rausch voller Verzweiflung, erst im Park wurde ich wieder klar.«
Ein anderer Mann erzählt:
»Meine Erinnerungen an früher, aber auch an vorherige Woche, also die jüngere Vergangenheit, sind löchrig. Ich erinnere mich nur vereinzelt, aber das Meiste ist wie Watte in meinem Kopf. Ich kann nicht dort hindurchschauen.«
Oder:
»Es gibt Phasen, wo ich nicht mehr weiß, ob ich Dinge erledigt habe oder was ich überhaupt getan habe. Da ist nur ein Grau, ich komme nicht an meine alltäglichen Erinnerungen.«
Ein weiterer berichtet:
»Ich sitze auf dem Sofa und werde mir irgendwann darüber bewusst, dass Stunden vergangen sind. Wie im Fluge vergeht die Zeit, ohne dass ich was gemacht habe. Ich habe keine Ahnung, womit ich die Zeit verbracht habe. Ich war in Gedanken versunken, glaube ich. Manchmal wünschte ich mir eine Kamera, die aufnimmt, was ich eigentlich tue. Sieht wahrscheinlich dann aus wie ein Stillleben, wie ich da so rumsitze.«
Eine andere Aussage ist:
»Meine Freundin sagte zu mir, wir hätten erst kürzlich darüber gesprochen. Aber ich erinnere mich daran nicht. So sehr ich es versuche, da ist keine Erinnerung in meinem Kopf. Dabei war es ein wichtiges Thema.«
Beispiele für Dissoziation: Wahrnehmung
Ein Mann berichtet im Zuge von Stresssituationen von folgendem Phänomen:
»Wenn ich stark unter Stress stehe, höre ich Stimmen. Sie sind nicht bedrohlich oder so. Eher neutral. Sie können ganz unterschiedlich sein. Einmal die Stimme eines Mannes. Manchmal auch die Stimme eines Kindes, das ›Mama?‹ sagt. Ich weiß, dass das nicht von außen kommt, sondern sie in meinem Kopf sind. Ich bin also nicht schizophren oder so.«
Oder auch die Beschreibung einer Frau hinsichtlich ihrer Wahrnehmung:
»Ich funktioniere im Alltag. Darüber hinaus drifte ich oft ab. Ich bin eigentlich so gut wie nie wirklich in mir drin. Wenn ich mich bei etwas konzentrieren muss, muss ich immer erst wieder in mein Leben einsteigen.«
Wie fühlt sich Dissoziation an? Das ist eine Frage, die in verschiedenen Variationen und auch unterschiedlichen Abstufungen beantwortet werden kann. Dissoziationen sind auf einem Kontinuum. In diesem Artikel gaben wir dir anhand der Beispiele für Dissoziation einen Einblick in das dissoziative Erleben verschiedener Menschen, ohne einen Anspruch auf Zwangsläufigkeit oder Vollständigkeit zu erheben. Die Beispiele für Dissoziation dienen nicht der Eigendiagnostik. Es ist nicht entscheidend, ob deine Dissoziationen »nicht ganz so schlimm sind« oder doch. Das Einzige, was zählt, ist: Wenn du das Gefühl hast, Hilfe zu benötigen, hole sie dir! Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn man eine psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen möchte. Im Gegenteil: Selbstfürsorge ist ein Zeichen von Stärke. Von Herzen das Beste für dich!