Genau. Viele werden es mitbekommen haben, so beginnen heute Sätze, zumeist gesprochene. Warum eigentlich?
So genau weiß man das auch nicht, wohl am wenigsten dann, wenn man dieses Füllwort exzessiv benutzt.
Bedeutung und Aufbruch zur Wanderschaft
Die Bedeutung des Begriffs ist schnell erklärt. Zum einen meint ‚genau‘ sowas wie exakt, manchmal auch pingelig oder pedantisch. ‚Er ist sehr genau.‘ Das liegt irgendwo zwischen pflichtbewusst und zwangsgestört. Meistens meint man aber exakt, präzise. ‚Sie fand genau die richtige Lösung.‘ ‚Wir trafen uns genau um 13:00 Uhr.‘
Die andere Bedeutung ist affirmativ, also zustimmend. Genau heißt dann: ‚Das finde ich auch‘. ‚Ich stimme dir/dem zu.‘ ‚So ist es.‘
So war es zumindest mal. In unserer flotten Weinrunde sind kluge Menschen versammelt, einer bemerkte mal, dass neuerdings viele Sätze mit ‚Genau‘ begonnen werden. Mir ist das auch schon oft bei Gesprächen im Radio aufgefallen. Da wird jemand gefragt: ‚Können Sie kurz ihre Arbeit vorstellen?‘ und antwortet: ‚Genau, ich arbeite für … .‘
So war das aber nicht immer und ich dachte, wir werden nicht die ersten sein, denen das aufgefallen ist. In der Tat, andere haben schon vor Jahren darüber geschrieben, wie etwa Christian Geyer in der FAZ und das schon 2012, also vor 10 Jahren. Was bei Geyers Artikel noch „der letzte Schrei“ war, löste die von ihm diagnostizierte Zustimmung zum anderen ab. ‚Genau‘ ist um 2012 Füllwort geworden und auch zum Anker zwischen zwei Gedankengängen. Man hangelt sich von einem Gedanken zum nächsten, ebenso wie von einem die Gedanken verbindenden ‚Genau‘ zum anderen.
Doch nach und nach mutierte die vermeintliche Zustimmung zum anderen, die zur Zustimmung zum eigenen Gesagten wurde und wanderte vom Ende, zur Mitte und dann an den Anfang des Satzes. Noch bevor etwas geäußert wird, wird zugestimmt oder nach Zustimmung gesucht oder einfach Zeit überbrückt: Genau. So werden also nun Aussagen angefangen.
Flotte Marotte
Hat das alles eine tiefere Bedeutung? Auf der einen Seite kann man natürlich immer sagen, dass alles was fühlende und denkende Wesen tun eine Bedeutung hat. Selbst oder gerade wenn es unbewusst geschieht. Die aufdeckende Psychologie ist prall gefüllt mit Erkenntnissen darüber, dass auch das, was unbewusst ist oder ins Unbewusste verdrängt wird, nicht weg und erst recht nicht unwirksam ist. Auf der anderen Seite heißt das aber nicht, dass man gleich bei allem das große Besteck auspacken und eine Tiefenbohrung veranstalten muss.
Warum sagt man ‚Ähh‘ oder zuckt mit dem Auge oder räuspert sich? In der Regel weiß man das auch nicht zu sagen, es ist halt so. Ein bisschen Zwang oder Sozial-Tourette, mehr als das aber vielleicht auch nicht. Einfach eine flotte Marotte, wie Tattoos.
So richtig böse mag denn auch David Hugendick in seiner Glosse in der Zeit nicht werden, wenn er 2018 den Genauigkeitszwang analysiert. ‚Genau‘, das erinnert ihn an das ‚irgendwie‘ der guten alten Zeit, als irgendwie alles noch irgendwie unbestimmt war. Nun ist es halt sehr bestimmt geworden, sozusagen genau, nur hat sich an der Formalie Füllwort zu sein irgendwie nix geändert. Genau.
Wie man’s macht, macht man’s verkehrt? Ist doch schön, dass viele das Phänomen mit entspannter Distanz sehen können, anstatt sich auch hier emotional voll reinzuschmeißen, auch Psychologen sind entspannt. Nur die Selbstoptimierer aus dem Busimess Bereich können es nicht ertragen, wenn es unoptimierte Lebensbereiche gibt. Da liest man dann Sätze wie:
„Also, wenn du dich das nächste Mal irgendwo vorstellst, kann es sein, dass jemand neben dir sitzt, der deine „ähms“ und „ähs“ mitzählt. Lass nicht zu, dass diese Füllwörter, deine Glaubwürdigkeit untergraben.“[1]
Unser ‚Genau‘ ist auch dabei. Wem Narzissmus allein nicht reicht, der bekommt hier noch ein wenig Paranoia gratis, zum Glück sind beide ja bald abgeschafft. Da tut es gut, wenn der Gebrauch von Füllwörtern, die die einen sinnlos finden, die anderen natürlich nicht, auch von manchen Großdenkern verwendet wird.
Als ich meinen aller ersten, von vielen weiteren Vorträgen von Otto Kernberg hörte, begann dieser ungefähr so: ‚Ja, äh, äh, guten Tag, äh, können sie mich in der ersten Reihe hören?‘ Und so ging das eine kurze Zeit weiter. Mein erster Gedanke war, so ungefähr, was dass denn sein soll. Das ist dieser Meisterpsychologe? Ich liebe Vorträge und war da durch einige Redner aus den Jahren davor durchaus verwöhnt, wusste aber damals noch nicht, dass Kernberg, gebürtiger Wiener, seit ewiger Zeit in anderen Ländern, erst Chile, dann in den USA lebt und Deutsch eine Sprache ist, die er seit Jahrzehnten kaum sprach. Während seines Vortrags entpuppte sich das zwischenzeitliche Ringen um Begriffe als eine großartige Darstellung über zig Aspekte der Persönlichkeitsstörungen, mit ungeheurer Tiefe und inzwischen liebe ich die Vorträge des freundlichen, nun sehr alten Herren, aus denen ich unendlich viel lernen konnte und noch immer kann.
Wie kam ich darauf? Genau:
Lustig ist es schon
Man braucht nicht alles ins Fadenkreuz zu nehmen was eine Gewohnheit ist, der man sich kaum entziehen kann. Aber lustig ist es zuweilen schon.
Ich habe seit einigen Wochen, durch Zufall, regelmäßigen Kontakt zu ukrainischen Flüchtlingen, einige machen einen Integrationskurs in dem sie die deutsche Sprache und mehr lernen sollen. Unsere Alltagssprache ist Englisch. Eine junge Frau bittet mich öfter, ihr einfache deutsche Sätze beizubringen und stellt mir Fragen, wie dies oder das heißt oder wie man es im normalen Alltag sagt. Eines Tages fragte sie mich, was eigentlich ‚genau‘ heißt. Ich musste lachen, weil ich den Hintergrund ihrer Frage ahnte, den sie bestätigte. Weil eben viele Leute heute Sätze mit ‚Genau‘ beginnen und ich glaube irgendwie habe ich es hinbekommen, ihr mit meinen Englisch, was vermutlich besser sein könnte und sollte, als es ist, zu erklären, was es mit dem Füllwort auf sich hat. Genau.
Quellen:
- [1] Lisa B. Marshall, Mit dieser Taktik löscht ihr „ähm“ und „hm“ aus eurem Vokabular, Business Insider, https://www.businessinsider.de/strategy/mit-dieser-taktik-loescht-ihr-aehm-und-hm-aus-dem-vokabular-2017-10/