Fassungslosigkeit ist eine Mischung aus Erstaunen mit einer überwältigenden Komponente: ‚aufs Höchste erstaunt/verwundert‘ sagt uns der Duden.
Fassungslosigkeit ist nicht einfach nur ein lapidares: ‚Och‘, ‚Ach was?‘ oder ‚Das hat mich jetzt aber überrascht‘ sondern, man steht wirklich konsterniert, entsetzt, entgeistert, eben irgendwie überwältigt da und denkt … vielleicht gar nichts, weil man das Schauspiel einfach über sich ergehen lässt und auch gar nicht anders kann.
Die Basis ist die Überraschung
Die Fähigkeit zur Überraschung auszurücken gehört zu den Affekten, die uns angeboren sind. Etwas lockt uns aus der Ruhe unserer Sicht auf die Welt, ist anders. Das überrascht bereits Säuglinge und jeder kennt die Mimik bei anderen: die Augen weit geöffnet, manchmal auch der Mund, man steht still und irgendwie auch entspannt da und wird erst mal zum passiven Betrachter. Man kann noch gar nicht richtig einordnen was da gerade passiert, ist noch nicht in der Lage mit irgendwelchen zusammenhängenden Gedanken darauf zu reagieren. Vielleicht schüttelt man den Kopf, oder fasst sich mit beiden Händen seitlich an den Kopf oder hält eine Hand vor den Mund.
Man ist offen, zugewandt, kann nicht anders. Man rennt nicht weg, auch nicht hin, man reagiert einfach noch gar nicht, sondern saugt wie ein Schwamm erst mal auf, was da gerade vor einem passiert. Das kann dann nachher in zwei Richtungen gehen oder sortiert werden.
Die eine ist das Staunen. Man steht wieder wie angewurzelt und mit offenem Mund da und ist überwältigt, wenn man staunt aber mit einem positiven Gefühl begleitet. Auch das hätte man so nicht erwartet, staunt und wenn es sehr intensiv wird, bis zur Fassungslosigkeit. Die Emotionen können sich dann in Tränen oder einer Gänsehaut ausdrücken, wenn die Fassungslosigkeit auf einem überwältigenden Glücksgefühl beruht.
Die andere Richtung ist das Entsetzen. Auch hier können Kopfschütteln und Tränen auftreten, aber die Überwältigung ist mit Trauer, Schmerz oder Ohnmacht verbunden, mit negativen Gefühlen. In beiden Fällen verstehen wir die Welt nicht mehr, ist das, was sich da vor unseren Augen abspielt nicht, was in unser Koordinatensystem passt.
Fassungslosigkeit im Schlechten
Fassungslosigkeit kann während kurzer Momente auftreten, etwa, wenn wir einen schrecklichen Unfall beobachten müssen. Sie kann allerdings auch zeitlich ausgedehnter auftreten. Es heißt bei solchen Ereignissen dann oft, jeder könne sich noch daran erinnern, wo er an dem Tag war. Für mich kann ich das bestätigen. 9/11 war so ein Ereignis. Heute sind die Bilder eigene Ikonen, wir sind zig endlose Dokus und Debatten weiter, aber damals: Ich kam vom Sport, setzte mich vor meinen Computer und schaltete zugleich den Fernseher ein, n-tv. Dort sah ich, wie ein Flugzeug in einem Wolkenkratzer steckt, samt Breaking News darunter, was an sich schon kein alltäglicher Anblick ist, als auf einmal noch ein Flugzeug in den anderen Turm knallte. Sofort war klar, das konnte kein Zufall mehr sein, aber niemand wusste, was das jetzt bedeutet. Es war von einem dritten Flugzeug die Rede, das ins Pentagon stürzte und von noch einem oder mehreren weiteren, niemand wusste, was passiert ist, was noch passieren würde.
Das war eine ausgedehnte Phase der Fassungslosigkeit, weil man als Augenzeuge via TV zwar wusste, dass da gerade etwas passiert, was bisher nicht dagewesen ist – zumindest nicht live im Fernsehen -, vor allem als die Türme einstürzten und man riesige Rauch- und Staubwolken sah. Ich hatte den Impuls die Nähe mir bekannter Menschen zu suchen, so konnte man wenigstens gemeinsam ratlos bis fassungslos sein.
Fassungslos und traumatisiert waren auch die Menschen, die vor einem Jahr in Ahrtal auf einmal mit einem Hochwasser konfrontiert waren, das sie so lange Zeit nicht erlebten. Auch der Angriff auf die Führung eines Landes kann Menschen fassungslos zurücklassen, man weiß einfach nicht, wie es weiter geht.
Fassungslosigkeit im Guten
Fassungslosigkeit gibt es glücklicherweise aber auch auf der anderen, staunenden Seite. So eine Wow- oder Gipfelerfahrung, der Unterschied ist oft, ob man Zeuge von etwas Außergewöhnlichem wird, oder ob es einem selbst passiert, wobei die Übergänge fließend sind, auch der Zeuge wird ja emotional hinein gezogen.
Wer das legendäre Fußball WM Halbfinalspiel von 2014 miterlebt hat, hat gute Chancen Momente der Fassungslosigkeit erlebt zu haben. Ich habe es in einem großen Saal gesehen und wusste irgendwann nicht mehr, ob das jetzt die Wiederholung des letzten Tores war, oder wirklich(?) schon wieder ein neues. Vier Tore in sieben Minuten, nicht gegen irgendwen, sondern die Fußballmannschaft Nummer 1.
Das zeigt aber noch eine weitere Komponente, die dazu gehört, man muss auch ansprechbar und berührbar für das Thema sein. Wer sich nicht für Fußball interessiert, den lässt das völlig kalt und ebenso ist es mit anderen Gebieten des Lebens. Einige Menschen beginnen im Angesicht großer Kunstwerk manchmal zu weinen, so ergriffen sind sie, aber schon dem nächsten sagt das vielleicht gar nichts.
Auf jeden Fall haben die eigenen Erfahrungen viel damit zu tun, wie ansprechbar man ist. Musik, Gemälde, Artistik, geniale Gedanken, mitreißende Vorträge, sportliche Meisterleistungen und oft wirken sie in der Gruppe noch stärker. Ist man selbst mit dem Gebiet verbunden, wirkt alles noch intensiver. In meiner Jugend habe ich Squash gespielt und weiß noch, dass ich bei faszinierenden Spielen anderer so ‚drin‘ war, dass mein Bein manchmal mitgezuckt hat. Das werden einige von sich kennen.
Ambivalente Fassungslosigkeit
Besondere Erfahrungen können aber durchaus verschiedene Effekte haben. Wenn ich bei Turnieren – ich war ein recht guter Squashspieler – andere, sehr gute Spieler sah, so hatte dies gewöhnlich einen stark motivierenden Effekt und schon viele Jahre bevor man das nachweisen konnte, merkte ich am eigenen Leib, dass sich allein durchs zuschauen die eigenen Fähigkeiten verbessern konnten. Dort wo ich spielte, hatten wir einen sehr guten Trainer und als Dauergast einen Spieler der im Bereich um Platz 10 in der damaligen Weltrangliste spielte. Dem sah ich öfter bei seinen Trainingseinheiten zu und versuchte einige seiner Übungen zu kopieren.
Eines Tages sah ich den damaligen, in der Zeit unschlagbaren Weltmeister live spielen und in dem Moment kippte mein Empfinden. Nicht, dass er nicht toll spielte, nein, er spielte einfach zu gut. Ich hatte nie ernsthaft vor Squashweltmeister zu werden, aber als ich ihn spielen sah, wurde mir augenblicklich klar, dass ich es auch niemals werden würde, egal was ich anstellte. Ein Band war gerissen, das von mir zum Squashsport, durch dieses Schauspiel sportlicher Perfektion. Auch das eine Auswirkung der Fassungslosigkeit.
Es gibt Erfahrungen die eher persönlich eingefärbt sind, andere sind kollektiver. Prächtige oder erdrückende Naturschauspiele, aber auch große, traumatisierende Unglücke oder triumphale Ereignisse mit denen sich ungeheuer viele Menschen identifizieren können und die von diesen mitgerissen werden. Andere sind nur für wenige erschütternd.
Einen ähnlichen Effekt können spirituelle Erfahrungen haben. Manche tun alles um sie herbeizuführen, andere erleben sie völlig zufällig, ohne sich je für das Thema interessiert zu haben. Spirituelle Erfahrungen können überwältigend sein und einen fassungslos zurück lassen, weil man auf einmal etwas erlebt, was man in seine bisherigen Vorstellungen darüber, wie die Welt so funktioniert nicht einordnen kann. Das kann einen starken Schub geben, sich die Welt(erklärungen) noch mal neu zu ordnen, auf der anderen Seite kann genau das auch zu viel sein. Es folgt eine spirituelle Krise.
Das ist das Spektrum der Folgen von Fassungslosigkeit. An den äußeren Ende zwischen Trauma und Erleuchtung, in der Regel ein bleibendes Ereignis, an das man sich noch lange erinnern wird, in nicht wenigen Fällen, ein Leben lang. Es kann die Quelle von Verstörung sein, aber eben auch jener Erlebnissen von denen man am Ende sagen kann, dass sich schon allein dafür das Leben gelohnt hat.