Vor dreieinhalb Jahren hat sich Melina* von ihrem Partner getrennt. Sie suchte sich einen zusätzlichen Job und stemmte die Versorgung ihres Kindes als alleinerziehende Mutter. Wenn sie heute auf die jüngste Vergangenheit zurückblickt, so weiß sie, dass sie eine Menge geschafft hat. Trotz allem fühlt Melina sich so leer und niedergeschlagen wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Ein Psychotherapeut erklärt ihr gegenüber, sie habe wahrscheinlich eine hochfunktionale Depression. Doch woher kommt die innere Leere, die Melina aufzehrt? Eine Spurensuche.
Ausgefülltes Leben, innerlich leer
Melina ist »viel mehr als nur erschöpft«, so sagt sie. Nach der Trennung, weil ihr Mann sie betrog, lernte sie einen anderen Mann kennen. Doch es wurde nicht mehr als eine Affäre. Der neue Mann habe sie hingehalten und so schaffte sie es nicht, sich zu trennen. Ein bisschen trug er sie auch über die schwere Trennungszeit von ihrem Mann, vielleicht flüchtete sie sich auch in die Affäre. Warum zwei Menschen sich aneinander festhalten, weiß man ja nicht immer so genau, resümiert Melina.
Sie stemmt ihr Leben, fand sogar den Einstieg in ihren Traumberuf, dem sie aufgrund der Ehe und dem gemeinsamen Kind nie nachgegangen war. Melina spürte Selbstständigkeit, ungeahnte Freiheit, etwas, das ihr in ihrer Ehe versagt geblieben war. Aber da war auch eine große existenzielle Angst. Was wäre, wenn es doch nicht zu einem selbstständigen Dasein reichen würde? So wie es ihr Ehemann ihr immer gepredigt hatte. Dass sie es nie allein schaffen würde.
Die Lebensangst als Antrieb
Die Angst, es nicht zu schaffen im Leben, trieb Melina an. Auch ihre Eltern sind von einer starken Ängstlichkeit geprägt. Dass das Leben unglaublich schwer wäre und man stets vorsichtig sein müsse, bekam Melina schon von Kindesbeinen an mit auf den Weg. Inzwischen ist ihre Lebensangst ein bisschen verklungen, auch weil sie eine Menge korrigierender Erfahrungen gemacht hat. Wenn sie sich öffnete und ehrlich war, Engagement und Loyalität zeigte, war da stets jemand in ihrem neuen Arbeitsleben, der ihr die Hand reichte und weiterhalf.
Inzwischen hat Melina einen gefestigten Stand im Arbeitsleben. Ihr Kind ist gut in der Schule aufgenommen worden, lernt ohne Probleme. Die Affäre entwickelte sich zu einer klassischen On-Off-Beziehung, die Melina beschäftigt hielt. Drei Jahre lang. Sie weinte so viel wie noch nie zuvor in ihrem Leben, sagt Melina. Weil sie ständig grübelte, ob ihr Affärenpartner bei einer anderen wäre. Wenn er gerade mal wieder nicht verfügbar war, grübelte sie mehr und mehr.
Sie musste loslassen, um zu leben
Aus den therapeutischen Sitzungen weiß Melina, dass sie ihren Halt in der Affäre suchte. Sie weiß auch, dass dieser Mann kein wirklicher Halt war. Sie klammerte sich an eine Illusion. Als Melina erkannte, dass diese emotionale Abhängigkeit von dem Mann sie von ihrem Kind entfremdete, weil sie sich emotional zu stark mit sich beschäftigte, ließ sie allmählich los. Dass ihr Affärenpartner sie immer wieder versuchte zurückzuholen, machte die Sache nicht einfacher für sie. On-Off. Der Klassiker.
Nachdem das Gefühls-Auf-und-Ab sich mehr und mehr ebnete, wurde es von einer inneren Schwere abgelöst. Woher kommt die innere Leere?
Nach der Aufruhr kam die Leere
Nach dem emotionalen Kampf, als Melina sich über viele Monate aus der Affäre befreite, wieder zu ihm zurückging und wieder befreite, kommt die innere Leere, doch woher?
Die junge Frau bemerkte, dass auch ihre verlorengegangene Ehe unaufgearbeitet in ihrem Kopf ist. Immer mehr entdeckt Melina seelische Baustellen bei sich, die bis in ihre Kindheit zurückgehen. Sucht, Angst, Niedergeschlagenheit, Aggression waren auch in ihrer Herkunftsfamilie Themen, die Melinas Werdegang prägten. Nun fühlt sie sich immer öfter leer, ausgebrannt, hoffnungslos. Burnout, Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung stehen als Diagnosen im therapeutischen Raum. Alkoholmissbrauch war auch eine Zeit lang ein Thema, aber dahingehend hat Melina schnell die Kurve gekriegt. Sie wollte nicht so sein wie ihre Eltern und Geschwister. Melina fühlt sich behäbig, ausgehöhlt und sinnentleert. Doch irgendwie schafft sie es, immer weiter zu funktionieren.
Da ist tiefe Traurigkeit
Seit etwa anderthalb Jahren weint sie regelmäßig. Sie fühlt sich schnell zurückgewiesen und wird dann von ihrer Enttäuschung regelrecht übermannt. Und trotzdem versucht sie – ganz die starke Mutter –, ihre Trauer ihrem Kind nicht zu zeigen. Mit ihrem Job, dem Unterhalt des Kindesvaters und damals noch mancher finanzieller Aufwartungen ihrer Affäre war Melina finanziell gut abgesichert. Sie kommt zurecht im Leben, auch ohne das Geld ihres Affärenmannes, sagt Melina beinahe trotzig.
Und doch ist da diese Lebensangst, die existenziell ist. Dieses »Was wäre, wenn«. Was wäre, wenn der Unterhalt ausbliebe? Was wäre, wenn sie später ihren Job stundenmäßig nicht aufstocken könnte, sobald sie weniger Zeit für ihr Mutterdasein braucht? Was wäre, wenn sie im Alter mit weniger Rente keine Wohnung bekäme und ihrem Kind zur Last fallen würde? Was wäre, wenn sie ernsthaft erkrankte und für ihr Kind niemand so richtig da wäre? Denn auf ihren Ex-Mann sei nur wenig Verlass, so Melina.
Zu viele Sorgen
Es sind die Sorgen einer alleinstehenden Mutter. Zu viele? Oder angemessen? Wer will das beurteilen? Faktisch steht Melina gut da, für den Moment zumindest. Sozial abgesichert ist sie in einem Land wie Deutschland auch. Und eigentlich habe sie auch keinen Grund zu jammern. Was Melina noch schlechter fühlen lässt. Schuldgefühle hat sie schon immer gehabt, seitdem sie denken kann. Stets war sie für ihre Mutter da, die auch immer irgendwie unselbstständig war. Das hatte Melina schon als Kind erkannt. Selbstmord würde sie nie machen wegen ihres Kindes und doch war dieser Gedanke in ihrem Kopf.
Hochfunktionale Depression: Aufklärung wichtig
An eine klassische Depression glaubte Melina nie so recht. Schließlich kann sie sich über manches auch freuen. Etwa, wenn ihr Kind glücklich ist. Oder sogar über Sonnenschein nach den Wintermonaten. Auch andere Symptome trafen auf sie nicht zu. Im Internet liest sie einen Artikel über eine hochfunktionale Depression. Und sie erkannte sich in jedem Punkt wieder. Endlich hatte sie eine Erklärung dafür, woher die innere Leere kommt. Melina fasste sich ein Herz und schlug den Weg der psychotherapeutischen Intervention ein. Der Experte für die Seele bescheinigte ihr ihren Verdacht.
Jetzt hat die seelische Belastung für Melina einen Namen und einen Ansatzpunkt, einen, an dem sie arbeiten kann.
Woher kommt die innere Leere?
So wie Melina ergeht es vielen Menschen. Sie funktionieren im Alltag, sind gereizt, geschwächt, erschöpft, traurig – aber sie machen weiter. Sie spüren, dass sie schnell überlastet sind, aber sie funktionieren irgendwie. Weil sie es müssen. Meistens denken Betroffene so wie Melina. Sie glauben, in ihrem Leben sei alles in Ordnung, sie hätten kein Recht dazu zu jammern. Anderen ergehe es viel schlimmer, so denken sie. Und weil solche Gedanken ihnen von Vornherein verbieten, sich auf die Spurensuche zu begeben, dringen sie gedanklich gar nicht zu den möglichen Gründen vor, warum sie nicht doch von einer Depression, nur eben einer hochfunktionalen, betroffen sein könnten. Denn es ist nicht ihre Schuld oder ihr Versagen, warum das Leben so beschwerlich ist.
Mögliche Ursachen einer hochfunktionalen Depression
Die Ursachen dafür, woher die innere Leere kommt, das Erschöpfungsgefühl, die Traurigkeit, die Gereiztheit und die Schwere, die Freudlosigkeit und das Ausgehöhlt sein, können vielseitig sein. Demzufolge ist diese Auflistung nicht vollzählig oder allumfassend. Sie dient lediglich als ein möglicher Ansatz für eine Spurensuche.
- Mögliche genetische Veranlagung für Depressionen; neurobiologische Ursachen wie ein Ungleichgewicht der Transmitter, hormonelle Dysbalance etc.
- Dysfunktionale Prägungen in der Kindheit; Belastende Kindheitserlebnisse; negative Bindungserfahrungen zu den Bezugspersonen in der Kindheit etc.; chronische Traumatisierungen in der Kindheit durch einen missbräuchlichen – körperlich oder seelisch – Umgang mit dem Kind
- Traumatische Erfahrungen in Kindheit, Jugend oder Erwachsenenleben; toxische Partnerschaften etc.
- Hohe Belastungen zum Beispiel im Berufsleben und privaten Kontext, Konflikte im Umfeld
- Finanzielle Sorgen und Existenzprobleme
- Lebensangst und kognitive Verzerrungen aufgrund fehlerhafter Glaubenssätze
- Chronische Schmerzen wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen etc.; psychosomatische oder somatische Erkrankungen, psychische Erkrankungen wie Angsterkrankungen, Suchterkrankungen etc.
Du darfst für dich da sein
Erlaube dir einen Zugang zu dir selbst. Erlaube dir Selbstfürsorge. Du darfst erschöpft sein. Viel mehr als die Frage »Woher kommt die innere Leere?«, ist es entscheidend für dich zu fragen: »Was kann ich gegen die innere Leere tun?« Es ist möglich, diesem Grundgefühl auf die Schliche zu kommen und therapeutisch etwas gegen eine hochfunktionale Depression oder eine andere affektive Erkrankung zu unternehmen. Was du dafür tun musst, ist zu dir und deiner Seele Ja zu sagen.
Die hier aufgeführten Punkte dienen nicht der Selbstdiagnose. Wenn du dich seelisch belastet fühlst oder gar Suizidgedanken hegst, hole dir therapeutische Hilfe beziehungsweise eine angemessene Krisenintervention.
*Name von der Redaktion geändert