Argumentative Schwachstellen in Olaf Müllers Pazifismus

Grafik von Kant mit Stock und Hut in der Hand

„Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, dass jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.“ Ein philosophisches Erdbeben. © Skara kommun under cc

Olaf Müllers Argumentation hat in meinen Augen ein paar entscheidende Schwachstellen.

Insgesamt beruft er sich auf zwei Positionen, einmal die des Nichtwissens, eine Position die klarerweise richtig ist, aber für alle Seiten gilt. Diese kombiniert er mit einem optimistischen Menschenbild, das im Kern besagt, der Mensch könne keine Großtötungen begehen, wenn die andere Seite nicht mit Gewalt antwortet. Die Nazidiktatur sei die eine geschichtliche Ausnahme gewesen.

Ich meine, dass der Punkt, dass der Mensch nur unter Beschuss brutal wird schlicht und einfach unüberzeugend ist und Aggression immer eine Grundkraft des Menschen darstellt. Da es etliche Wurzeln und Verstärker der Aggression gibt, wird die ohnehin selbstwidersprüchliche Argumentation, die sich einmal pessimistisch äußert, was den Effekt von Gegenwehr betrifft – er sagt, man weiß njcht, was passiert, bishin zur Möglichkeit einer atomaren Eskalation – und einmal optimistisch, bezogen auf die Folgen einer Kapitulation – wir wissen aber auch hier nicht, was passiert – in dem Punkt des Glaubens an den an sich guten Menschen, nicht gestärkt.

Müller entscheidet zudem über die Köpfe der Ukrainer hinweg, die sich im Vorfeld auf Formen des passiven Widerstandes hätten einstellen sollen, sich jetzt aber fügen sollten. Eine junge Frau aus der Ukraine, die vor dem Krieg in ihrer Heimat fliehen musste und die darüber hinaus auch noch politisch gebildet ist, sagte mir: ‚Ich bin da geboren, sehe es nicht ein, dass meine Heimatstadt einfach okkupiert wird und zudem ist es auch noch völkerrechtswidrig.‘ Das ist keine Kleinigkeit, sondern ein erheblicher Punkt und das Argument, Gebiete einfach abzutreten, wenn sie doch nun mal so begehrt sind, hieße das Völkerrecht zu missachten.

Das Argument, dass es letztlich doch zu einem Einsatz von Atomwaffen kommen könnte, ist eine berechtigte Sorge, aber wenn sie einen Freifahrtschein für Aggressoren mit diesen Waffen darstellt, was wäre das für ein Signal, gerade wenn man Pazifist ist?

Unsere Werte: Welche eigentlich?

Es wäre schön, wenn Frieden wäre, von mir aus lieber gestern als heute. Aber lassen unsere Werte es wirklich zu unausgesetzt wegzuschauen? Warum sollen uns die anderen auf einmal interessieren, das haben sie doch noch nie getan, wäre die Ausformulierung der zynischen Variante, dass Werte zwar irgendwie toll sind, aber wenn es hart auch hart kommt, dann doch nicht so wichtig.

Wir wissen oft gar nicht, was uns im Westen ausmacht, was unser Erbe für die Welt ist, in sehr vielen Jahrhunderten erkämpft. Es ist der Wert des Individuums. Jeder Mensch, jedes Leben, jedes Schicksal zählt und ist nicht zahlenmäßig aufzuwiegen. Das ist der Kerngedanke der westlichen Wertehemisphäre. In anderen Systemen herrscht die Idee vor, dass der Einzelne sich einzufügen und im Zweifel zu Wohl des Staates, des Ganzen, der Gemeinschaft zu opfern habe, das dem Individuum stets übergeordnet ist.

Wer das wirklich verstanden hat, kann dem Einzelnen nie mehr sein Recht auf Selbstbestimmung zugunsten einer größeren Zahl absprechen. Damit geht für das Individuum die Verpflichtung einher dieses Recht verantwortlich zu leben, die eigene Freiheit endet, sagt man gerne, an der Stelle, wo sie an die Freiheit des anderen stößt. Das erscheint mir prinzipiell richtig, wie die Vorstellungen und Werte zu gewichten sind, wird im Einzelfall, im Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen ausdiskutiert.

Das begründet seinerseits die Notwendigkeit der freien Rede, für jeden Menschen. Es ist sicher insgesamt zu pathetisch zu behaupten, die Ukrainer kämpften für unsere Werte, weil die Motive und Einstellungen der Menschen aus der Ukraine genauso heterogen sind, wie die anderer Staaten, aber dieses Motiv ist auch eines für den Kampf und sie sind bereit für diese Werte buchstäblich mit allem einzustehen.

Nie wieder! Das ist Teil unserer politischen DNA und ein Motiv der Pazifisten. Erkennen wir früh genug, wenn wir oder andere in die Nähe dieses ‚Nie wieder!‘ kommen?

Warum eigentlich jetzt auf einmal?

Die Feststellung, dass man bei den Russen genau hinschaut, bei den Eroberungsversuchen der Amerikaner oder dem Westen genehmer Regime die Augen gerne mal zukneift, ist ein Punkt, den man anerkennen muss, aber auch in seiner ideologischen Unauflösbarkeit, besonders für uns Deutsche, von denen etwa 75% westlich und 25% östlich geprägt sind.

Dementsprechend kann man die Frage stellen, die sich implizit auch schon bei der Coronapandemie stellte: Warum eigentlich jetzt auf einmal? Warum ist uns das Überleben des Einzelnen auf einmal so wichtig, auch wenn er schon älter ist und warum ist uns die Freiheit anderen auf einmal so wichtig, sie sind doch weit genug weg?

Vielleicht gibt es keinen Grund, zumindest nicht den einen, aber ich finde es gut, dass wir unsere westlichen Grundwerte wieder erinnern, diskutieren und mit alle Konsequenzen einfordern. Sofern das kein Akt der Willkür und Doppelmoral ist, es gilt also auch in Zukunft und in alle Richtungen genau hinzuschauen. Ein wenig könnte ein Revival an die vergessenen Werte anknüpfen, die im Zuge des allgemeinen Funktionalismus nach und nach unter die Räder gekommen sind. Jeder Mensch zählt und hat einen Selbstzweck, das war Kants Meilenstein in unserer Kultur und Europas Geschenk an die Menschheit.

Dies mit den großartigen Weisheitslehren des Ostens zu verbinden ist einer der kommenden Schritte. So weit sind wir noch nicht, doch es gibt Pioniere die uns diesen Weg weisen. Aktuell ist aber Krieg in Europa, ein Krieg der Waffen und ein Krieg der Werte. Der der Waffen sollte schnell beendet werden, auf dem der Werte sollte man wieder wechselseitig lernbereit werden. Eine Autonomie Europas und eine kooperative Weiterentwicklung ist schon in unserem ureigensten Sinn wichtig.

Wo Pazifisten richtig liegen, ist meiner Meinung nach, dass Krieg sich in unserer Welt unterm Strich wirklich nicht mehr lohnt, da in einer zunehmend fragiler werdenden Welt die Kosten für alle in irrationale Höhen getrieben werden.

Quellen:

  • [1] Pazifismus in Zeiten des Krieges – Olaf Müller, WDR 5 Neugier genügt – Redezeit. 17.01.2023. 25:11 Min.. https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/neugier-genuegt/redezeit-olaf-mueller-100.html
  • [2] Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S. 301