Wer bin ich? Das ist eine an sich einfach wirkende Frage mit einer erstaunlichen Spannbreite, die an unsere Ich-Identität heran führt und davon weg.
Die Zeiten ändern sich in vielerlei Hinsicht. In früheren Jahrzehnten war es relativ leicht sich selbst klar darüber zu sein, wer man ist. Es gab eine Menge an Eckdaten, die unverrückbar schienen, ganz simpel, ob man sich als Mann oder Frau empfindet. Ansonsten war in Deutschland in den meisten Fällen klar, welche Herkunft man hat, man war in vielen Fällen auch noch einer Konfession angehörig, auch wenn man sich oft nicht stark dafür interessiert hat. Einer der weiteren Punkte der Identifikation war die Arbeit, die oft auch den sozialen Status bestimmte.
Man wusste in der Regel, ob man Männer oder Frauen oder beide sexuell attraktiv findet, die Regel war die Heterosexualität, auch die Lebensziele waren oft klar definiert, es ging darum einen Partner fürs Leben zu finden, zu heiraten und Karriere voran zu treiben und Kinder zu bekommen. Garniert mit Hobbys, Freunden eventuell noch mit einem sozialen Engagement. Dann hatte man im Großen und Ganzen erreicht, was es zu erreichen gab, da auch die Einstellung zum Leben eine andere war, stellte sich die Zufriedenheit dadurch vermutlich auch schneller ein, als es heute der Fall ist.
Noch die Feindbilder waren vergleichsweise einfach. Man befand sich im kalten Krieg, in der Regel war man im Westen Deutschlands pro westlich, im Osten war es anders herum, der Feind saß jeweils auf der anderen Seite und auch sonst wusste man, was richtig und falsch war.
Die Suche nach dem Selbstbild ist heute schwieriger
Das erstreckt sich auf nahezu alle Bereiche, die oben erwähnt wurden. Natürlich gibt es immer noch die Lebensentwürfe, in denen Menschen klar ist, wer sind und was sie wollen, aber die einerseits verstörende und andererseits verbindliche Normalität verliert ihre Kraft.
Die Frage ob sie sich als Mann/Junge oder Frau/Mädchen sehen, ist für einige Menschen heute nicht klar und eindeutig zu beantworten, der Status sexuellen Orientierung ist oft ebenfalls uneindeutig, die LGBT Gemeinschaft ist zu einer LGBTQIA+ Community angewachsen, ob das befreit oder verwirrt, ist unklar, vermutlich beides.
25% der Einwohner Deutschlands haben heute einen Migrationshintergrund, möchten aber nicht auf die Frage nach ihrer angeblich ‚eigentlichen‘ Herkunft reduziert werden. Auf der anderen Seite hat es auch ein Geschmäckle wenn man in mitunter bizarr anmutenden Diskussionen und Definitionen über strukturellen Rassismus oder kulturelle Aneignung diese zum Alleinstellungsmerkmal stilisieren will oder die ehemalige Normalbevölkerung mit seltsam technischen Begriffen wie Heteronormativität oder cis-gegendert traktieren oder beschreiben will.
Die Arbeit hat ebenfalls nicht mehr ihren identitätsbildenden Einfluss, zumal sie uns auch nicht mit dem fertigen Gesamtpaket, wohlhabend, intelligent und gebildet versieht, wir haben heute eine bunte Mischung von Qualifikationen, Einkommen und Bildungsgrad, die nicht immer in Relation zueinander stehen, was uns weitere leichte Orientierungspunkte entzieht.
Dazu kommt, dass wir neben diesen Schwierigkeiten weitere Identitäten haben können. Online Identitäten, als Gamer, in Sozialen Media oder als Influencer auf einem Internet-Kanal. Mit einem Wort, die Selbstfindung ist nicht einfacher geworden.
Wer bin ich, aus psychologischer Sicht?
Dabei ist der Frage wer man ist und was einen von anderen unterscheidet von zentraler Bedeutung in der Psychologie. Genauer in der psychotherapeutischen Diagnostik. Man hat das Gefühl, dass man sich selbst kennt. Klar, wer auch sonst, schließlich verbringt man ja sein ganzes Leben mit oder in sich selbst. Nur ich weiß, wie ich mich wirklich fühle. Fragt man dann aber: ‚Wie denn? Beschreib‘ mal‘, stößt man gelegentlich auf widersprüchliche, unzusammenhängende Aussagen, manche Menschen verstummen auch und wissen überhaupt nichts zu sagen.
Man könnte meinen, dass die Ich-Identität eine Einschränkung sei. Warum sollte man sich darauf festlegen, wie man ist, das kann in verschiedenen Lebensumständen ganz anders sein. Wenn man genervt ist, Schmerzen hat, auf einer Party, bei der Arbeit, beim Familienessen oder online ist, wird man stets etwas andere Seiten von sich präsentieren.
Das wird in der Psychologie durchaus mitberücksichtigt und doch kann man wissen, dass man ein offener Mensch ist, gerne in Gesellschaft, der es liebt, neue Bekanntschaften zu machen, sagen, welche Interessen man hat, was man mag und nicht mag, welche generellen Einstellungen man gegenüber Menschen hat, welche Wertvorstellungen, was einen fasziniert, abstößt und kalt lässt.
Sich nicht festlegen zu wollen oder zu können ist problematisch. Man hat zwar manchmal das Gefühl, sich alle Möglichkeiten offen zu halten, weil immer noch etwas oder jemand Besseres daher kommen könnte und dann hat man sich schon entschieden. Aber alles und nichts sind in der Logik gleichermaßen unkonkret. So zieht dann auch manchmal das Leben an einem vorbei und während andere sich in ihrem schon voll einrichten, ist man selbst in der Warteschleife, der vermeintliche Vorteil mutiert jedoch über die Jahre zum Nachteil, oft weil man Kontrolle und Autonomie behalten wollte.
Wer bin ich im Spiegel meiner Beziehungen?
Unsere verschiedenen Beziehungen und Aktivitäten bringen immer wieder auch verschiedene Rollen und Aspekte unserer Persönlichkeit zum Vorschein und verfestigen sie, je nach dem wie intensiv und anhaltend sie unser Leben begleiten. Als Mutter, Freundin, Sportlerin oder Arbeitskollegin werden jeweils andere Teile der Gesamtpersönlichkeit angesprochen und manche Beziehungen üben einen eigenartigen Sog auf uns aus und lassen uns stärker in eine bestimmte Richtung gehen, als wir wollen. Manchmal wachsen wir über uns hinaus, manchmal werden wir wie ein hilfloses Kind.
Wir können beruflich erfolgreich und durchsetzungsstark sein und uns privat in einer Beziehung befinden, in der wir erniedrigt werden. Das scheint nicht wirklich zusammen zu passen, passiert aber immer wieder, auch, dass wir als mehr oder weniger normalgesunde Menschen in Beziehungen in merkwürdige emotionale Strudel gerissen werden, die Verhaltensweisen von ihnen hervorrufen, die sie ansonsten gar nicht mit ihrem Selbstbild in Verbindung bringen.
Es kann ebenso sein, dass wir Aspekte unseres Ich selbstständig abtrennen und ein mehrfaches Spiel spielen. Die brave Tochter und Studentin, die ihr Leben als Sexarbeiterin finanziert oder der liebevolle Ehemann und umsorgende Vater, mit zahlreichen Affären. Aber auch ohne sexuellen oder manchmal kriminellen Bezug führen manche ein Art geheime Doppelleben, zuweilen in aller Öffentlichkeit.
Am Ende stellt sich psychologische Frage, ob all diese Aspekte einer Persönlichkeit in einem integrierten Selbstbild eingefangen werden können, zudem, ob man ebenfalls ein tiefes und integriertes Bild von anderen Menschen hat, mindestens von denen, mit denen man durch eine längere und tiefere Beziehung verbunden ist. Auch wenn man verschiedene Rollen spielt und zu spielen hat, ist es möglich, eine unverwechselbare Art und Weise zu haben, in der man die Dinge der Welt und die Beziehungen angeht eine Art Klammer, die uns wiedererkennbar macht, in und durch all die Beziehungen und Rollen hindurch.
Wer bin ich wirklich?
Ich las in einem langen Interview in Buchform, dass einer der wesentlichen Erkenntnisschritte von Otto Kernberg eine Begegnung mit einer schizoiden Patientin war, dessen Bedeutung ich erst nicht verstanden hatte. Er behandelte die Patientin und während einer Sitzung war sie vollkommen außer sich und in Rage, wenige Minuten später sah er sie von seinem Fenster aus auf der Straße stehen und dieselbe Patientin unterhielt sich ruhig, fröhlich und entspannt mit einer Bekannten.
Das ist dem ähnlich, was mich selbst immer wieder wundert, wenn man erlebt, wie selbstbewusst und kompetent Menschen in einer Situation agieren und wie hilflos sie im nächsten Moment sein können, nur weil der Kontext sich verändert hat. Vielleicht stößt man auf bestimmte Ängste oder Phobien eines Menschen, der ansonsten sein Leben gut im Griff hat, an einer bestimmten Stelle nahezu zerbricht, doch danach wieder derselbe ist, der er vorher war. Es erinnert mich irgendwie an Kernbergs Entdeckung.
Wir treffen immer wieder auf Menschen, die gleichzeitig hochbegabt und lebensunfähig sind, man kann gestandene Manager dadurch verunsichern, dass man sie die Schuhe ausziehen lässt und vermutlich sind wir alle limitiert in einer rapide komplexer werdenden Welt, in der uns sich verselbstständigende Systeme gerade um die Ohren fliegen, ohne dass wir so genau wissen, was passiert. In einem Bereich sind wir sicher und kennen und blind aus, im nächsten schwimmen wir irgendwie mit, in ein anderen haben wir überhaupt keine Ahnung, wovon die Rede ist.
Ein guter Punkt, zu verstehen, dass wir über Appelle hinaus wirklich in einem Boot sitzen, mal sicher, mal unsicher. Verändert man den Kontext, merkt man es sofort, die Zeiten, in denen man seine Fähigkeiten zu den wichtigsten der Welt erklärt und die der anderen als unwichtig ansieht, gehen allmählich vorbei, die Geschichten ziehen nicht mehr richtig.
Wer bin ich, aus spiritueller Sicht?
Aus spiritueller Sicht ist wieder alles anders. Die großen spirituellen Traditionen, zumeist des Ostens, aber auch einige des Westens sagen uns, dass es letztlich kein Ich gibt. Nun kann man viel behaupten, wenn der Tag lang ist, jedoch fühlen wir ja irgendwie ständig dass wir ein Ich haben oder sind. Ich erlebe mich denkend, handelnd, fühlend, kann unterscheiden, wann ich angesprochen bin und wann nicht, bei aller Unschärfe der Ränder, Möglichkeiten der Projektion.
Aus spiritueller Sicht ist das Ich das, was etwas haben und gleichzeitig etwas anderes nicht haben will. Aber wir sind dennoch damit identifiziert, denn zu sagen mein Ich oder mein Gehirn hat Durst ist eine unnötige Vervielfachung, bei ‚Ich habe Durst‘ ist bereits alles klar. Aber reicht das? Denn genau da setzten spirituelle Praktiken an und sagen: ‚Dann schau‘ doch mal genau hin, wer, wo oder was dieses Ich nun tatsächlich ist.‘
In buddhistischer Tradition entdeckt man in der Meditation, Empfindungen, Gedanken und Gefühle, die kommen und gehen, wie überhaupt alles kommt und geht. Sich an das zu klammern was kommt und daher irgendwann notgedrungen auch wieder geht, es festhalten zu wollen, ist verständlich, führt aber aus dieser sehr umfassenden Sicht einfach zwangsläufig zu Leid. Irgendwann ist es vorbei, Neues kommt, auch wenn man es weder sehen noch haben will. Die Lösung ist einfach: Identifiziere dich mit dem Wandel und alles ist gut. Nur, alles in uns ist dagegen und das was dagegen ist, wird aus dieser buddhistischen Sicht Ich genannt.
Ein anderer spiritueller Weg ist dem Ich konsequent hinterher zu gehen. Bei der Alltagsdefinition von ‚Ich bin die/der. Ich will dieses. Ich meine das.‘, die Objekte zu vergessen und direkt zum Ich zu gehen und es immer wieder zu suchen, in sich. Wer ist dieses Ich in mir, wo genau ist es? Wer bin ich? Dabei geht es nicht darum, das Ich infrage zu stellen, sondern es vielmehr zu spüren. Wenn man so will, das Ich oder Selbst hinter dem Ich, aber es geht eben nicht um eine theoretische Erörterung, sondern die direkte Erfahrung. Potente und bewährte spirituelle Praktiken lösen das Ich in der Weise auf, dass sie es erweitern.
Integration von psychologischer und spiritueller Ich-Sicht
Die Bedeutung des Ich in der Psychologie ist unbestreitbar. Schon eine Ich-Schwäche kann gravierende Auswirkungen haben, ein Ich-Verlust ist in einigen Fällen ein Notfall und entspricht einer akuten psychotischen Episode. Die spirituelle Botschaft ist dann letzten Endes aber doch, dass das Ich nicht existiert.
Irgendwie muss man diese Punkte integrieren, wenn man sich für Spiritualität interessiert. Denn im Ich, was immer es zuletzt sein mag, fließt zunächst einmal alles zusammen. Es ist die synthetische Kraft des Denkens, was den Sack – die Gesamtheit all unserer Eindrücke – sozusagen zubindet und innerlich ordnet.
Aber die Frage ist, ob dieses Ich ein gedachtes Ganzes ist und bleiben muss und was passiert, wenn man vom Ich als gedankliche Einheit zu einem Erleben, einer subjektiven Erfahrung des Ich übergeht? Man braucht Übung, doch nach einiger Zeit kann man Momente der Stille erleben und die Identifikationen mit dem Ich treten bei anhaltender Übung immer mehr zurück, ohne, dass wir von Pathologien sprechen könnten.
Dennoch ist vieles, was aus diesen Praktiken folgt, nicht leicht in unser Weltbild zu integrieren. Es scheint nach wie vor ein Übergang zu sein, von einer Position der Reflexion hin zu einer Praxis, die die Perspektive noch einmal radikal verschiebt. Wer bin ich? Die Antwort fällt auf jeder Stufe anders aus.