Der Ich-Tod wird in mystischen Schriften immer wieder angesprochen, als der fundamentale Schritt, den man im Leben gehen kann.
Dabei ist es interessant, dass dieser Schritt und die ihm zugemessene Bedeutung sehr unabhängig von der jeweiligen Zeit oder Kultur ist, anders als man erwarten sollte. Wenn man von einem außergewöhnlich großen Schritt spricht, ist es sinnvoll zunächst zu beschreiben, worum es dabei gehen soll.
Und in unserem Fall ist es noch besser zunächst aufzuzeigen, worum es nicht gehen soll, denn, wenn man sich überhaupt für die Thematik interessiert, fangen Missverständnisse an und hören auch so schnell nicht mehr auf.
Wenn vom Ich-Tod die Rede ist, dann liest man oft von der Überwindung des Ich, vom Transzendieren des Ego, oder davon als Lebender im Leibe zu sterben.
Was der Ich-Tod nicht bedeutet
Das Ich irgendwie zu überwinden klingt für uns etwas seltsam, weil man gar nicht so genau weiß, wie das gehen soll, was schon daran liegt, dass man auch nicht weiß, was das Ich eigentlich genau ist. Dazu später, doch es kommt daher zu Phantasien und Projektionen, wie folgende:
Ich darf mich nicht mehr gut fühlen
Manche glauben, dass jemand der auf Erden leidet, es im Himmel gut hat oder ein besseres nächstes Leben bekommt. Das klingt zwar etwas religiös bis esoterisch, aber wer sein Ich überwinden will, hat zumeist eine gewisse Nähe zu diesen Bereichen, da man ansonsten nicht darauf kommt, sein Ich überwinden zu wollen.
Wer in der beschriebenen Weise denkt, denkt dennoch weiter egozentrisch und verzichtet jetzt, in der Hoffnung auf ein besseres Morgen. Ob das kommt oder nicht ist dabei unwichtig, entscheidend ist, dass das Motiv noch immer vom Ich ausgeht und irgendwie auf einen Ausgleich hofft. Wer das durchschaut geht manchmal einen Schritt weiter und kommt zu der Einsicht:
Ich darf nicht mehr selbstsüchtig sein
Man will dann gar nichts mehr für sich machen, sondern will angestrengt Gottes Willen erfüllen. Meister Eckhart, einer der großen christlicher Mystiker schreibt dazu:
„Diese Menschen sagen, der sei ein armer Mensch, der nichts will. Das deuten sie so, der Mensch solle so sein, dass er an keinen Dingen seinen Willen mehr erfülle, vielmehr danach trachten solle, dem allerliebsten Willen Gottes zu folgen. Diese Menschen sind nicht übel daran, denn ihre Absicht ist gut; darum sollen wir sie loben; Gott und seine Barmherzigkeit erhalte sie. Aber ich sage mit guter Wahrheit, dass sie keine armen Menschen und nicht armen Menschen gleichzustellen sind. Sie sind in der Leute Augen gross geachtet, die sich auf nichts Besseres verstehen. Doch sage ich, dass sie Esel sind, die von göttlicher Wahrheit nichts verstehn. Mit ihren guten Absichten können sie vielleicht das Himmelreich erlangen, aber von dieser Armut, von der ich jetzt künden will, von der wissen sie nichts.“[1]
Im weiteren Verlauf der Predigt erklärt er warum.
Ich darf kein bedeutungsloses Leben führen und keine Zeit durch unwichtigen Kram vergeuden
Zumindest nicht, wenn ich ernsthaft und aufrichtig mein/das Ich überwinden will. Das klingt eher nach einer Mischung aus evangelischer Arbeitsmoral und Managementseminar, auf der anderen Seite ist da etwas dran. Es gibt gewöhnlich zwei eigene Motive das Ich abstreifen zu wollen. Entweder man hat die Welt satt oder einen Hunger nach Transzendenz. Oder man ist in eine Tradition eingebunden, in der dies ein Ziel ist.
Der Blick auf die Zeit hängt wiederum stark von dem dahinter stehenden Weltbild ab. Glaubt man an viele Inkarnationen, was spielt es dann für eine Rolle, ob man 5 oder 20 Jahre verplempert? Dass man dann doch nicht so richtig Gas gibt, kann verschiedene Gründe haben, vermutlich sind die meisten vorgeschoben und der wahre Grund lautet, dass man das Ich eigentlich gar nicht überwinden will, zumindest nicht so richtig, wenn man begreift, dass das mit dem Ich-Tod ernst gemeint ist. Am Ende will ich etwas davon haben, dass ich mich auf dies und das einlasse und das könnte der Grundfehler sein, wenn das Ich die Quelle für Leid ist. Wir kommen gleich darauf zurück.
Ich muss ganz natürlich oder spontan sein
Kamen die ersten Vorstellungen eher aus der westlichen Tradition, so kommt diese aus einer westlichen Adaptation östlicher Religionen und spiritueller Praktiken. Oftmals wird die Natürlichkeit oder Spontaneität unseres erleuchteten Seins betont und so versucht man, wenn man das überzeugend findet, oft sehr angestrengt ganz natürlich oder spontan zu sein. Der Kommunikationstheoretiker und Psychotherapeut Paul Watzlawick hat auf die Paradoxie der ‚Sei spontan‘ Aufforderung (von außen oder an sich selbst) hingewiesen, denn man ist dann alles, aber nicht mehr spontan und natürlich, wenn man so sei will. Man ist es genau dann, wenn man es nicht zu sein versucht.
Ich muss etwas glauben
Wir wollen in unserer Zeit ungern etwas glauben. Das ist soweit okay, verhindert aber manchmal die Einsicht, dass wir auch dann glauben, wenn wir meinen, es nicht zu tun. Wenn man meint ein Blick auf die Fakten würde reichen, dann ist das erkenntnistheoretisch naiv. Insofern ist das Bekenntnis gar nichts zu glauben oft eine Absage an einen Gott, einen Guru, eine Lehre, ein Konzept, von all dem möchte man frei sein, glaubt aber oft selbst die richtige Mischung gefunden zu haben. Auf diese Art klammert sich natürlich an das Ich.
Der weitere Punkt ist, dass man sich ebenso an das Ich klammert, wenn man meint, der richtigen Lehre zu folgen, gleich, ob ihre Hintergründe politisch, religiös oder naturalistisch sind. Die Verbindung ist die, dass man überzeugt ist der richtigen Lehre zu folgen und alle anderen nicht.
Aber muss man nicht auch glauben, dass es das Ich nicht gibt? In einem geringen Umfang ja, denn sonst fängt man keine Praxis an, die das erforscht. Der Vorteil ist, dass diese Praxis schnell und einfach ist. Eine andere Frage ist aber durchaus relevant:
Was hat das alles mit dem alltäglichen Leben zu tun?
Sind das nicht einfach irgendwelche verstiegenen akademischen, esoterischen oder religiösen Diskussionen? Warum sollte mich das im normalen Alltag interessieren? Da muss ich vielleicht einen Kita-Platz finden, einen Job, habe Ärger mit der Vermieterin oder der Freundin. Natürlich gibt es immer auch tiefer verzweifelte Menschen, mit riesigen Problemen.
Menschen, die sich Sorgen um sich selbst machen, solche, die sich um andere oder die Zukunft des Planeten sorgen und oft ist beides verbunden, weil wir keine gefühlskalten Klötze sind, denen andere völlig egal sind, können von der Ichlosigkeit und ihren Vorstufen besonders profitieren und das möchte ich kurz erläutern.
Erfahrungen des Lebens können uns wirklich niederknüppeln und einer der Wege dort hinaus ist die Quelle des Leidens anzugehen und nach Meinung vieler ist das das Ich. Eine der depressiven Grunderfahrungen kann sein, dass man das Gefühl hat, das Leben habe keinen Sinn mehr. Wenn man das meint, kann man seinem Leben einen Sinn geben, indem man sich einer Sache total in den Dienst stellt. Wenn ohnehin alles egal ist, kann man alles tun, damit der Klimawandel nicht fortschreitet oder was auch immer man findet, was der eigenen Existenz wenigstens etwas Sinn verleiht.
Oder man macht das, was man immer schon mal tun wollte, aber sich nie getraut hat. Was war bis jetzt meine größte Hürde im Leben? Irgend etwas hat vermutlich jeder und wenn nichts mehr sinnvoll erscheint, hat man auch nichts mehr zu verlieren und kann genau das tun. In dem Augenblick in dem einem alles egal ist, ist man auch unendlich frei.
Ein bisschen mag man das kennen, wenn ein Lebenstraum, mit dem man stark identifiziert war, geplatzt ist. Eine Option für eine Liebe des Lebens, einen intensiven Berufswunsch oder was auch immer ist definitiv vorbei und man kann sich nicht mehr vormachen, es würde vielleicht später noch mal dazu kommen, der Traum ist aus. Die Straßen durch die man geht, sind noch immer dieselben, die Welt hat sich äußerlich nicht verändert, doch innerlich spürt man, dass alles anders ist: einerseits ist alles leer, andererseits ist man unendlich frei. Vielleicht ist das Ich noch nicht tot, vielleicht aber für einen Moment doch, aber ein großer Teil dessen, womit sich das Ich identifizierte ist gestorben. Was herrschte dabei vor, als Sie das vielleicht erlebt haben? Freiheit, Leere? Wer aus Verzweiflung sein Leben wegwerfen will, könnte statt dessen versuchen, sein Ich sterben zu lassen, aber gehen wir den nächsten Schritt in Richtung große Befreiung.