Soll man das Ich denn nun stärken oder doch nicht?
Eine recht grundsätzliche Frage ist, ob der Ich-Tod überhaupt wünschenswert ist und was er nun bedeutet. Denn ein Ichverlust tritt auch im Rahmen einer Psychose auf und das will man in aller Regel nicht erleben. Und überhaupt: Sollte man bei Ich-Schwäche nicht alles dafür tun das Ich zu stärken? Resilienter zu werden, Grenzen zu ziehen, sich an seine Fähigkeiten und psychischen Ressourcen zu erinnern, damit man weniger leidet?
Doch im Grunde sind Ich-Entwicklung und Ich-Tod eine weiter fortschreitende Entwicklung, bei der das Ich immer mehr Welt integriert und Welt meint dabei nicht nur Außenwelt, sondern auch Innenwelt, das Verständnis der Zusammenhänge wird immer umfassender. Das Ich stand bei Freud noch der Welt gegenüber, in der Objektbeziehungstheorie ist es schon viel mehr in Welt eingebunden, hier entsteht das Ich aus verinnerlichten Beziehungen zu für das eigene Leben wichtigen anderen Menschen.
Diese Wendung nach Innen ist der eigentliche Punkt, der beim Ich-Tod immer stärker zugespitzt wird. Es gibt den arroganten Abbruch der Kommunikation der Narzissten. Der überlegene Gott zieht sich in seine Sphäre zurück, weil er die Durchschnittlichkeit der Welt nicht mehr erträgt. Entweder er kapselt sich schweigend ab oder nimmt sich bei schweren narzisstischen Kränkungen das Leben, doch dieser physische Tod ist gerade kein Ich-Tod, sondern Selbsttötung aus Kränkung, eine Tat die voll aus dem schwachen, aber zum grandiosen Ich kompensierten und dann zusammengebrochenen Ich resultiert. Narzissten sind mit anderen gerade nicht gut verflochten, sie sehen immer nur sich, die anderen sind ihre Dienstboten und Spielzeuge, zur Wahrnehmung einer vollständigen Persönlichkeit bei anderen reicht es nicht.
Beim Ich-Tod oder auf dem Weg dort hin ist dieser Punkt komplett anders. Man rückt nicht von den anderen ab, sondern kommt ihnen immer näher. Der Gestus der Überlegenheit schwindet immer mehr, man versteht die anderen nicht nur, wie man die Funktion eines Motors versteht, sondern man ist mit warmer Empathie mit ihnen verbunden. Man versteht die verschiedenen Menschen und ihre jeweilige Sicht auf die Welt immer besser. Der Schritt zum Ich-Tod ist jedoch dennoch radikal.
Die Praxis der Wendung nach Innen
Wenn man sagt, dass das Ich eigentlich nicht existiert, dann ist damit nicht gemeint, dass mein Ich nicht existiert, sondern überhaupt keines. In gewisser Weise existiert es als Illusion, solange man das Spiel des Ichs spielt, das sich ständig seiner Existenz versichern will. Wie tut es das? Indem es ständig aktiv ist und sich und anderen beweist, dass es existiert. Es folgt seinen Gedanken und Gefühlen, es verbindet sich gedanklich mit einem Körper und agiert mit diesem, kurz, das ganz normale Spiel, was wir kennen.
Die Problematik liegt nun eher darin zu begreifen, dass und wie es auch anders gehen könnte. Die Technik ist sehr einfach, die Schwierigkeit ist, dass man das nicht will. So gut wie niemand will sein Ich loswerden, sondern diesem/sich die Bedingungen angenehmer gestalten und das geht prinzipiell schief, weil das Ich durch die Abtrennung, Grenzsetzung, Anklammerung die Quelle des Leidens darstellt. Das ist die Einsicht oder Analyse des Buddhismus.
Die Ausnahmen sind Menschen, die einen Hunger nach Transzendenz verspüren, aber eben auch solche, die intensiv leiden und die Welt im Grunde satt haben. Nicht alle, aber einige von ihnen wollen ihr Ich loswerden, können sich das zumindest vorstellen. Eine spirituelle Antwort darauf ist die Erkenntnis, dass es das Ich gar nicht gibt. Da es sich aber ständig seiner Existenz versichert, ist das erst mal schwer zu verstehen. Man kann nun viele Wege gehen, um zu merken, dass das Ich vielleicht anders ist, als man meint und um eventuellen Egozentrismus abzuschwächen.
Der direkteste Weg ist aber, das Ich zu suchen und zu stellen. Wie geht das? Indem man sich bei allen möglichen Arten von Gedanken, Gefühlen und Komplikationen im Leben fragt, wer es ist, der diese Gedanken, Gefühle und Komplikationen hat, empfindet. Die Antwort ist immer dieselbe und einfach: Ich natürlich. Der nächste Schritt ist, dass man versucht dieses Ich zu finden. Dazu ist es nötig erneut darauf hinzuweisen, wie sich das Ich seiner Existenz versichert.
Es erzeugt laufend Identifikationen oder Geschichten. Ich bin der oder die, liebe den, habe Freunde, jenen Beruf, diese Hobbys und Einstellungen. Aber was bleibt, wenn man das Ich von seinen Eigenschaften und Leidenschaften befreit? Wer bin ich wenn ich mich nicht über Job, Freunde und bestimmte Eigenschaften definiere? Wenn ich das ‚Ich fühle mich oft einsam‘, ‚Ich engagiere mich für den Klimaschutz‘ oder ‚Ich habe mehrere Online Profile‘ weglasse. Wer bin ich dann? Wenn ich zu meinen Gedanken und Gefühlen sage: Gut, das sind meine Gedanken und Gefühle, aber wer bin ich? Wo und was bin ich?
Wenn Sie da nicht fündig werden, nun, so geht es anderen auch und genau darum geht es. Sie finden einerseits kein Ich und dennoch sind Sie ja. Wer oder was sind Sie denn nun eigentlich?
Klappt das denn?
Wenn Sie nun aus bestimmten psychologischen, religiösen oder spirituellen Gründen zum Kampf gegen das Ich blasen, stärken Sie es nur. Eine Illusion muss nicht bekämpft werden, dass schenkt ihr nur erneute Aufmerksamkeit. Der andere Weg ist hinzuschauen und zu sehen, dass da ja gar nichts ist. Das ist der eine Aspekt. Aber man existiert ja und das ist der andere.
Die Technik geht nun so, dass man sich immer wieder nach innen wendet und fragt, wer all diese Eindrücke, Empfindungen, Gefühle und Gedanken hat, die Antwort wird erneut sein: ‚Ich natürlich‘ und sich dann wieder fragt: ‚Wer bin ich?‘, also sich auf die Suche nach diesem Ich macht. Erneut: Bewusst ist man ja dennoch. Wenn ich kein Ich finde, aber bewusst bin, wer oder was bin ich denn dann eigentlich?
Man kann es das Selbst nennen und einer der schwierigen Punkte ist, dass nicht jedes Ich ein Selbst hat, sondern, dass es ernst gemeint ist, dass es das Ich nicht gibt und es daher nur das Selbst gibt und zwar genau eins. Die Vorübung, den anderen empathisch immer näher zu rücken weist in diese Richtung, bei dem einen Selbst mach man dann Nägel mit Köpfen. Aber es geht nicht darum, dass man das jetzt glauben muss, weil an etwas zu glauben oder diesen Glauben leidenschaftlich zu bekämpfen, der Hinweis lautet, genau hinzuschauen.
Wer erste Erfolge hat, wird sehen, dass das Ich sich immer wieder mit einer gewissen Leidenschaft auf alle möglichen Gedanken stürzt, um sich erneut Existenz selbst zu versichern, denn dann bin ich mir meiner ganz gewiss, weil ich derjenige bin, der diese Gedanken hat. Die Gedanken angestrengt stoppen zu wollen, ist kaum möglich, weil die Gedanken eben ständig umher wandern. Aber den zu suchen, der denkt, das ist möglich. Ich bin es. Aber ziehe ich die Gedanken von eben von dem Ich ab, finde ich es wiederum nicht. Aber das kann und soll man selbst probieren.
Die Grundregel ist, dass das Bewusstsein oder Gewahrsein die Wendung nach innen ist, die Wahrnehmung von etwas ist nach außen gerichtet. Ich bin ja immer schon bewusst, weil mir von etwas – einer Wahrnehmung – bewusst zu werden bedeutet, dass ich bereits bewusst bin. Dabei entstehen noch manche Detailfragen, aber die Grundtechnik ist einfach und die Frage ob das denn klappt, weicht dann eher der, ob man das denn will. Will man sein Ich und die Illusion loswerden? In aller Regel möchte man es behalten und den letzten Schritt gerne auch später verschieben, es reicht einem, wenn es einem erst mal etwas besser geht. Das ist die fundamentale Grenzlinie.
Mystiker aller Zeiten und Kulturen haben diese Grenze überschritten, sind den Ich-Tod gestorben und haben die große Befreiung und das Selbst gefunden. Wer eine Hunger nach Transzendenz hat, merkt das selbst, aber auch wer sein Leben gründlich satt hat, könnte sich hiervon angesprochen fühlen. Dieser Ansatz steht nicht in Konkurrenz zu anderen, die das Ich stärken und wie wir sahen, ist Ich-Stärke kein Hindernis um effektive spirituelle Wege zu gehen.
Quellen:
[1] Meister Eckharts mystische Schriften. Berlin 1903, S. 102-112, http://www.zeno.org/nid/20009222642