Wie sich die eigene Lebensgeschichte entwickelt

Steht nicht im Lebenslauf, aber es könnte einer der wichtigsten Momente in ihre eigene Lebensgeschichte sein. © John Brighenti under cc
Sie entwickelt sich durch Erfahrungen aller Art. Frühkindliche Beziehungen, die wesentlich darüber entscheiden, ob wir die Welt als einen freundlichen Ort, sowie uns und unsere Mitmenschen als eigenständige Menschen erleben. Erfahrungen des Lebens, mit jenen biographischen Daten, die in etwa dem entsprechen, was wir in einen Lebenslauf schreiben würden. Doch diese öffentlichen Daten haben noch eine private Innenseite, in der es darum geht, wie ich mein Leben eigentlich erlebe. Wie waren diese Ereignisse eigentlich für mich? Wie habe ich meine Schulzeit empfunden, wie ist ihre Bedeutung im Vergleich zu nächtlichen Gesprächen mit Freunden. Was erlebe ich, wenn ich arbeite, lese oder Sport mache?
Das steht in keinem Lebenslauf, aber die eine Nacht, in der man mit einem anderen Menschen die eigene Zukunft erträumt hat oder der Tag, an dem man beschlossen hat, kein Fleisch mehr zu essen, das Buch oder Video, das einen zum anderen Menschen gemacht hat, der Tag, an dem man sein geliebtes Haustier bekam, als man zum ersten mal mit einem anderen Menschen intim wurde, kann für die eigene Lebensgeschichte viel bedeutender sein, als Einschulung, Abschluss und sonstige Eckdaten.
Was hat mich dazu bewogen, meine Einstellung in einer bestimmten Frage zu ändern? War das ein markantes Ereignis oder so ein schleichender Übergang? Im privaten Umfeld von Freunden und Familie geht es viel mehr um unsere Einstellungen, als unsere biographischen Eckdaten. Man erzählt nicht jedes Mal, dass man Krankenschwester, Heizungsbauer oder Lehrerin für Sport und Deutsch ist, sondern man wird für bestimmte Charaktereigenschaften und Einstellungen geschätzt oder eben auch kritisch gesehen.
Dafür, dass man jemand ist, auf den man sich verlassen kann. Dass man stets ein sonniges Gemüt hat. Dass man sich die Ideen anderer wirklich gründlich und ohne Vorurteile anhört. Man mag es weniger, wenn jemand kalt, abweisend und arrogant ist oder wirkt. Wird dieser Mensch selbst dazu befragt, hört man manchmal, er oder sie sei ganz einfach introvertiert, schüchtern und wolle nichts Falsches sagen. Auch hier lohnt es sich manchmal nachzufragen.
Wie man selbst wirkt, weiß man oft nicht, bekommt es aber immer wieder von anderen gespiegelt. Manchmal passt das zu dem, was man über sich selbst denkt, manchmal gar nicht. Irgendwann entdeckt man, dass verschiedene Menschen auch sehr unterschiedliche Meinungen über einen selbst haben können und das bringt einen eventuell dazu, nach einer Zeit der Verwirrung mehr darauf zu achten, wie man sich eigentlich selbst erlebt.
Allgemeine Erklärungen für die eigene Lebensgeschichte
Doch wenn schon verschiedene Menschen aus dem persönlichen Umfeld manchmal sehr Unterschiedliches über einen denken – oft das, was zu ihrem Weltbild und ihrer eigenen Lebensgeschichte passt – so gibt es auch noch öffentliche Großerzählungen anhand derer das Verhalten von uns privaten Menschen vergleichsweise einfach entlang einer Idee erklärt werden soll.
Zum Beispiel die Idee, dass wir letztlich doch alle nur Säugetiere, Trockennasenaffen, sind und uns also auch nur gemäß alter biologischer Muster verhalten. Alles ist irgendwie Imponiergehabe, weil es doch immer um den Wunsch geht, seine Gene zu verbreiten: Sie ist eben hübsch, er kräftig und ein natürliches Alphamännchen, wer im Genlotto Pech hatte muss eben Lieber schreiben oder sich als treu und fürsorglich verkaufen. So einfach ist die Biowelt.
Die steht aber nun gerade in unserer Zeit wieder unter Beschuss – bis vor kurzem war diese Lesart noch der Renner – denn ein konträres Weltbild sagt, im Grunde sei doch alles soziale Konstruktion und das reduzierende Spiel von zwei Geschlechtern und einer möglichst monogamen, heterosexuellen Partnerschaft und Fortpflanzung sei nur das Erbe einer paternalistischen Gesellschaftsform, die die Vielfalt des Möglichen einfach nur immer wieder in ihr starres Muster presst.
Die eigene Lebensgeschichte durch die Brille der Kapitalismuskritik betrachtet greift die Rolle tradierter Herrschaftsstrukturen auf und sagt, dass unser Leben niemals wirklich freie Entscheidungen ermöglicht, weil unsere Wünsche nach Konsum, Besitz, Urlaub und dergleichen sich immer schon innerhalb dieser Strukturen bewegen, die nie infrage gestellt werden und viel mehr alles zu Ware wird, neuerdings auch Partnerschaft, siehe die Dating-Apps.
Plus beliebig vieler weiterer Theorien über den Menschen als Spielball der Geopolitik, als Geschöpf Gottes, als baldiges Opfer der KI, Ideen, dass der Mensch des Menschen Wolf ist, aber auch, dass er prinzipiell kooperativ ist.
Diese allgemeinen Vorschläge zur Deutung des Verhaltens von einzelnen Menschen mischen sich also noch zu den unterschiedlichen Interpretationen, die diverse Mitmenschen über uns haben. Das heißt, bin ich nun eigentlich eher so, wie mein bester Freund mich sieht, mein Nachbar, der mich nicht leiden kann, mein Chef, der meine Arbeit schätzt, sich aber nicht für mich interessiert? Oder verhalte ich mich doch mehr wie ein Säugetier, das einfach ein paar Trieben folgt oder wie jemand, der durch soziale Rollen festgelegt ist? Stimmt irgendwie alles klingt immer gut, hilft nur meist nicht weiter.
Der sich selbst entwerfende Mensch
Darum kann man auch sagen, dass die ganzen Theorien gewiss irgendwie interessant sind, aber ist es nicht ebenso interessant und viel entscheidender, wie ich mich selbst sehe? Manche Theorien kann man dazu gebrauchen, andere weniger. Aber besteht nicht die Gefahr, dass man sich dabei in eine zu gutes Licht rückt? Gewiss, aber andere können einen korrigieren und tun das auch, wenn man offen dafür ist und warum sollte man prinzipiell unaufrichtig sein? Zudem gibt es auch Menschen, die sich immer kleiner machen, als sie sind.
Wir sind immer auch Menschen, die sich selbst entwerfen. Wir schreiben unsere Lebensgeschichte maßgeblich mit, selbst wenn wir keine Scheuklappen aufsetzen und die Kritik anderen annehmen und einbauen. Man kann andere nicht dazu zwingen, unsere Einschätzung über uns selbst zu teilen, aber wenn es um die Auskunft über uns selbst geht, sind wir die ersten Adressaten.
Nicht alle Fragen können wir selbst beantworten: Ob unser Leben erfolgreich war, müssen andere beurteilen. Aber ob es ein gutes und gelungenes Leben war, was sich gelohnt hat, können nur wir entscheiden. Wir wissen, ob wir Freunde hatten oder das, was wir für uns erreichen wollten, erreicht haben, wir wissen, was uns wirklich wichtig war und ist. Andere können sagen, wir hätten mehr aus unserem Talent machen können oder eine Umsetzung als gescheitert oder großartig bewerten, aber das ist eben nicht alles. Aber was hat man davon, ein Superstar zu sein, wenn es eine Horrorvorstellung ist, im Licht der Öffentlichkeit zu stehen?
Man schreibt die eigene Lebensgeschichte immer mit. Das bedeutet nicht, dass man sich sein Leben lediglich schön redet und dies keinerlei Einfluss auf den realen Lauf der Dinge in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft hat. Ganz im Gegenteil, wird immer klarer, dass die Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte eine eigene therapeutische Wirkung hat.
Man wird nicht nur strukturierter, auch die Möglichkeit die eigene Lebensgeschichte ganz anders sehen zu können als andere erweitert unsere Möglichkeitsraum. Das ist nicht irgend etwas, kein so tun als ob, sondern ein Akt der Freiheit. Sie ist nicht beliebig, aber Freiheit ist auch nicht auf Willkür errichtet, sondern die Kehrseite der Freiheit ist Verantwortung.
Wie war es denn nun wirklich?
Unser Hang die Subjektperspektive zu ignorieren und zu fragen, wie etwas denn nun wirklich war oder ist, beruht auf dem inzwischen immer klarer erkannten Fehler, dass es von oder zu allem eine objektive Sicht gibt, die uns dem nahe bringt, wie etwas wirklich ist. Aber insbesondere bei einem Menschen, mit einer ausgeprägten Subjektperspektive, der also mit anderen Worten seine Lebenswirklichkeit erlebt, wie eben nur er sie erlebt und erzählen kann, kann man das, was uns in einem hohen Maße zum Menschen macht, nicht einfach wegstreichen, zugunsten allgemeinerer, vermeintlich objektiver Geschichten.
Manchmal hilft es andere Erzählungen mit einzubinden, wenn unsere eigenen nicht mehr reichen. Eine aufdeckende Therapie lässt die Patienten ebenfalls ihre Geschichten erzählen und bietet dann für bestimmte Bereiche Deutungsangebote an, die uns helfen sollen unsere Lebensgeschichte anders, erweitert zu sehen. Auf diese Weise können uns auch allgemeine Theorien helfen, ebenso die Meinung von anderen über unsere Art und Weise. In erster Linie helfen sie uns dabei bestehende Unwuchten und kleine Widersprüche auszugleichen und in ein größeres Ganzes zu integrieren.
Die Art der Lebensgeschichten ist unterschiedlich, für manche müssen sie eher stimmig sein, bei einem Verzicht auf biografische und empirische Details, für andere sind gerade diese Details wichtig. Manchmal steht man vor mehreren gleichwertigen Möglichkeiten, die alle plausibel klingen und man muss es vorerst offen lassen, welche Geschichte fortgeschrieben wird, es könnten auch mehrere Stränge sein,
Haben wir bestimmte psychische Eigenschaften aufgrund von Glück oder Pech im genetischen und soziokulturellen Lotto? Ein Glücksspiel, entlang der statistischen Verteilung, letzten Endes ohne Sinn? Aufgrund dieser Mischung ist man eben ängstlich oder was auch immer. Die Angst von Spinnen oder Schlangen ist dann ein Relikt aus sehr frühen Zeiten, warum sie heute noch manche Menschen im Übermaß quält, ist eben Pech.
Oder sind bestimmte Eigenschaften die transgenerationale Weitergabe von erlittenen Traumata, die etwa seltsame Ängste durch Erlebnisse in der Familie Großeltern erklären können? Oder werden bestimmte familiäre Geheimnisse und dunkle Flecken gerade dadurch tradiert, dass sie niemals aufgedeckt wurden, man aber am Verhalten der Familie spürt, dass das irgendwas ist, ein Bereich den vielleicht niemand erwähnt? Ein familiäres Tabu, das nie angetastet wird, aber gerade dadurch spürbar ist?
Ist es so, dass man durch die Kette früherer Leben geht und bestimmte Muster einen über Inkarnationen immer wieder verfolgen, bis man sich ihnen widmet? Trifft man Menschen, die von jetzt auf gleich eine hohe Bedeutung im eigenen Leben bekommen, weil man sich aus früheren Leben kennt?
Wenn man mit solchen und vielen weiteren offenen Strängen spielt, die alle parallel eine konsistente Weitererzählung ermöglichen, so kann das vielleicht verwirren, so dass es für manche besser ist, sich auf eine Lesart zu beschränken. Doch es kann auch ein reiches und faszinierendes Spiel sein, wenn äußerlich gesehen wenige und nicht einmal spektakuläre Ereignisse zur Fortschreibung mehrerer paralleler Stränge der eigenen Lebensgeschichte führen.
Die eigene Lebensgeschichte zu entwerfen ist ein kreativer, strukturierender und sich selbst verpflichtender Akt, der in die Freiheit weist und gerade daher in mehrfacher Hinsicht lohnenswert.