Dass wir in Zeiten einer Demokratiedämmerung leben, ist eine weitere verstörende Gegenwartsdiagnose. Doch sie ist zu gut, um ignoriert zu werden.
Die Zeit der Krisen setzt vielen von uns zu. Es macht keinen Spaß von einer weiteren zu hören, doch wir werden durch bloßes Wegschauen die Situation nicht verbessern und wer ahnt, was kommt, kann sich darüber Gedanken machen, ob und wie man gegebenenfalls darauf reagieren möchte.
Demokratiedämmerung ist der Titel eines Buches von Veith Selk. Schon, dass es im Suhrkamp Verlag erschienen ist, zeigt, dass es kein populistischer Reißer ist, sondern ein nüchtern durchdachtes Buch zwischen Politik-, Sozialwissenschaft und Philosophie. Darum gibt es auch kein Ende mit einfachen Rezepten, was man schnell mal eben tun müsste, damit alles wieder so wird, wie wir es gerne hätten.
Gründe für die Dämmerung
Die Gründe des Niedergangs sind miteinander wechselwirkend und von Selk oft anders beschrieben und gewichtet, als man es von anderen Autoren hört. Wurde in der nahen Vergangenheit nicht selten die Politikmüdigkeit kritisiert und die Empörung beschworen, so sieht Selk die Politisierung aller Lebensbereiche als ein Problem an. Wir haben das hier auch öfter kritisiert, dass alles im Leben auch ein Statement zu sein hat, bis hin zu einer Bekenntniskultur, streng nach simplen Mustern, die sich artig entlang der Stereotypisierungen der politischen Lager ausrichten.
Der nächste Grund ist, dass die Welt, die uns umgibt, immer komplexer wird. Wir haben es selbst erlebt, mussten wir uns eben noch in einem Crashkurs in Virologie und Epidemiologie einarbeiten und uns ein Urteil über Migrationspolitik, den demografischen Wandel und den des Klimas bilden, so müssen wir heute Experten über Militärstrategien und Waffensysteme sein. Zwar wissen wir, dass jeder Deutsche im Nebenberuf ein Fußballbundestrainer ist, aber irgendwann ist die Ausdifferenzierung der vielen Themen überfordernd. Die Welt wird komplexer und nicht mehr verstanden, jedenfalls von immer weniger Menschen. Das wird uns noch beschäftigen.
Die Reaktion auf die Komplexität ist ein Zerfall in verschiedene Lager, eines vertritt die Idee der Expertokratie. Nur Experten des Fachgebietes können die Tragweite einer bestimmten Problematik noch verstehen, insofern sollten sie der Politik sagen, wie entschieden wird. Das ist aber ein Verständnis von Demokratie, in der eine wissende Elite über Köpfe der unwissenden Mehrheit entscheidet. Die Expertokratie haben wir etwa beim Klimaschutz und Corona erlebt.
Die nächste Reaktion eine Governance, ein mehrdeutiger Begriff, den man darauf herunterbrechen kann, dass er organisierte Einflussnahme auf die Politik durch Weltbank, EU aber auch Organisationen der Zivilgesellschaft meint. Das Problem ist, laut Selk, dass die Bürger nicht als gleichberechtigte Partner in diesen Netzwerken agieren und letztlich oft nicht mehr bleibt, als das Gefühl mitreden zu können, ohne echte Auswirkung. Demokratietheoretisch sollte der Einfluss engagierter Bürger zwar stärker sein und gemäß der deliberativen Demokratietheorie über die öffentliche Meinung auch die Politik stärker beeinflussen, doch es sieht kaum danach aus, dass das heute noch gilt.
Die dritte Reaktion ist der Populismus, der zwei Funktionen hat. Zum einen profitiert er von der realen Schwäche der Demokratie und legt zugleich den Finger in die Wunde, nur sind seine Lösungskompetenzen nicht vorhanden. Politischer Populismus ist heute dominant Rechtspopulismus, aber auch andere Formen sind weiter aktiv, wie man sie bei Vertretern der Querfront sieht, bei denen sich eine Ablehnung einer Elite und der Massenmedien trifft, über die politische Heimat hinaus.
Selk analysiert den Rechtspopulismus ohne große Emotionen und unterscheidet ihn vom Rechtsextremismus, was durchaus entspannend wirken kann und einen Raum für Diskussionen ermöglicht. Doch der Populismus ist keine Lösung.
Zwei Arten wahrer Demokraten, die keine sind, sich aber so fühlen
Das Auseinanderbrechen der intellektuellen und monetären Mittelschicht ist problematisch. Denn die Mittelschicht teilt gemeinsame Alltagspraktiken, Überzeugungen und Werte. Aus dem Auseinanderbrechen ergeben sich zwei Gruppen. Die einen definieren sich darüber, dass sie nicht nur alle vier Jahre zur Wahl gehen, sondern, dass sie sich darüber hinaus auch noch politisch engagieren und selbst als „Gute Demokraten“ sehen. Jedoch zeigen die empirischen Befunde überall, dass sich die Kluft zwischen den politisch Reichen und Armen so nur noch mehr vergrößert und die politische Partizipation der Bürger zu keinem sozialen und politischen Ausgleich geführt hat.[1]
Der kleinen Gruppe der selbsternannten guten Demokraten steht die größere der Populisten, in der Mehrheit Rechtspopulisten, gegenüber. Diejenigen, die nicht offen antidemokratisch sind, fühlen sich oft missverstanden und sehen sich oft sogar als die wahren Demokraten an. Man will mehr direkte Demokratie, mehr nationale Mitbestimmung gegen die EU und ihre Bürokratie. Doch dagegen steht, dass die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sehr oft wirklich komplexer werden und man den Populisten im besten Fall noch zugute halten kann, dass ihre Diagnosen treffend sind, doch die Lösungen sind in aller Regel simpel und monokausal.
Das kommt gut an, hilft aber nicht. Man könnte argumentieren, ob die Lösungen und das Verständnis der Probleme angemessen ist, sei letztlich egal, solange das gemacht wird, was die Mehrheit will, denn allein das sei Demokratie. Doch hier klärt Selk uns auf:
„Das von Greven nach dem italienischen Politikwissenschaftler Giovanni Sartori bezeichnete Kriterium besagt, dass die Demokratie von allen politischen Regimeformen die komplizierteste ist, sie aber nur dann bestehen kann, wenn ihre Prinzipien, Institutionen und Prozesse von den Durchschnittsbürgern verstanden werden. Alle anderen Regimeformen könne mit politisch unwissenden Bürgerschaften gut leben, die Bürgerschaften von Demokratien hingegen müssen Politik in ihren inhaltlichen und prozeduralen Grundzügen verstehen.“[2]
Der Zerfall der intellektuellen und moralischen Mittelschicht, als auch der finanziellen, ist also ein echtes Problem, sowohl der Zerfall in jene guten Demokraten, die sich tatkräftig engagieren, als auch in jene anderen wahren Demokraten, die denken, allein die Mehrheit zu erreichen und sei sie populistisch, sei ausreichend.
Die Grenzen der Reparaturmöglichkeiten
Viele fordern, einfach mehr direkte Demokratie einzuführen, was aber in Konflikt mit dem oben erwähnten Sartori-Kriterium kommt. Mehr Bürgerbeteiligung über Sachverhalte, die nicht verstanden werden, ist keine Demokratie. Es wird in dem Zusammenhang gerne auf die Schweiz verwiesen, aber die Schweiz verfügt über eine ausgesprochen stabile Mittelschicht, während diese in Deutschland schrumpft.
Gravierender ist aber der Zerfall der intellektuellen Mittelschicht. In der Schweiz bekommen die Bürger über das Thema der nächsten Bürgerabstimmung ausführliche Broschüren zugeschickt. Bei uns ist das schwierig, da wir nach jüngsten Studien einen erschreckend hohen Grad an fehlender Lesekompetenz haben.
„Der Befund lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass von den 51,5 Millionen deutschsprachigen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren, ganze 16,8 Millionen nicht das Grundschulniveau des Schriftdeutschs erreichen.“[3]
Das ist etwa ein Drittel und da helfen dann auch keine noch so ausführlichen Broschüren.
Zur Idee der üblichen Demokratietheorie gehört, dass sich die Bildungsasymmetrien in der Bevölkerung nach und nach schließen, durch eine Nachbildung der Bevölkerung auf diversen Wegen. Doch auch das findet nicht statt, die Lücken werden immer größer, so wie auch der Einfluss der Bevölkerung, wie oben beschrieben, gering bleibt. Die Asymmetrien wachsen und das ist nicht gut, weil auch andere Gemeinsamkeiten, wie in etwa die Orientierung an annähernd gleichen Themen, zunehmend wegfällt.
Devolution, Progression und Regression und deliberative Demokratie
Die vier vorgestellten Zusammenhänge Politisierung, Differenzierung (alles wird komplexer), Kognitionsasymmetrie (die Komplexität wird stark unterschiedlich verarbeitet) und die Vertiefung der soziopolitischen Ungleichheit fasst Selk mit dem Begriff der Devolution der Demokratie zusammen.
Ihm ist es wichtig zu betonen, dass sein Modell keines der Regression ist, sondern der Progression. Die Demokratie selber hat diese Stufe erreicht und wird dysfunktional, weil sie demokratisch ist, nicht weil sie undemokratisch ist. Dennoch gibt es als Reaktion regressive Elemente, vor allem die Regression der Massen, die Selk nicht erwähnt. Die politische Progression darf nicht mit der psychologischen Regression verwechselt werden, beide bedingen einander.
Das Modell für Demokratie schlechthin ist bei uns das deliberative, das wesentlich auf Jürgen Habermas zurückgeht. Bei Wiki finden wir:
„Die Deliberative Demokratie (entlehnt von lateinisch deliberatio ‚Beratschlagung, Überlegung‘) betont öffentliche Diskurse, öffentliche Beratung, die Teilhabe der Bürger an öffentlicher Kommunikation und das Zusammenwirken von Deliberation und Entscheidungsprozess. Der Begriff Deliberative Demokratie bezeichnet sowohl demokratietheoretische Konzepte, in denen die öffentliche Beratung zentral ist, als auch deren praktische Umsetzung. Wesentliches Kennzeichen einer deliberativen Demokratie ist der öffentliche Diskurs über alle politischen Themen, der auch als „Deliberation“ bezeichnet wird.“[4]
Doch auch diese Idee lässt sich empirisch nicht mehr halten, was zu verschiedenen Formen der theoretischen Anpassung des Begriffs geführt hat, mitunter zu solchen, die das, was deliberative Demokratie sein soll, so weit dehnt, dass das Konzept völlig unscharf und beliebig wird. Auch Habermas äußert sich in jüngeren Interviews skeptisch, vor allem im Bezug auf die Rolle der Kommunikation in der Gesellschaft, die immer mehr zerfällt.
Konnten früher die Massenmedien die Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen bündeln, so zerfällt der öffentliche Diskurs heute immer mehr in Online-Nischen, „für beschleunigte, aber narzisstisch in sich kreisende Diskurse über verschiedene Themen“ (Habermas). Dabei war schon die Rolle der Massenmedien problematisch, da sie narzisstische Regressionen unterstützt.
Massenmedien gegen digitale Inseln
Die Kommunikationsunfähigkeit der diversen sozialen Gruppen wurde schon überall thematisiert. Die Kritiker der sogenannten Mainstream-Medien sehen in den vielen alternativen Informationsangeboten im Internet eine Chance, sich breiter zu informieren. Theoretisch stimmt das, doch durch die Kognitionsasymmetrie und das immer passendere Angebot der Daten-Großkonzerne für genau das, was die Zielgruppe lesen will, kocht man mehr und mehr in seiner eigenen Suppe oder sozialen Blase. Die Einschränkung der Freiheit bemerkt man zu spät.
Das heißt aber erneut, dass die stille Gewissheit, dass der andere, dem ich auf der Straße oder im Geschäft begegne, im Großen und Ganzen so denkt wie ich, meine Werte teilt und sich zumindest in Teilen für dasselbe interessiert und medial konsumiert, wegfällt. Das hat den Effekt, dass man sich fremd fühlt in der Gesellschaft.
Ein weiteres demokratietheoretisches Problem ist die Abnahme der Privatsphäre durch die flächendeckende Preisgabe privatester Informationen in den sozialen Medien. In „Wie wir unsere Freiheit verlieren“ haben wir ausgeführt, dass die Option, sich den sozialen Medien zu entziehen, heute kaum noch möglich und überdies ein Nachteil ist, was das Zerbröseln der Privatsphäre verschlimmert und damit eine weitere Grundbedingung der Demokratie, die auf das Urteil der Bürger aus einem geschützten Raum angewiesen ist.
Dass die sozialen Medien eine Verstärkung für die ohnehin starken narzisstischen Tendenzen in der Bevölkerung sind, vertieft das Problem ein weiteres mal.
Die Demokratiedämmerung ist kein deutsches Phänomen
Es wäre schon beunruhigend genug, wenn durch deutsche Besonderheiten der Demokratieabbau ein rein deutsches Phänomen wäre und in anderen Ländern die Demokratie auf dem Vormarsch wäre. Tatsächlich kann man immer wieder auch Forderungen und Teilerfolge demokratischer Bestrebungen sehen. Die Proteste der Frauen im Iran, der Jugend in China, leichte Öffnungen in Saudi-Arabien, die letzten Wahlen in Polen und der wortwörtliche Kampf um Leben und Tod der Ukrainer, die um keinen Preis zurück in eine Diktatur wollen.
Doch allgemein steht der westliche Wertekanon unter Druck, mitunter verständlich, wegen der recht offen zur Schau getragenen Selbstwidersprüche, die manchmal auch durch die Komplexität des Themas nicht mehr zu erklären sind. Dennoch kann man mit Augenmaß kritisieren, versuchen, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, aber vielen Populisten geht es um Kritik als Selbstzweck. Der einsetzende Frust ist jedoch verständlich, wenn die Kritik nicht mehr ankommt, vielleicht gehört wird, aber nichts bewirkt.
Fundamentalkritik ist ein ehemals linkes Phänomen, was der Rechtspopulismus jetzt allerdings für sich entdeckt und perfektioniert hat, ebenfalls nicht nur in Deutschland. Im Mutterland der Demokratie, den USA, geht eine schleichende Radikalisierung mit dem Ziel der Abschaffung der Demokratie von den Republikanern aus, nicht erst seit Trump, wie die Historikerin Annika Brockschmidt in diesem Interview ausführt.
Darin erwähnt sie einen republikanischen Masterplan, das 2025 Presidential Transition Project oder Project 2025, das eine weitreichende Umgestaltung der US-amerikanischen Regierung vorsieht und den Präsidenten mit nahezu unbegrenzter Macht ausstattet. Die USA wäre dann über Nacht ein autoritärer Staat.
Die Demokratiedämmerung schreitet voran. Zwar ist sie nicht unumkehrbar, aber ein schneller Zug, durch den alles anders wird, ist nicht in Sicht. Ein durchaus ernstes Problem.
Quellen:
- [1] Veith Selk, Demokratiedämmerung, Suhrkamp 2023, S. 160
- [2] Veith Selk, Demokratiedämmerung, Suhrkamp 2023, S. 24f
- [3] Veith Selk, Demokratiedämmerung, Suhrkamp 2023, S. 62
- [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Deliberative_Demokratie