Für Psychotherapien und psychische Entwicklung im breitesten Sinne gibt es die Möglichkeit einer schrittweisen Entwicklung oder man geht ‚all in‘.
Dabei stellt sich die Frage, was besser ist, gleich aufs Ganze zu gehen oder Stein auf Stein zu bauen, wie die Häuschenbauer im Kinderlied. Stellvertretend für diese Frage steht die Ausrichtung der beiden populärsten psychotherapeutischen Ansätze. Zum einen jene mit verhaltenstheoretischer Ausrichtung, die mit Schlagworten wie kognitive Verhaltenstherapie, lösungsorientierte Ansätze oder Behaviorismus verbunden sind. Auf der anderen Seite tiefenpsychologische Ansätze, die Psychoanalyse und andere aufdeckende oder psychodynamische Verfahren.
Inzwischen sind absolute Trennungen eher selten, da die Verhaltenstherapie ebenso Elemente der Tiefenpsychologie übernommen hat, wie diese Elemente der Verhaltenstherapie. Dennoch bestehen weiter Unterschiede, zum Teil auch, was die Ausrichtung Stein auf Stein oder ‚all in‘ angeht, innerhalb der Disziplinen.
Grundsätzliche Ausrichtungen von Psychotherapien
Generell arbeitet die Verhaltenstherapie lösungsorientiert, das heißt, wenn man mit einem Problem kommt, forscht man nicht unbedingt nach den Ursachen in der Vergangenheit, sondern man versucht, direkt das Problem zu beseitigen. Hat man Angst vor Spinnen oder in Aufzügen, lernt man sich in kleinen Schritten an das Angst besetzte Objekt zu gewöhnen.
Auch bei Depressionen und Schmerzen sucht man weniger nach der einen Ursache, schon weil diese Phänomene oft sehr komplexe Ursachenbündel haben, die miteinander wechselwirken. Hier arbeitet die Verhaltenstherapie oft lösungsorientiert, man definiert Ziele, die der Patient erreichen will und die realistisch erscheinen. Dann versucht man Strategien zu erarbeiten, um diese zu erreichen.
Einwand Symptomverschiebung: Es gibt die Kritik, das Vorgehen der Verhaltenstherapie führe zu einer Symptomverschiebung, das heißt, wer seine soziale Phobie vorm Erröten los ist, bekommt vielleicht demnächst eine vorm Schwitzen oder Reden. Doch das scheint eher nicht der Fall zu sein.
Einwand Anpassung, statt Kritik: Ein anderer Vorwurf ist, dass die Verhaltenstherapie eher den Weg der Anpassung an Situationen geht, statt diese grundsätzlich zu hinterfragen, etwa, ob man sich hier überhaupt anpassen sollte. Doch eine erfahrene oder lebenskluge Verhaltensherapeutin kann dieses Ziel durchaus hinterfragen und sich mit dem Patienten abstimmen.
Dem gegenüber stehen aufdeckende, tiefenpsychologische Therapien und die Psychoanalyse, die mit Deutungen, statt mit primären Veränderungen der Denk- oder Verhaltensmuster arbeiten, in der Annahme, dass man, wenn man die Herkunft seiner Probleme versteht, diese besser und tiefgehender ändern kann.
Wenn die Störung eines Patienten tiefgreifend genug ist, kann eine tiefenpsychologische Therapie oft ganze Bündel von Störungen und Symptomen verändern, aber die Therapien sind tendenziell langwierig.
Einwand mangelnde Wirksamkeit und Unwissenschaftlichkeit: Diese Vorwürfe sind oft eher ideologisch motiviert, zieht man selbstverschuldete isolationistischen Tendenzen einiger Analytiker ab. Dass Therapien nur dann wirken, wenn sie bei den Symptomen auch angezeigt sind, sollte sich von selbst verstehen.
In beiden Richtungen geht man manchmal aufs Ganze
Auch Therapierichtungen unterliegen Modeerscheinungen und neuen Versuchen. In der Verhaltenstherapie war vor gut 20 Jahren Mode, sich nicht schrittweise an gefürchtete Situationen anzunähern, sondern in einem großen Schritt. Der Gedanke dahinter: Wenn man denkt, dass man sich dem Problembereich in kleinen Schritten und langsam nähert, wird man denken, dass man diese kleinen Schritte zwar hinbekommen hat, aber die großen dennoch niemals schafft. Also springt man einmal ins kalte Wasser, wenn der Therapeut meint, man sei stabil genug und man sich selbst auch reif fühlt und hat für alle Zeiten Ruhe, weil man sofort mit dem ‚Endgegner‘ kämpft.
Darin liegt natürlich die Gefahr zu scheitern und re- oder neu traumatisiert zu werden und inzwischen hat man diesen Versuch wieder zu den Akten gelegt und man geht wieder kleine Schritte, stabilisiert die Lernerfolge und geht weiter.
Auch in den analytischen Richtungen gibt es Ansätze, die aufs Ganze gehen. Die Grundidee ist ohnehin, dass, wenn man einen bisher als Problem erlebten Bereich in seine Psyche erfolgreich integriert, ganze Symptomkomplexe verschwinden, man greift hier also schon weit. Die klassischen Bereiche der Psychoanalyse betreffen die Sexualität und die Aggressionen des Menschen. C.G. Jung betonte auch das andere Ende des Spektrums und sah die Vereinigung mit Gott oder dem Numinosen als eigentliches Ziel allen Menschseins an.
Dieses Ziel kann genau so unbewusst sein, wie es bestimmte Teile der Aggression oder Sexualität sein können. Daraus ergibt sich die praktische Frage, welchen Deutungsbereich man denn nun nimmt, den der Sexualität, der Aggression oder der unbewussten Suche nach dem Numinosen oder Göttlichen? Da das Numinose oft weit weg erscheint, macht es die Deutungen nicht einfacher und jemand, der gerade sehr weltliche Probleme hat, wird mit der Deutung, dass er vielleicht Gott sucht, eventuell nichts anfangen können. Sie wäre dann nicht zwingend falsch, aber praktisch wenig brauchbar, weil sie eventuell zu früh kommt.
Schritt für Schritt oder Sprung?
Auch eine grazile Ballett-Tänzerin, die sich fast schwerelos zu bewegen scheint, beginnt ihr Leben mit Krabbeln, dann mit tapsigem Laufen. Ein brillanter Redner hat zunächst mit Brabbeln begonnen. Vieles in unserem Leben unterliegt einem Prozess des allmählichen, stufenweisen Fortschreitens. Aber wir kennen auch andere Beispiele, in denen wir plötzlich weiter sind und eigentlich auch nicht so genau wissen, warum. Wir kennen die Aha-Effekte aus eigenem Erleben.
Auf der Ebene psychischer Entwicklung ist es auch so, ob in Therapien oder im normalen Leben. Wir lernen eine Sprache oder üben eine Sportart fleißig und doch ist es oft so, dass es immer wieder zu Sprüngen kommt, wir lernen nicht kontinuierlich dazu, sondern wir können das Gefühl haben, Wochen oder Monate eigentlich nicht weiterzukommen und dann mit einem mal einen großen Schritt gemacht zu haben.
Kombiniert man beides, ist das keine schlechte Idee. Alles ist psychisches Erleben, weil alles, was wir überhaupt erfahren, sei es körperlich, emotional oder gedanklich, in unserem Bewusstsein erscheint, auch die Kopfschmerzen nach einer Party, der Muskelkater nach einem intensiven Fitness-Training oder die Lösung einer Matheaufgabe. Das heißt, man kann versuchen ein komplexes Problem relativ frontal anzugehen. Manchmal hat man Erfolg damit, oft wird man scheitern, aber dann kann man mehrere kleine Umwege gehen, bestimmte Fähigkeiten oder Skills lernen und verfestigen und irgendwannn schaut man dann wieder beim Hauptproblem vorbei und schaut, wie es nun aussieht. Man nähert sich langsam und eher mäandernd an, umrundet das Ziel schon mal und manchmal findet man es vielleicht gar nicht mehr spannend, sondern ist mit dem, was man erreicht hat, bereits zufrieden.
Ob man Sport oder Musik macht, eine Psychotherapie oder sich spirituell entwickeln will, beide Wege der kleinen, aber wiederholten Annäherung und des plötzlichen Sprungs scheinen sich überall zu ergänzen. Generell scheint es so zu sein, dass man Stufe für Stufe voranschreitet, aber man hat immer wieder Phasen der Pause, der Stagnation, vielleicht sogar kleine Rückschritte. Dann ist es oft gut, wenn man die Sache ruhen lässt und etwas anderes macht.
Eine Ausnahme scheint die spirituelle Entwicklung zu sein, die ja irgendwie auch Teil der Psyche ist, auf der anderen Seite aber auch jenseits davon steht. Spirituelle Entwicklung kennt ebenfalls ihre Fortschritte, etwa wenn man bestimmten Praktiken nachgeht. Auf der anderen Seite ist Spiritualität das Feld, an dem ein spontaner Durchbruch zur finalen Erleuchtung in jeder Phase oder Stufe gelingen kann.
Wohlempfinden entsteht durch ein Einheitsgefühl
Es ist ein gutes Gefühl, endlich etwas zu beherrschen, woran man vorher gescheitert ist, sei es praktisch, theoretisch oder emotional. Nun ist etwas ein Teil von mir, was vorher nicht zu mir gehörte, ich habe mir eine neue Fähigkeit angeeignet. Eine Art Einheit, die dadurch erreicht wurde, dass ich gewachsen bin, gleichzeitig hat man sich dadurch in etwas Größeres eingeklinkt, ist damit Teil einer Welt, die einem vorher verschlossen war, ob es sich nun um Bereiche der Mathematik oder der Emotionen handelt.
Man kann sich mit einer Partnerschaft, Familie, Firma, Partei, NGO, Religion oder einem Land identifizieren. Als Teil von etwas Größerem wächst man und erlebt das Gefühl der Einheit, manchmal der Verschmelzung und das in der Regel als sehr befriedigend. Therapie versucht einen oft in die Lage zu versetzen, dieses Gefühl der Einheit auf mehreren Gebieten erleben zu können, statt sich nur auf einen zu beschränken. Was dem im Wege steht, ist oft ein zu enges oder schwaches Ich. Ein schwaches Ich will oft alles kontrollieren, kann sich aber nicht hingeben oder emotional für etwas Größeres engagieren.
In den besten spirituellen Traditionen wird das Ich daher als das Kernproblem angesehen, was ein gewisser Widerspruch zur Psychotherapie zu sein scheint, die das Ich stärken will. Blickt man tiefer, ist es allerdings so, dass alle Therapieformen versuchen, den Egozentrismus zu verringern und dem Ich die Chance zu geben, sich besser einzubinden und zu stabilisieren. Doch Egozentrismus und Reste der Abgrenzung gehören zum Wesen des Ich. Wenn das Ich das Problem ist, muss man es überwinden, dann muss es weg.
Die aus diesem Ansatz resultierenden Ansätze sind welche, die in dieser Hinsicht aufs Ganze gehen und dem Ich eine absolute Existenz absprechen. Es ist dort Teil einer großen Illusion, die Maya oder Samsara genannt wird und die man mit dem Ich überwinden kann. Dabei geht es dann nicht darum gegen das Ich zu kämpfen, sondern ihm alle Aufmerksamkeit zu entziehen und dafür so viel wie möglich dem dahinterliegenden Selbst zu widmen.
Das ist einerseits sehr leicht, weil das Selbst schlicht im Existenzmodus ist: Ich bin, das ist alles. Ich bin diese oder jener, ist der Modus des Ich. Die Einfachheit wird dadurch schwer, dass man eigentlich überhaupt kein Interesse daran hat, nur im Seinsmodus zu sein. Das Ich will sich ständig mit Welt verbinden und Welt heißt hier auch, mit Gedanken, Gefühlen, den Dramen der Welt, weil es sich so vergewissern kann, dass es wirklich existiert. Der Ausstieg aus dieser Schleife ist aus dieser spirituellen Sicht möglich und hier geht man wirklich ‚all in‘.
Jede kleinere oder größere Erfahrung von Einheit ist schön, man fühlt sich entspannt und geborgen. Gibt es auch die Einheit aller Einheiten? Ja, heißt es in spirituellen Traditionen, nur dafür muss man selbst aufs Ganze gehen. Das heißt praktisch, die Aufmerksamkeit nach immer wieder und immer mehr nach innen zu wenden und bei der Erfahrung des „Ich bin“ zu bleiben. So umgeht man die schrittweise psychische Entwicklung in Stufen und nimmt den direkten Weg.