Der Bambi-Reflex oder Fawn-Modus (Fawn Response) wird in der Psychologie als eine von vier Reaktionen auf traumatische Ereignisse gesehen.
Bambi-Reflex: Reaktion auf negative Ereignisse
Die Fawn-Response wurde von dem US-amerikanischen Psychotherapeuten Pete Walker in seinem Buch Complex PTSD: From Surviving to Thriving als eine von vier Reaktionen auf stressvolle und traumatische Ereignisse geprägt. Hierzulande ist sie unter anderem auch als Bambi-Reflex bekannt. Neben der Kampf- oder Fluchtreaktion sowie dem Erstarren reagieren manche Menschen mit defensivem und unterordnendem Verhalten, wenn sie Situationen oder Konstellationen als bedrohlich einschätzen.
„Fawn“ bedeutet im englischsprachigen Raum soviel wie Kitz beziehungsweise Rehkitz. In Anlehnung daran etabliert sich der Begriff „Bambi-Reflex“ zunehmend.
Beim Bambi-Reflex geht es im Prinzip um Unterordnung und Anpassung, allem voran gegenüber autoritären, dominanten oder selbstbezogenen Personen, um sich zu schützen und Konflikte zu vermeiden. Diese Verhaltensgewohnheiten können mit einer Tendenz zur Co-Abhängigkeit oder People Pleasing einhergehen.
Unterordnen als Überlebensstrategie
Kampf- oder Fluchtreaktion, Erstarren oder Unterordnen sind elementare Reaktionen, die bei vielen Lebewesen gleich und evolutionsbiologisch nach wie vor im Menschen verankert sind. Auch manche Tiere ordnen sich unter, wenn sie sich in einer potenziell gefährlichen Situation oder Konstellation befinden, aus der sie keinen Ausweg sehen, beispielsweise gegenüber einem ranghöheren, stärkeren Tier im Rudel.
Der Bambi-Reflex beziehungsweise die Fawn-Response findet sich beispielsweise in Zusammenhang mit chronischen Traumatisierungen in der Kindheit. Mehrere traumatische Erfahrungen und stressvolle Ereignisse treten auf.
Sind Kinder in einer Familie aufgewachsen, in der die Bedürfnisse der Bezugspersonen mehr galten als ihre eigenen, in denen die Entwicklung ihrer Persönlichkeit oder ihres Für-sich-Einstehens bestraft, übergangen oder abgewertet wurde, können sie zukünftig dazu neigen, sich unterzuordnen. Auch wenn sie in einer gewaltvollen Atmosphäre „überleben“ mussten, ist die Unterordnung und Anpassung mitunter der einzige Ausweg. Die betreffenden Kinder haben gelernt, den Fokus ihrer Wahrnehmung auf das Außen und die Personen in ihrem Umfeld zu richten. Sie tun es, um Konflikte zu vermeiden. Quasi übernehmen sie die Verantwortung für das Verhalten ihrer Bezugspersonen, um nicht in eine emotional, selbstwerttechnisch oder gar körperlich bedrohliche Situation zu geraten. Mögliche Gedanken in der Art erschweren dann bereits das kindliche Gemüt:
- Wie ist der Vater heute drauf, wenn er von der Arbeit kommt?
- Die Mutter ist traurig, weil der Vater sie angeschrien hat. Was kann ich tun?
- Was kann ich sagen, um den Vater zu beschwichtigen, damit er nicht wütend wird?
Inwieweit die Kindheit als stressvoll, negativ geprägt oder traumatisch einzuordnen ist, hängt auch davon ab, was sich im Einzelfall abgespielt hat und wie es empfunden wurde. Die Tendenz zur Unterordnung kann folglich eine Reaktion auf eine emotional stressvolle, problematische oder traumatisierende Kindheit sein.
Trauma kann Persönlichkeit beeinflussen
Der Wissenschaftler Dr. Michael Weinberg von der University of Haifa und sein Forschungsteam finden in einer Studie Zusammenhänge zwischen PTBS-Symptomen, stressvollen und traumatischen Erfahrungen und Charaktereigenschaften wie zum Beispiel Verträglichkeit (also wie umgänglich und gutmütig jemand ist) und negative Affektivität sowie Emotionalität (also das Vorhandensein von emotionalem Stress, Ängsten, Sorgen machen, Nervosität, Unsicherheit, Scham genauso wie die Stärke der Emotionen).
Intuitive Anpassung an Andere
Intuitiv beobachten die betreffenden Kinder ihr Umfeld und passen sich an. Sie werden oftmals zu erwachsenen Menschen, die eine Tendenz dazu haben, ihre Bedürfnisse hinten anzustellen und dem Dasein anderer Menschen einen höheren Stellenwert einzuräumen. Sie achten übermäßig darauf, wie es der anderen Person geht. Wie es ihnen selbst geht, ist für sie hingegen oft eher zweitrangig. Nicht selten gelangen diese Kinder später als Erwachsene in toxische Beziehungen, in denen sie sich ebenfalls in emotional stressigen, anspannenden und teilweise gefährlichen Konstellationen unterordnen. Dass sie selbst einen Stellenwert oder eigene Bedürfnisse haben, für die sie einstehen können und sollten, ist ihnen in ihrem Inneren gar nicht bewusst. Viele der Betreffenden wissen oft nicht, was sie eigentlich wollen oder fühlen. Sie sind vor sich selbst unsichtbar geworden.
Pete Walker schreibt über die Fawn-Response, dass Personen mit dieser Neigung nach Sicherheit suchen, indem sie mit den Wünschen, Bedürfnissen und Forderungen anderer verschmelzen. Sie handeln so, als würden sie unbewusst glauben, dass der Preis für eine zwischenmenschliche Verbindung das Einbüßen ihrer eigenen Bedürfnisse, Rechte, Vorlieben und Grenzen mit sich brächte:
„Fawn types seek safety by merging with the wishes, needs, and demands of others. They act as if they unconsciously believe that the price of admission to any relationship is the forfeiture of all their needs, rights, preferences, and boundaries.“
zitiert nach Pete Walker, The 4Fs: A Trauma Typology in Complex PTSD
Anzeichen für Fawn-Response
Klassische Anzeichen für den Bambi-Reflex sind:
- Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Vorlieben und teilweise auch Ziele und Lebensgewohnheiten, um in Einklang mit dem Gegenüber zu sein
- die eigenen Bedürfnisse und Emotionen sind kaum wahrnehmbar, der Blick nach innen ist „vernebelt“
- der eigene Schmerz und Unwohlsein werden oft ausgeblendet
- man nimmt sich im Verhalten zurück
- Neigung zum Hofieren, People Pleasing, Beschwichtigen
- der Fokus ist häufig auf das Außen gerichtet, instinktives Wahrnehmen der Stimmungen und Vorwegnehmen der Bedürfnisse anderer
- da Betreffende oft in destruktive Partnerschaften mit dominanten Personen geraten: versuchen, das bedrohliche Verhalten anderer zu beeinflussen und zu kontrollieren, um emotionale Sicherheit zu bekommen
- die eigenen Grenzen schwerer wahren können sowie teilweise gar nicht kennen
- nicht gewohnt sein, für sich einzustehen
- nicht nein sagen können und Schuld oft auf sich nehmen
- Verantwortung für die emotionalen Reaktionen anderer übernehmen
- Neigung, andere Menschen zu heilen oder retten zu wollen, übermäßige Verantwortungsübernahme und mangelnde innere Abgrenzung zu den Problemen anderer
- die eigenen Emotionen im Umgang mit anderen deckeln, aber hin und wieder bricht es in Form von Wut heraus, das „Fass läuft über“
- eigene Meinung zurückhalten oder instinktiv die Meinung anderer übernehmen, um keinen Konflikt hervorzurufen
- sich manchmal niedergeschlagen fühlen, emotional leer, aber dann auch wieder innerlich angespannt
- sich oft nicht als Einheit wahrnehmen, die eigene Persönlichkeit wird nicht als souveränes Ganzes empfunden, dissoziatives Erleben ist möglich
Bambi-Reflex aufheben: Was tun?
Der wichtigste Ansatz, um den Bambi-Reflex aufheben zu können, ist, zu erkennen, dass du zu einer Fawn-Response neigst. Die vorgenannten Punkte helfen dir als weitere Aspekte, an denen du ansetzen kannst, um mehr in den Kontakt mit dir und deinen Wünschen zu kommen. Für die Aufarbeitung vergangener traumatischer oder stressvoller Ereignisse ist eine Psychotherapie empfehlenswert. Erkenne deinen Wert und lerne, dich zu positionieren. Letztendlich ist der Weg der Selbstaufrichtung ein Weg, der aus vielen kleinen Abschnitten mit dem Ausprobieren und Einüben neuer Gewohnheiten besteht. Alles Gute für dich!