Toxische Familien sind eigentlich dysfunktionale Familien, die eine ungesunde und destruktive Dynamik zwischen den Familienmitgliedern aufweisen. Im Sprachgebrauch werden sie jedoch oft als toxische Familien bezeichnet. In einer gesunden Familie sind Konflikte eine Chance für Wachstum und gegenseitiges Verständnis. Bei toxischen Familien entwickeln sich Konflikte zu einem Teufelskreis, in dem Vergeben und Vergessen zu einer erzwungenen Routine werden – nicht aus aufrichtiger Einsicht oder Reue, sondern als Mittel, um den Status quo aufrechtzuerhalten.

In solchen Familien werden Konflikte nicht gelöst, sondern ausgesessen, es gibt keine Entschuldigung, keine Veränderung – nur ein stillschweigendes Weitergehen, als wäre nichts geschehen. Diese Dynamik hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Betroffenen, die lernen, dass ihre Grenzen nicht zählen und dass sie sich alles gefallen lassen müssen.

Toxische Familien: Verletzen und Schweigen

Konflikte entstehen in jeder Familie. In einem gesunden Umfeld führen sie zu Gesprächen, Klärungen und möglicherweise Entschuldigungen. In toxischen Familien hingegen werden Streitigkeiten ausgesessen. Nach einem heftigen Konflikt folgt oft eine Phase des Schweigens oder der Vermeidung, in der das Thema nicht angesprochen wird. Irgendwann beginnt der Alltag wieder seinen gewohnten Lauf zu nehmen – als hätte es den Konflikt nie gegeben.

Vater mit Kindern in Ruderboot

Wirkliche Unbeschwertheit und Harmonie haben toxische Familien nicht. © Jens Hilligsøe under cc

Dieses Verhalten vermittelt den Betroffenen eine schmerzhafte Lektion: Ihre Gefühle sind irrelevant. Der Schmerz, die Enttäuschung oder die Wut, die sie empfunden haben, werden nicht anerkannt. Dadurch werden sie gezwungen, sich den unausgesprochenen Regeln der Familie zu unterwerfen: Bloß nicht nachtragend sein, bloß nicht »schwierig« sein, sonst wird man zum Außenseiter.

Keine Entschuldigung – Keine Verantwortung

In toxischen Familien ist es selten, dass sich jemand aufrichtig entschuldigt. Eine Entschuldigung würde bedeuten, Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen. Doch genau das wird vermieden. Die Schuld wird oft umgedreht, das heißt, es gibt eine Schuldumkehr mit seelischen Folgen für die Betroffenen. Wer den Konflikt anspricht, wird als empfindlich, sich etwas einbildend, irgendwie gestört oder nachtragend abgestempelt. Aussagen wie »Was?! Wie kommst du denn darauf? Auf gar keinen Fall! Na sage mal!« mit einem gespielten Geschocktsein oder »Nun stell dich nicht so an!« oder »Das war doch nicht so gemeint!« sind typische Reaktionen, die dazu führen, dass sich die Betroffenen selbst infrage stellen. Ihre Wahrnehmung wird verwaschen. Gerade Kinder, die auf die Art groß werden, wachsen schon so auf, dass sie glauben, ihrer Wahrnehmung nicht trauen zu können. Sie gehen mit einer tiefgreifenden Unsicherheit durch die Welt.

Betroffene erzwungen versöhnlich

Das Perfide daran ist, dass die Betroffenen, zumeist Kinder, oft versöhnlich reagieren, damit die Gefühlskälte seitens der Eltern zur Abstrafung aufhört. Mit anderen Worten: Diejenigen, die verletzt wurden, werden nicht nur allein mit ihren Gefühlen und ihrer verletzten Würde gelassen, sondern sie müssen oft sogar noch ankommen und die familiäre »Harmonie« wieder herstellen. Sie müssen wieder auf die Familie zugehen, sich anpassen, so tun, als wäre nichts gewesen – denn sonst riskieren sie soziale Isolation oder Ablehnung. Letztendlich sind Kinder diejenigen, die auf ihre Eltern beschützend angewiesen sind. Sie können noch nicht selbstständig für sich sorgen. Durch dieses Ungleichgewicht entsteht Schutzbedürftigkeit und eben jene wird in toxischen Familien ausgenutzt.

Verlorene Grenzen und forcierte Anpassung

Wenn Konflikte ständig ignoriert werden und es nie eine echte Klärung gibt, lernen die Betroffenen, dass ihre Grenzen bedeutungslos sind. Sie gewöhnen sich daran, dass ihre Gefühle nicht ernst genommen werden und dass es keinen Sinn hat, für sich selbst einzustehen. Diese Erfahrung prägt sie nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch in anderen Lebensbereichen. In Freundschaften, Partnerschaften oder im beruflichen Umfeld fällt es ihnen oft schwer, sich abzugrenzen oder ihre Bedürfnisse klar zu kommunizieren. Nur allzu oft geraten sie in toxische Beziehungen, ordnen sich unter und lassen sich alles gefallen.

Übersteigertes Harmoniebedürfnis

Hausfassade

In vielen toxischen Familien verstecken sich Streit und Abwertungen hinter einer perfekten Fassade. © Björn S… under cc

Viele entwickeln ein übersteigertes Harmoniebedürfnis, aus Angst vor Ablehnung. Sie lernen, ihre eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken, um keine Konflikte zu provozieren. Sie geraten in diese toxischen Beziehungen, weil sie es gewohnt sind, dass Respekt und Rücksichtnahme keine Selbstverständlichkeiten sind.

Schweigen als Gesetz

Das Schweigen ist eine der mächtigsten Waffen in toxischen Familien. Wenn ein Konflikt nicht mehr erwähnt wird, wenn niemand darüber spricht, dann existiert er offiziell nicht. Wer dennoch darauf besteht, über das Geschehene zu reden, wird als Unruhestifter betrachtet.

Dieses Schweigen erzeugt eine tiefe innere Unsicherheit. Betroffene fragen sich: War das, was passiert ist, wirklich so schlimm? Übertreibe ich vielleicht? Diese Zweifel führen nicht nur dazu, dass sie, wie bereits erwähnt, ihre eigenen Wahrnehmungen infrage stellen, sondern sie halten einen manipulativen Umgang für normal. Gaslighting ist Bestandteil einer Form von destruktiver Kommunikation, bei der Betroffene die Wahrnehmung und ihre Gefühle abgesprochen bekommen, ihr Verhalten als unmöglich hingestellt wird, sie angelogen und herabgesetzt werden und ihnen Dinge unterstellt werden – doch an allem sollen sie laut Aussage der Manipulierenden selbst Schuld sein.

Das erzwungene Vergessen (»Wir sind doch eine Familie«) macht die Betroffenen anfällig für Wiederholungen. Die gleiche Verletzung kann immer wieder passieren, weil es keine Sanktionen gibt. Damit wird den Betroffenen die Botschaft vermittelt: Du musst es immer wieder ertragen.

Kein Entstehen von Identität

Wird die eigene Identität dermaßen infrage gestellt, kann sie auch nicht wirklich stabil bleiben oder sich gar nicht erst in Ruhe und Frieden entwickeln, wie es bei Kindern in einem solchen Umfeld verhindert wäre. Der Selbstwert wird erschüttert oder etabliert sich erst gar nicht. Sind Menschen, vor allem jüngere, einem solchen Umgang beständig ausgesetzt, nehmen sie sich schlimmstenfalls nur als befriedender Erfüllungsgehilfe für andere wahr, als Objekt, mit dem etwas gemacht wird und das keine eigenen Rechte besitzt. Sie nehmen sich nicht als Einheit wahr. Ihre Identität setzt sich nicht als Ganzes zusammen, sondern sie wird durch die ständigen Verletzungen, Herabsetzungen und Verwaschungen nur als Scherben oder in Teilen wahrgenommen.

Wege aus der toxischen Dynamik

Frau traurig, Schwarz-Weiß-Foto

Auch Elternteile können von den destruktiven Mechanismen betroffen sein. © Bradley Gordon under cc

Der erste Schritt, um sich aus dieser schädlichen Dynamik zu befreien, ist das Bewusstwerden der Muster. Solange man glaubt, dass das eigene Leiden »normal« ist oder man sich nur mehr anpassen muss, bleibt man in der toxischen Schleife gefangen. Erst wenn Betroffene erkennen, dass ihr Wohlbefinden zählt, können sie beginnen, sich zu lösen.

Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Setzung von Grenzen. Das bedeutet nicht, dass die Familie plötzlich einlenkt – oft ist genau das Gegenteil der Fall. Wer sich erstmals abgrenzt, muss mit Widerstand rechnen. Doch langfristig ist es der einzige Weg, um sich selbst zu schützen.

Manchmal ist der radikalste, aber notwendige Schritt der Kontaktabbruch. Das ist eine schwere Entscheidung, die gut überlegt sein muss. Aber wenn eine Familie immer wieder zeigt, dass sie die Grenzen nicht respektiert, kann Distanz die einzige Möglichkeit sein, sich selbst zu retten.

Fazit: Wer nicht vergisst, kann sich schützen

Toxische Familien halten an der Dynamik des Vergebens und Vergessens fest, um Veränderungen zu verhindern. Doch echtes Wachstum entsteht nicht durch das Ignorieren von Konflikten, sondern durch deren Aufarbeitung. Wer aus diesem Kreislauf ausbrechen will, muss lernen, dass seine Grenzen zählen – und dass es keine Schwäche ist, für sich selbst einzustehen. Vergeben ist nur dann wertvoll, wenn es auf echter Einsicht beim Gegenüber basiert. Und manchmal ist das Beste, was man tun kann, nicht zu vergessen, sondern aus den Erfahrungen zu lernen und für sich selbst eine gesündere Zukunft zu gestalten.

Dir hat der Artikel gefallen? Dann abonniere gern unseren kostenlosen Newsletter, der dich einmal im Monat per E-Mail über die neuen Beiträge der letzten Wochen auf unserem Psychologie Online-Magazin benachrichtigt. Trage dazu einfach nachfolgend deine E-Mail-Adresse ein, klicke auf „Abonnieren“ und bestätige in der anschließenden E-Mail das kostenlose Abo:

Hinweise zu der von der Einwilligung mitumfassten Erfolgsmessung, Protokollierung der Anmeldung und deinen Widerrufsrechten erhältst du in unserer Datenschutzerklärung.