Wer ich bin und was ich will, das sollte, wenn man es nicht auf die philosophische Goldwaage legt, eine der am einfachsten zu beantwortenden Fragen sein, schließlich geht es um mich und wer sollte besser über meine Absichten und Bedürfnisse Bescheid wissen, als ich selbst? Umso erstaunlicher, dass es vergleichsweise viele Menschen gibt, die hier relativ wenig Auskunft geben können, jene, die an einer sogenannten Identitätsdiffusion leiden.

Identitätsdiffusion als diagnostisches Kriterium

verwirrte Frau

Was mich von anderen unterscheidet…? © Sarah under cc

Die Identiätsdiffusion hat sich in den letzten Jahren als das wichtigste diagnostische Kriterium der schweren Persönlichkeitsstörungen herauskristallisiert. So trickreich der psychologische Hintergrund, so einfach ist im Grunde der Test, ob eine Identitätsdiffusion vorliegt oder nicht.

Der Therapeut bittet den Klienten zum einen, sich selbst zu beschreiben, so dass man sich ein lebendiges Bild von ihm machen kann, zum anderen, einen (oder mehrere) Menschen, die der Betreffende gut kennt und die eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen: Die Eltern, Partner, die beste Freundin und dergleichen.

Die Identitätsdiffusion betrifft das Selbstbild und das Bild naher anderer Personen

Diese Beschreibung sollte im Grunde kein Problem sein, Menschen mit einer Identitätsdiffusion haben aber genau hiermit ein großes Problem. Ihre Beschreibungen bleiben oberflächlich, die Konturen der beschriebenen Person – was diese im Kern ausmacht, was sie einzigartig macht, von anderen unterscheidet, was sie bewegt, welche Sorgen, Ängste, Freuden, Träume, Phantasien sie haben -, kommt nicht zum Vorschein, auch wenn die Beschreibenden ansonsten mit hoher Intelligenz und rhetorischem Geschick ausgestattet sind.

Es gibt hier einige spezifische Unterschiede, so können Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung zwar sich selbst sehr gut und detailliert beschreiben, doch steht dies in einem scharfen Kontrast zu der Unfähigkeit emotional nahe Menschen zu beschreiben, sie wirken merkwürdig gleichförmig und werden in grobe Kategorien von Freunden, mit denen man sich hervorragend und fast blind versteht – ohne jedoch näheres über ihre Gefühle und Bedürfnisse aussagen zu können – und Feinden eingeteilt.

Menschen mit schizoider Persönlichkeitsstörung erkennen vor allem in Detailbereichen die Gefühle und Wünsche anderer Menschen in einem Maße, dass man manchmal meint, sie könnten Gedanken lesen. Ihr Unvermögen liegt allerdings darin, sich selbst zu beschreiben und die andere Person im Ganzen zu beschreiben. Bei anderen schweren Persönlichkeitsstörungen sind mitunter beide Wahrnehmungen verzerrt.

Menschen mit einer Borderline-Störung nehmen beispielsweise sich und andere widersprüchlich und diffus wahr, je nach den sie momentan leitenden Affekten.

Wozu ist das wichtig?

In letzter Zeit tritt die Bedeutung der schweren Persönlichkeitsstörungen immer mehr ins öffentliche Bewusstsein, etwa indem von narzisstischen Managern und Chefs und ihrem Mangel an Empathie berichtet wird, von Börsenhändlern, die sich schlimmer als Psychopathen verhalten und dergleichen.

Auch bei sexuellen und gewalttätigen Übergriffen in privaten und öffentlichen Institutionen, sowie, am häufigsten, in der eigenen Familie, spielen schwere Persönlichkeitsstörungen eine große Rolle.

Neben dem erhöhten öffentlichen Bewusstsein für diese Themen, ist die relativ weite Verbreitung schwerer Persönlichkeitsstörungen hervorzuheben, die in Zahlen schwer festzumachen ist, weil es beständige Veränderungen in der Zuordnung gibt, was als schwere Persönlichkeitsstörung gilt und was nicht.

Otto Kernberg, der bekannteste Forscher auf diesem Gebiet, spricht von Zahlen um die 20% für die USA und vermutet eine ähnliche Größenordnung für Europa. Andere Quellen sind zurückhaltender, doch allgemein wird ein Anstieg dieser Erkrankungen und der damit verbundenen Identitätsdiffusion diagnostiziert und prognostisch vermutet.

Neben der Verbreitung spielt die Schwere einiger Erkrankungen aus diesem Bereich eine Rolle, die für die Betroffenen und deren Umfeld mitunter den Alltag und die Partnerschaft sehr belastend gestaltet.

Quelle:

  • Otto Kernberg, Schwere Persönlichkeitsstörungen, Klett-Cotta 1984