Man wälzt sich von links nach rechts, liegt nachts wach und grübelt, bekommt Gedanken über mögliche eigene Versäumnisse nicht aus dem Kopf. Der Druck des eigenen Gewissens kann als nagend, zuweilen als übermächtig, empfunden werden. Was ist normal, was ist zu viel, was zu wenig? Was ist überhaupt das Gewissen, wo kommt es her?
Über-Ich – das Gewissen in der Psychoanalyse
Der Begriff Über-Ich ist weit über die Grenzen der Psychoanalyse geläufig. Er ist nahezu bedeutungsgleich mit dem Begriff Gewissen, mit dem Unterschied, dass das Über-Ich der technischere Ausdruck ist, der präziser untersucht wurde.
Anders als Freud, von dem der Begriff Über-Ich stammt, dachte, bildet sich das Über-Ich nicht erst in einer eigenen ödipalen Phase vom 4. bis 6. Lebensjahr, sondern bereits im ersten, besonders aber im zweiten und dritten Lebensjahr, in Form aufeinanderfolgender Schichten, die sich wie Sediment über einander legen.
Die erste Schicht bilden dabei die Verbote. Kinder erleben die Eingriffe der Eltern im ersten Lebensjahr oft als willkürlich und behindernd. Sie können nicht verstehen, warum die Eltern sie immer wieder an interessanten Dingen hindern wollen, auch wenn das aus Sicht der Eltern berechtigt ist, erlebt das Kind diese Eingriffe als störende, manchmal sadistische, Verbote.
Im zweiten und dritten Lebensjahr werden die Verbote durch Gebote ergänzt. Das Kind versteht allmählich, was es tun muss, um Mutter eine Freude zu machen und gelobt zu werden. Später werden diese beiden Schichten von einer realistischen dritten Schicht integriert und wenn sich diese drei Bereiche des Über-Ichs weitgehend störungsfrei bilden konnten, findet man ein gesundes Über-Ich, das seine Wertvorstellungen im Laufe des Lebens dynamisch modifizieren kann.
Die Entdeckung der frühen Entstehung des Über-Ich stammt von Melanie Klein, die Bildung aufeinanderfolgender Schichten ist von Edith Jacosbson in „Das Selbst und die Welt der Objekte“ untersucht worden.
Neurose – ein Über-Ich, groß wie eine Kathedrale
Ein an sich intaktes Über-Ich (aus drei fertigen Schichten) kann jedoch, kultur- und erziehungsbedingt, übergroß geraten sein. Das Über-Ich, was in guten Fällen ein realistisches Korrektiv ist, wird dann drückend und lastend. Das Leben wird gehemmt und freudlos, weil die innere Instanz des Gewissens ständig nörgelt und – in der Kommunikation mit dem Ich – selbstkritisch aufzählt, was alles ordentlicher, gewissenhafter, sauberer, perfekter sein könnte. Der freie, ungezwungene Ausdruck der Kreativität, der Lebensfreude und der Sexualität ist neurotisch gehemmt, von einer überkritischen inneren Stimme.
Alles was zu laut, wild, spontan, unbeherrscht, schmutzig, sexuell anzüglich erscheint wird verurteilt, zugunsten einer „heilen“ und kitschigen, entsexualisierten, sauberen, ordentlichen aber leidenschaftslosen Welt.
Pathologischer Narzissmus – ein unfertiges Über-Ich
Ist das Über-Ich des Neurotikers zwar komplett, aber zu groß geraten, so finden wir beim pathologischen Narzissmus ein zu kleines, unfertiges Über-Ich. Einige Narzissten halten sich für großartig und außergewöhnlich, das liegt zum Teil an der Kommunikation des Ich mit dem verinnerlichten unfertigen Über-Ich, dessen dritte Schicht unvollkommen ausgebildet ist. Die innere Gewissensinstanz ist nun die zweite Schicht, das Ich empfindet, es würde bereits alle Gebote vollkommen erfüllen und sei darum ein ganz außergewöhnlicher Mensch.
Die negative Variante sieht dieses unrealistisch große Ich dann unrealistisch klein. Ein nebensächlicher Fehler wird sofort als komplettes Versagen interpretiert und lastet unendlich auf dem Ich, was jetzt seine Ausnahmeposition markiert, indem es der bemitleidenswerteste Mensch auf der ganzen Welt ist. Um das zu kompensieren, versucht auch das narzisstische Ich oft perfekt zu sein. Wir sehen also, dass ähnliche Symptome verschiedene Ursachen haben können, weshalb es wichtig ist, nicht nur auf die Symptome zu schauen.
Prekärer wird es, wenn das narzisstische Ich nur noch mit der ersten, sadistisch-verfolgenden Schicht des Über-Ich kommuniziert, weil die Entwicklung bereits in einer frühen Phase gestört wurde. Ein solches Ich fühlt sich nicht stark, schön und als Mutters Sonnenschein, sondern es fühlt sich im äußersten Fall überlegen, weil es grausam, mächtig und Herr über Leben und Tod anderer ist. Bei Tyrannenherrschern, Serienmördern und Terroristen ist das oft zu finden.
Bis dahin ist es ein schrittweiser Weg eines immer reduzierten Über-Ichs, aber dieser Weg zeigt, wie wichtig ein intaktes Gewissen ist.