Es sind oft die einfachen Begriffe, die uns, wenn wir sie präzisieren wollen, vor die größten Probleme stellen. Das „Ich“ ist so ein Fall, schon deshalb, weil so viele Disziplinen sich mit dem „Ich“ beschäftigen.
Im Alltag stellt uns der Begriff vor keinerlei Probleme. Sätze wie „Ich treffe mich gleich mit Saskia“ oder „Ich habe Hunger“ verstehen wir sofort.
Das „Ich“ in der Biologie
Evolutionsbiologisch ist das „Ich“ vermutlich entstanden, um dem Individuum eine effektive Selbststeuerung und Bedürfnisbefriedigung durch die versorgende Mutter zu ermöglichen. Die Sorge um sich selbst, seine Bedürfnisse und Unversehrtheit korreliert mit der Komplexität eines Organismus, mit der abnehmenden Zahl der Nachkommen, sowie mit der Fähigkeit seine inneren Zustände sichtbar auszudrücken, also Affekte zu zeigen und einer Intensivierung der Brutpflege. Um die Nachkommen der Säugetiere wird sich individuell gekümmert, um Molche nicht.
Sehr früh hat es vermutlich schon „Ich“-Gesten gegeben, in denen ein Wesen etwa mit dem Zeigefinger auf die Herzregion deutet. Andere Gesten legen den Verdacht nahe, hier könne ein Wesen triumphieren, seine Dominanz zeigen oder sich schämen. Wie viel Ichbewusstsein da jeweils im Spiel ist, wissen wir nicht genau, aber ein „Ich“ scheinen sowohl Säuglinge als auch einige Tiere wie Affen, Delphine, Elefanten und Krähenvögel zu haben. Mit „Ich“ ist hier gemeint, über eine Selbstrepräsentation, eine bildhafte Vorstellung von sich zu verfügen.
Neurobiologisch stellte man zwischenzeitlich infrage, ob es das „Ich“ überhaupt gibt, da man keine neuronalen Repräsentanten in den Hirnscan-Bildern zu finden meinte. Das „Ich“ könnte jedoch ein (starkes) emergentes Phänomen sein und wäre dann schwerlich die Summe der Einzelfunktionen zurückzuführen.
Ausfälle bestimmter Hirnregionen geben uns Hinweise auf die einzelnen Bausteine, die das „Ich“ ausmachen. Ein Verlust der „Ich“-Funktion ist jedenfalls auch in der Psychiatrie, die sehr eng mit der Neurologie verwandt ist, ein ausgesprochen ernstes Symptom.
Das „Ich“ in der Philosophie
In der Philosophie hat die Frage um das „Ich“ eine lange Geschichte, auf die wir nur schlaglichtartig eingehen können: Seitdem Descartes mit seinem berühmten „cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) „Ich“ und Denken gleichsetzte und sich und uns die Frage vorlegte, über was man, wie überhaupt Gewissheit erlangen kann, ist viel passiert. Wenn nicht über das eigene Denken, über was dann?, fragte der französische Philosoph.
Jede Wahrnehmung könnte ja eine Sinnestäuschung sein, alles ist zu bezweifeln, außer, dass man gerade zweifelt. Und da das Zweifeln eine Art des Denkens ist, ergibt sich der Rest.
Descartes ist seitdem zigfach widerlegt worden, doch wir müssen genau hinschauen, in welchem Punkt und in welchem nicht.
Das phänomenologische „Ich“
Das „Ich“ der Phänomenologie ist das „Ich“, das ich direkt erlebe. Und dieses „Ich“ ist, in der Sprache der Philosophie, unhintergehbar. Soll heißen, wann immer ich mich oder überhaupt etwas erlebe, tue ich es als „Ich“. Ich kann Welt gar nicht anders erleben, als mit dem und durch das „Ich“. Denn all mein Erleben ist begleitet von der Empfindung, des „Ich bin“. Zwar kann es sein, dass dieses „Ich“ in Narkose, Psychose, Vollrausch oder Tiefschlaf nicht zu identifizieren ist, aber eben dann erlebt man sich auch nicht.
Das erkenntnistheoretische „Ich“
Zu dieser phänomenologischen Sichtweise gesellt sich noch eine andere, die erkenntnistheoretische, die fragt, ob und wie dieses Icherleben denn eigentlich entstanden ist.
Neben dem evolutionsbiologischen Ansatz gibt es auch eine philosophische Entstehungsgeschichte, die danach fragt, wie man denn überhaupt ein „Ich“ denken können kann. Man kann es denken, indem man sprechen kann und nicht ganz zufällig denken wir in der Sprache, in der wir aufgewachsen sind. Diese Sprache wird uns vermittelt durch andere und erst durch das Erlernen des Sprachgebrauchs und durch die Gesten, Reaktionen und Bemerkungen der anderen werden wir uns unseres Andersseins bewusst. Das „Ich“ braucht immer schon ein Du, ein anderes, Umwelt und Mitwelt um sich zu bemerken.
Wir müssen und können beides zusammen betrachten, das für das eigene Erleben unhintergehbare Phänomen des Teilnehmers und das entstandene Phänomen aus der Perspektive des Beobachters.
Und erstaunlich: Das „Ich“ kann beide Perspektiven einnehmen.