Eine Lebensbilanz ziehen wir nicht nur am Ende des Lebens, sondern immer wieder auch zwischendurch, wenn wir unser Leben hinterfragen. Wie läuft es eigentlich? Kann ich zufrieden sein? Was kommt? So weit, so gut.
Man sollte meinen, dass unsere Bilanz in starker Abhängigkeit vom Erreichten steht: Lebe ich in einer mir entsprechenden Beziehungsform? Habe ich einen Beruf, der mich erfüllt? Sind Freizeit und Wohnsituation so, wie ich es brauche? Habe ich ausreichend Freunde, Hobbys, Einkommen, Statussymbole? Wie gesund bin ich? Manche tendieren eher zur Mitte der Gesellschaft, andere zum exzentrischen Pol.
Die innere Einstellung zur Lebensbilanz
Erstaunlicherweise sind äußere Aspekte gar nicht so entscheidend wie man meint. Die Optimisten des Lebens machen aus allem das Beste: „Wird schon klappen“ ist ihre Devise, aber auch wenn es nicht klappt, gewinnen sie Erfahrung. Vermeintliche Misserfolge werfen sie nicht um. Die Pessimisten können so erfolgreich sein, wie sie wollen, im Zweifel sorgen sie sich, dass dieser Erfolg wieder vergehen wird. Vom Optimismus heißt es, dass er angeboren ist. Wer sein Leben schon immer positiv sah, wird das auch weiter tun. Aber was kann man für die Lebensbilanz der Pessimisten tun?
Als erstes: Bei der Wahrheit bleiben. Doch bei der Wahrheit zu bleiben heißt zu erkennen, dass der Interpretationsraum dafür, ob das eigene Leben gelungen oder missraten ist, gewaltig ist. Bewunderte Stars scheitern oft tragisch im Leben, während es bescheidene Menschen gibt, die sehr zufrieden sind. Doch bleiben wir beim normalen Leben, das die meisten von uns führen.
Man kann im Grunde jedes Leben von dieser oder jener Seite her interpretieren. Als eine Kette von Misserfolgen und Niederlagen aber genauso gut als eine Kette von Erfolgen und Positivem.
- Wenn Lena während ihrer Ausbildung oder eines Studiums herausfindet, dass das doch nicht ihr Traumberuf ist und umsattelt, ist sie gescheitert oder hat sie alles richtig gemacht?
- Wenn Maik in der Firma die Beförderung nicht mitmacht, weil er als Tüftler, der er gerne ist, ein zufriedenes Leben führt, dann aber in einen administrativen Bereichen käme, der ihm nicht liegt, hat er der Herausforderung nicht standgehalten oder ist er sich einfach nur treu geblieben?
- Die Familie mit zwei Kindern, Hund und Haus, ist die im Leben angekommen oder hat sie sich nur der Konventionalität eines Spießerlebens ergeben?
Man kann jeden Lebensansatz niedermachen oder gut finden. Wenn einem das wirklich klar ist, hat man die Möglichkeit seine Lebensbilanz selbstständiger zu ziehen: Wie finde ich das eigentlich? Wie will ich leben? Wie sehr verunsichern mich die Bewertungen anderer und warum tun sie das überhaupt?
Die Einstellung ändern
Misserfolgsmuster, wie „Warum immer ich?„, kann man konsequent hinterfragen. Vielleicht habe ich gar nicht so viel Pech, wie ich glaube und wenn mir das klarer wird: Warum ist es mir eigentlich so wichtig, dass es „immer mir“ schlecht geht und ich Pech habe? Es ist durchaus möglich, sich selbst auf die Schliche zu kommen.
Pessimismus, Depression und Düsterkeit sind probate Mittel, die die Kreativität befeuern: Trakl, Baudelaire um nur ein paar aus der schreibenden Zunft zu nennen. Rilke erwog einmal bei Freud in Therapie zu gehen, dieser soll im gesagt haben, er sei Künstler und möge doch darum lieber seine Neurosen behalten. Für Hesse war das Schreiben immer auch Therapie.
Auch die Umwertung ist ein Trick, der eigentlich keiner ist. Ob man Lebenskrisen als Entwicklungschancen ansieht oder als Ungerechtigkeit, ist eine Frage der Einstellung.
„Aber das stimmt doch gar nicht und ich will mir nichts vormachen“, wäre ein Einwand. Doch der setzt voraus, dass man weiß, wie etwas „richtig“ zu deuten ist und es geht gerade darum, antrainierte konventionelle Richtigkeiten und Eigenregie in eine gesunde Relation zu bringen.
Erlösende Paradoxie
Die für alle gültige Wahrheit ist, dass jeder seine eigene finden muss.
Man wird auch weiterhin an den aktuellen Konventionen gemessen. Eine ehrliche Lebensbilanz muss berücksichtigen, wie wichtig einem das ist. Man belügt sich selbt, wenn man so tut, als mache einem das Urteil der anderen nichts aus und nachts in die Kissen weint, weil man ihren Ansprüchen scheinbar nicht gerecht wird.
Doch ebensowenig zufrieden wird man, wenn einem die konventionellen Beglückungen wenig bedeuten. Das Glück lässt sich nicht durch immer mehr von Selben erzwingen.