Dass die Psychologie funktioniert, ist klar, aber wieso eigentlich? Eine interessante metapsychologische Frage.
Medizinische Verfahren, wie Operationen und Medikamentengaben, funktionieren deshalb, weil man davon ausgeht, dass Menschen auf der körperlichen Ebene weitgehend ähnlich sind. Leber, Herz und Haut funktionieren bei allen in etwa gleich und es gibt daher auch bei allen Menschen ähnliche Erkrankungen oder Verletzungen, die annähernd typisch verlaufen. Nach einer Schnittwunde heilt die Haut in einer bestimmten Abfolge, eine Grippe ähnelt einer anderen und so weiter. Und die Psyche?
Ähnlichkeit
Wenn wir empathisch sind, klappt das nur, weil der andere zu einem großen Teil so ist wie wir. Wir brauchen selbst keiner Minderheit anzugehören, um zu wissen, wie es ist, diskriminiert zu werden. Wir können ahnen, was Schmerz ist, selbst wenn wir ihn an der Stelle noch nicht hatten. Trauer, Liebeskummer, Freude, Begeisterung, Resignation, Erregung, Wut, Angst, bei all dem wissen wir ungefähr, wie der andere sich fühlt. Die Basisaffekte teilen wir alle und gewiss auch eine Vielzahl der sekundären Emotionen. Bestimmte Antriebe, Motive sind hier und heute so, wie am anderen Ende der Welt oder vor 500 Jahren. Die Psychologie funktioniert unter anderem deshalb.
Aber heißt es nicht immer, man solle seinen eigenen Weg suchen und finden, definieren wir uns nicht oft genug über unsere Einzigartigkeit? Ja, und Psychologie funktioniert als dreidimensionale Reise durch eine Innenwelt, von der wir einerseits sicher wissen, dass es sie gibt, andererseits kennen wir aus der direkten Anschauung nur unsere. Der Psychologe ist Beobachter und Teilnehmer in einem, sein Messgerät ist das, was beim anderen zu vermessen ist, die Psyche, das Ich. Er kann die Psyche nicht einfach drehen oder beobachten wie ein seltenes Mineral oder eine Gruppe von Tieren und er weiß, dass auch er eine Psyche hat und keine andere Möglichkeit um Welt wahrzunehmen und zu erleben, als eben durch sie. Dennoch sieht man natürlich nie die Innenwelt des anderen, sondern nur sein Verhalten und hier scheinen sich die Wege zu trennen, denn der eine verhält sich mitunter vollkommen anders, als ein anderer. Obendrein ist das Verhalten zuweilen auch noch anders motiviert.
Typen, Stufen und Linien
Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Schon den alten Griechen war aufgefallen, dass Menschen auf bestimmte Weise typisch reagieren und so unterschieden die ersten Typologien die Temperamente in den feurig aufbrausenden Choleriker, den beschwingten Luftikus Sanguiniker, den empfindsam gedrückten Melancholiker und den trägen, selbstgenügsamen Phlegmatiker. Es kristallisieren sich typische Unterschiede, die untereinander Ähnlichkeiten aufweisen, heraus. Mit den Typen hat man ein fixes Element der Psyche gefunden (das Temperament ändert sich kaum oder gar nicht) und ein horizontales.
Doch nicht nur Typen beschreiben den Menschen, auch vertikale Stufen und was diese angeht, können wir von einer zur nächsten gelangen und die Art, wie wir dort agieren und reagieren, ist wiederum typisch. So sehr, dass man daran sogar psychische Genesung oder Entwicklung ablesen kann. Objektbeziehungen, Träume, Sorgen, all das ändert sich, wenn Stufen, etwa im Verlauf einer Therapie, genommen werden.
Wenn ein Mensch psychisch gesundet, verfügt er über Möglichkeiten des inneren Erlebens, die ihm vorher unzugänglich waren. Er nimmt die Welt, seine Mitmenschen und die Beziehung zu ihnen buchstäblich anders wahr. Oft reicht der Fokus des Interesses zum ersten Mal über das eigene Ich hinaus und er kann auf Nachfrage konkret sagen, was sich geändert hat. So gibt es einzelne Linien der Entwicklung, die man einzeln untersuchen kann, wie die kognitive, emotionale, moralische, ästhetische, kommunikative Entwicklung. Begabte Theoretiker bringen es auf 30 Entwicklungslinien oder mehr, doch irgendwann taucht die praktische Frage auf, ob mehr Differenzierung wirklich mehr Wissen bringt oder nur unnötig verkompliziert.
Das bringt uns zu der Frage, ob all diese Klassifikationen eigentlich echt oder nur erfunden willkürliche Zuschreibungen sind. So unbefriedigend es klingen mag, auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort, weil schon die Unterteilung zwischen einem wahren und erfundenen Ereignis willkürlicher ist, als man zunächst meinen sollte. Das ist ziemlich kompliziert, weil es uns so klar und selbstverständlich erscheint, mit den Dingen der Welt umzugehen. Smartphone, Auto, Kloschüssel, Baum, Kochlöffel sind für uns solche Dinge, man weiß, was man mit ihnen macht, wie man sie bezeichnet und sie sind wirklich da. Aber wo genau beginnt oder endet ein Baum? Gehört das Erdreich, in das sich die Wurzeln graben, zu ihm und was ist mit der Luft, die ihn umgibt und ohne die er nicht sein könnte? Eine Frage, die sich auf anderer Ebene auch systemische Psychologen stellen, ob die Phänomene des einen überhaupt von seinem Umfeld zu trennen sind.
Was, wenn man sich mit dem Kochlöffel den Rücken kratzt oder sich auf die Kloschüssel stellt um eine Birne zu wechseln? Ist der Kochlöffel nicht ein Ding zum rühren? Ist die Kreativleistung, in der man den Löffel zweckentfremdet, eigentlich echt oder erfunden? Was aber, wenn man zum Beschreiben einer Situation eine Metapher oder Analogie gebraucht? Man reißt ein Wort aus seinem eigentlichen Kontext, zweckentfremdet es ebenfalls, aber der andere versteht uns dadurch besser, wenn die Metapher gelungen ist und von bleierner Müdigkeit erzählt. Ist die Zweckentfremdung des Begriffs unechter als die Zweckentfremdung des Löffels, weil der eine aus Holz, der andere nur aus Gedanken oder Schallwellen besteht?
So ist es auch mit den Klassifikationen, man sieht bestimmte Ähnlichkeiten, fasst diese beschreibend zusammen und nennt sie neurotisch, cholerisch, depressiv oder wie auch immer. Man kann sich drüber verständigen und weiß, wenn man Ahnung hat und sich einarbeitet, was gemeint ist. Das ist vielleicht weniger präzise, als einige Psychologen glauben, aber auch weitaus weniger willkürlich, als mancher Kritiker meint. Wichtiger als die Frage nach der Echtheit, ist die nach der Konsistenz, der inneren Folgerichtigkeit des Theoriengebäudes, aus dem die Bezeichnungen stammen und dann immer wieder der Abgleich mit der Lebenswirklichkeit.
So ergeben sich Cluster oder Ballungen in den Typen (aktuell dominierend das Fünf-Faktoren-Modell), den Stufen und den Linien, die Raum für Individualität lassen und doch Klassifikationen ermöglichen, so dass man eben entscheiden kann, dass dieses oder jenes Erleben, Denken und Verhalten typisch für einen Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung oder Herzneurose ist. Differenzierung und Zusammenfassung, Hierarchisierung und theoretischer Zusammenhang, so wie Abgleich mit der Realität, markieren, dass das Vorgehen nach der Psychologie funktioniert.