Blickt man auf Deutschland in der Frühphase 2015, dann dominiert anscheinend ein Gefühl: die Verunsicherung. PEGIDA und Islamismus, Kalter Krieg 2.0, Krieg in der Ukraine und Eurokrise, Fragen nach Klimawandel, Energiewende, Rente, Kapitalismus, wie umgehen mit Demokratie und Menschenrechten, um nur manches anzureißen. Insofern auch ein Thema für uns, verbunden mit der Hoffnung, ein Verständnis für diese Prozesse zu ermöglichen, statt Schuldprojektionen hin und her zu schicken.
Plötzlich und unerwartet?
Bricht die Verunsicherung über einen oder über eine Region oder Gesellschaft herein, hat man oft das Gefühl, dies käme wie der Blitz aus heiterem Himmel. Eben war doch noch alles so ruhig und entspannt und nun das. Spannungen überall und das Gefühl, dass die Welt irgendwie langsam verrückt wird, man selbst kann dem Schauspiel nur hilflos zuschauen.
Doch gleichzeitig ist das die Stunde der vereinfachenden Welterklärer. Sie sind es, die das alles schon längst haben kommen sehen. Sie haben gleichzeitig Recht und Unrecht, nur oft anders, als sie selbst meinen. Sie sind überzeugt, dass sie inhaltlich auf dem richtigen Dampfer sind und genau das stimmt oft nicht. Ihre Deutungen sind häufig fundamentalistisch, aber so simpel sie sein mögen, es sind immerhin Angebote und so einseitig der inhaltliche Aspekt oft ist, in einem anderen Punkt liegen auch Fundamentalisten und Extremisten richtig: Erklärungen helfen.
Dabei ist der Inhalt der Erklärungen fast schon nachrangig, wichtig ist, dass man eine Erklärung hat. Dem Einzelnen gibt es das Gefühl, die Orientierung zurückzugewinnen und die Verunsicherung zu dämpfen. Problematisch ist, dass man dabei schnell in massenpsychologische Regressionsphänomene rutscht. Innerhalb einer Masse werden die vorhandenen Spannungen durch eine kollektive Regression abgebaut, in der auf einmal relativ schlichte Parolen, auch auf intelligente und gebildete Menschen, absolut überzeugend wirken.
Das Individuum fühlt sich besser, weil die Welt nun wieder einfach und geordnet ist. Man hat wieder einen klaren Feind und selbst wenn er Ängste auslöst, so ist doch wenigstens klar, wer er ist, wo die Guten und wo die Bösen sitzen. Das hilft dem Einzelnen.
Allein die Probleme sind so gut wie nie auf eine Ursache zu reduzieren und so sind auch die Antworten der Extremisten und Verschwörungstheoretiker zwar subjektiv hilfreich, aber oft genug nicht geeignet um die Probleme der Gesellschaft tatsächlich zu lösen. Dazu kommt, dass es immer eine andere Seite gibt, die ebenfalls ihre übervereinfachenden Antworten hat, das führt zu dem manchmal eskalierenden Streit.
Orientierungslosigkeit
Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Welt weitaus geordneter als das heute der Fall ist. Und wenn sie es nicht war, so schien sie zumindest so, man war überzeugt, in einer zu leben. Noch vor 30 Jahren ging man mit dem Gefühl in die Schule, dass man alle Zeit der Welt hatte und wer sein Studium nach 34 Semestern abbrach, galt nicht als gescheiterte Existenz, man hatte das Gefühl, dass es noch genügend andere Möglichkeiten gibt.
Dieses gehetzte Gefühl von Leistungsdruck, Praktika in den Ferien und einer diffusen Konkurrenz, die überall lauert, war einfach nicht vorhanden. Nachhilfe war den Lernschwachen vorbehalten und diente eher nicht dazu, um von einer guten zu einer sehr guten Schulnote zu gelangen.
Kurz, die Angst vor dem sozialen Abstieg war nicht vorhanden. Psychologisch ist das Gefühl, das was man hat, sei es wenig oder viel verteidigen zu müssen, etwas vollkommen anderes, als das wenn man ein wenig oder viel gewinnen könnte. Menschen, die das Gefühl haben auf dem aufsteigenden Ast zu sein, werden wagemutig, Menschen mit Verlustangst werden konservativ.
Wer allein mit trockenen Zahlen argumentiert, geht oft über die psychologische Situation der Menschen hinweg, die man erkennen und erklären muss. Es ist vor allem die Angst vor dem sozialen Abstieg, vielleicht noch stärker als von dem finanziellen, die gefürchtet wird, es ist die Angst nicht nur der Ränder, sondern des Mittelstandes.
Arm und Reich
Die weniger gute Nachricht: Die Angst ist durchaus berechtigt. Ein Symptom ist, dass wir eine zunehmend depressive Gesellschaft werden. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, sowohl in Deutschland, als auch weltweit und auch wer Arbeit hat, ist zuweilen arm.
Projektion statt Solidarisierung
Logisch und psychologisch ist nicht immer dasselbe, so auch hier. Man sollte meinen, dass es eine große Solidarität zwischen denen gibt, die Abstiegsängste haben, und denen, die es schon erwischt hat. Doch das ist nicht der Fall, denn psychologisch ist es viel leichter die anderen, die irgendwas falsch gemacht haben müssen, die Schuld für ihren Zustand zuzuschreiben, dann hat man selbst die Möglichkeit, es durch eigene Klugheit besser zu machen und sieht sich weniger bedroht.
Das Grundgefühl, dass die nächste Generation es mal besser haben soll und wird, ist der Sorge gewichen, ob sie es noch halbwegs so gut hat, wie heute. Soeben wurde die Uhr des Weltuntergangs wieder auf einen Stand gestellt, wie seit 30 Jahren nicht mehr. Gut fühlt sich das nicht an und es ist die Angst einer sich bedroht fühlenden Mittelschicht.
Die Wende und das Ende des Aufstiegs
Zeitlich, aber vermutlich nicht inhaltlich, fiel die deutsche Einheit mit dem Ende des Aufstiegs zusammen. Aus der Korrelation wurde (fälschlich) eine ursächliche Verknüpfung gestrickt, auch hier waren aus Sicht vieler die Schuldigen schnell gefunden: die Ossis. Jahrzehntelang in ihrem kommunistischen Käfig eingesperrt, bekamen sie aus Sicht vieler Wessis von der Welt ohnehin nichts mit, waren teuer und obendrein auch noch undankbar.
Diesen Staffelstab, das Gefühl Menschen zweiter Klasse und teuer zu sein, geben einige Ostdeutsche – und ebenso sich bedroht fühlende Westdeutsche – aktuell an die Muslime weiter. Doch psychologische Erklärungen hin oder her, auch das Gefühl eines so oft zitierten diffusen Unbehagens muss man ernst nehmen, kann man nicht übergehen. Wie das Unbehagen jenseits radikaler Lösungen aussehen könnte, darüber muss politisch und gesellschaftlich gestritten werden, hilfreich für alle wäre eine Positivliste dessen, was man nun eigentlich genau erreichen möchte und für wen das gelten soll.
Die demografische Entwicklung in Deutschland und Europa
Doch das eigentliche Problem des sozialen Abstiegs könnte an ganz anderer Stelle liegen, nämlich im demografischen Niedergang Europas, der insbesondere auch Deutschland erfasst. Damit die Zahl der Nachkommen stabil bleibt, braucht eine Gesellschaft statistisch gesehen 2,1 Kinder pro Frau. Derzeit liegen die Zahlen bei 1,4 bis 1,6 Kindern und sind stabil niedrig. Um das ganze Problem zu verstehen, ist der Blick in die angrenzenden Länder wichtig. Der Trend geht klar dahin, dass Europas demografische Entwicklung in die Richtung einer Schrumpfung und Alterung geht. 40 Millionen weniger Einwohner werden 2050 in Europa erwartet, ob das gut oder schlecht ist, wird kontrovers diskutiert.
Der Hinweis darauf, dass unsere Gesellschaft ja nicht nur älter, sondern auch immer fitter wird, ist nur eine Momentaufnahme, die sich jederzeit ändern kann. Es ist vollkommen ungeklärt, warum so viele Menschen heute dement werden und Fitness und Erfahrungsvorsprung werden womöglich dadurch aufgefressen, wenn sich diese Entwicklung fortsetzt. Niemand weiß, ob das einfach eine Alterserscheinung ist – aber so schnell sind nicht so viele Menschen älter geworden -, ein Slow-Virus, ein Stressgeschehen, soziale Ausgrenzung vieler alter Menschen oder eine Vergiftung. Einer der besten Lösungsansätze derzeit scheint aus der Naturmedizin zu kommen und heißt Johanniskraut.
Detailproblematiken müssen wir ausblenden, wie etwa die, dass das Potential älterer Menschen zwar immer wieder besprochen, aber nicht genutzt wird.