Für manche sind Spiritualität und Religion annähernd dasselbe, für andere sind es krasse Gegensätze. Das ist sonderbar und liegt zum Teil an der uneinheitlichen Sprachregelung, zum Teil aber auch an der Vernachlässigung des Themas seitens mehrerer Institutionen. Die Themen spielten in der breiten Öffentlichkeit lange Zeit überhaupt keine Rolle. Zwar waren früher sehr viel mehr Menschen in Deutschland religiös, im Sinne der konfessionellen Bindung, aber da war dann auch das Thema der Spiritualität ganz organisch geparkt. Spiritualität, das war irgendwas im Dunstkreis dieser oder jener Religion, so genau wollte man es dann auch nicht wissen.

Die Kirchen fühlten aus einer gewissen Selbstverständlichkeit heraus einen Alleinvertretungsanspruch über beide Bereiche und von Wissenschaft, Psychologie und Philosophie wurde das Thema gemieden, weil es teilweise weder die Karriere beförderte, noch konnte man sich vorstellen, dass Spiritualität oder Religion irgendwas Bedeutendes zu sagen hätten und so wurde das Thema sogar unter eher pathologischen Aspekten und mit spitzen Fingern betrachtet. Nicht zuletzt gab es in der Psychologie lange Zeit eine antireligiöse Tradition.

Was also ist gemeint, wenn von Spiritualität und Religion die Rede ist?

Religion ist eine Frage des Glaubens, der Überzeugung. Man glaubt (in aller Regel), dass es bestimmte höhere Mächte gibt, die auf unser Leben Einfluss nehmen können und daran, dass dieses Wissen bestimmten auserwählten Menschen offenbart wurde, die es dem Rest der Welt weitergaben. Vermitteltes Wissen.

Spiritualität ist eine Frage der eigenen Erfahrung, der spirituellen Praxis oder der spontanen Schau, also Wissen aus erster Hand.

Ob nun Spiritualität und Religion Gegensätze sind oder doch Hand in Hand gehen, ist eine Frage des Weltbildes im Hintergrund.

(K)eine Frage der Erkenntnis?

Sind Spiritualität und Religion denn nun eine Frage der Erkenntnis, oder nicht? Religion muss man zwar „nur“ glauben, aber die Frage nach der Vereinbarkeit von Glauben und Wissen, Glauben und Vernunft und rationaler Erkenntnis ist ein weites Feld der christlichen Tradition. Wie überzeugend man diese Vereinbarkeit im Einzelfall findet, ist wohl auch eine Frage des Glaubens, die heute gravierender ist, als zu der Zeit als Religionen aufkamen und ein mehr oder minder konkurrenzloses Deutungssystem waren.

Und Spiritualität? Die Menschen würden sich nicht immer und immer wieder zu spirituellen Praktiken hingezogen fühlen, wenn es dabei nichts zu erfahren gäbe. Nur fragt man, was denn da erfahren wurde, werden die Stimmen oft leiser. Nicht, weil da nie etwas war, eher, weil zum Teil die richtigen Worte fehlen. Das ist keine Problematik, die allein auf die Spiritualität beschränkt ist, wir kennen sie aus vielen Lebensbereichen. Wonach schmecken eigentlich Pfifferlinge? Wenn man nicht trainiert ist Geschmäcker sehr genau zu definieren, von Textur und diesen und jenen Aromen, die man erst einmal erkennen und benennen können muss, zu sprechen, dann bleibt eigentlich nur zu sagen: „Naja, nach Pfifferlingen.“ Aber man hat einen Vorteil. Wenn jemand es genau wissen will, stellt man ihm einen Teller mit Pfifferlingen in verschiedenen Variationen hin und dann weiß er, wie Pfifferlinge schmecken. Sicher eine Erkenntnis, auch wenn man sie nicht leicht in Worte fassen kann. Möglich ist es, beim Wein kennen wir dieses Spiel, das Reden von sekundären und tertiären Aromen, prüfen, wo im Mund der Wein zu schmecken ist, Vanilletöne treffen auf Brombeeraromen, Vollmundigkeit auf Tannine, Mineralität und so weiter. Und damit wir wissen, wovon die Rede ist, kann man immer das Glas reichen und sagen: „Hier, probier‘ mal.“

Prinzipiell besteht diese Möglichkeit in der Spiritualität auch. Nur kann man nicht erzwingen, dass jemand bei der ersten Meditation genau die Erfahrung macht, die man selbst gemacht hat. Zwar sind Gipfelerlebnisse zu jeder Zeit möglich, aber oft treffen sie genau beim ersten Mal so wenig ein, wie sich beim ersten Kontakt mit Wein ein Gefühl für Mineralität und leichte Pfirsichtöne einstellt. Viel öfter urteilt man anfangs oft in groben Kategorien, wie süß oder sauer.

Muss man eine Erkenntnis in Worte fassen können?

Ich habe meinem Vater zum vorigen Geburtstag eine Karte für ein Jazzkonzert geschenkt und ihn begleitet. Jazz, das ist nicht nur ein Musikstil, sondern die Assoziation von Neuem, Freiheit, dem, was da nach dem Krieg aus Amerika rüberkam, für die Generation meines Vaters. Ich hatte, vielleicht auch deshalb, zu Jazz nie einen richtigen Zugang und so war dieses Jazzkonzert das erste in meinem Leben. Nach einiger Zeit merkte ich aber, dass der Funke übersprang, ich nun ein Gefühl für diese Musik bekam, verstand, was daran faszinieren konnte. Natürlich lassen sich auch dafür Begriffe finden, aber dieses mitgehen, mitswingen mit der Musik, ist eben etwas, was man erleben muss. Dass der Funke überspringt ist bereits eine begriffliche Einkleidung dieser Erfahrung und wenn wir von Musik reden würden wir das mit verstehendem Wohlwollen konstatieren, bei der Spiritualität ist man da zögerlicher.

Uns fehlen nicht primär die Begriffe, sondern die breite Praxis und der Austausch darüber. Begriffe gibt es, vor allem die Inder, aber auch andere spirituelle Traditionen haben für so ziemlich jede Erfahrung einen geprägt, aber das ersetzt nicht den Diskurs. Intersubjektivität bedeutet einfach, eine Erfahrung mit einem beliebigen Begriff zu belegen und wechselseitig abzunicken, dass man diese Erfahrung bestätigen kann. So erfährt man die Sicherheit, dass die Erfahrung kein Hirngespinst ist, da andere sie auch gemacht haben.

So gibt es bei der Meditation sowohl eine „Mir tun die Knie weh“-Erfahrung als auch eine „Shunyata„-Erfahrung. Natürlich wird die „Mir tun die Knie weh“-Erfahrung zunächst von weitaus mehr Menschen bestätigt und geteilt, als die „Shunyata“-Erfahrung. Das ist wie mit der „Mineralität“ und „Süß“-Erfahrung beim Weintrinken. Doch diese „Also, mir tun da nur die Knie weh“-Botschaften, die irgendwie kritisch und originell klingen sollen, werden bei Licht betrachtet, doch schnell etwas öde und durchsichtig. Stellen wir uns noch mal meine Anfängererfahrung beim Jazz vor. Natürlich kann ich über diese nun ausführlich schreiben, aber vielleicht möchte der eine oder andere wissen, wie denn nun das Konzert war. Wer spielte eigentlich, was wurde gespielt, wie gut waren die Musiker, wie originell die Improvisationen? Wenn ich nur über meine privaten Eindrücke schreibe, wie heiß es an der Abend war, dass mich das Durchschnittsalter der Zuschauer gewundert hat und wie bequem die Stühle waren, wissen die Leser, springender Funke hin oder her, noch immer nichts über das worum es eigentlich geht: die Musik.

Auch bei der Spiritualität kann oder könnte man sich sozusagen auf das Kerngeschäft, die spirituelle Erfahrung selbst, konzentrieren. Doch es gibt hier weder eine einheitliche Sprachregelung noch eine genügend breites Netz an spirituell Praktizierenden, die sich regelmäßig austauschen. Dass man das alles nicht sagen können soll, erscheint mir eher wie eine Ausflucht. Man bekommt zwar keine subjektive Erfahrung durch bloße Worte, so dass diese ausreichen würden, beim anderen eine Erfahrung auszulösen. Aber das gilt für die Liebe, den Geschmack von Pfifferlingen oder wie es ist, sich beim Sport maximal zu verausgaben, ebenso.

Weder muss man auf jede sich spirituell nennende Idiotie hereinfallen, noch auf jede dämliche Kritik, die eher die Unkenntnis der Kritiker offenbart als sonst etwas, auf die Irrwege gehen wir weiter unten (im nächsten Beitrag) noch ein.