Könnte auch alles ganz anders sein?

surreale Darstellung  der Welt in gelb, rot, schwarz

Könnte die Welt auch so sein? © Nicko‘ under cc

Es gibt ein schönes philosophisches Szenario von Hilary Putnam, das um ein Gehirn in einem Tank mit Nährlösung, kreist. Wenn man in einem Gedankenexperiment, das die technischen Möglichkeiten dazu voraussetzt, animmt, verrückte Wissenschaftler würden in der Nacht das Gehirn aus dem Kopf eines Menschen operieren und es mittels Nährlösung am Leben erhalten und diesem Menschen nun per Supercomputer, der das Hirn stimuliert, suggerieren, es würde wie jeden Tag zuvor ganz normal weiter leben, würde man das merken, wäre es denkbar?

Wenn man die Idee vertritt, alles, was wir erlebten seien lediglich elektrische Impulse und diese könne man auch simulieren, dann ist das durchaus denkbar. Aber den Philosophen geht es ums Prinzip. Wäre die perfekte Simulation der Welt möglich? Nein. Nicht auf lange Sicht und in der Breite. Unsere Sprache würde kollabieren. Begriffe sind nicht nur Worte, sondern sind Assoziationsknäuels. Ein Begriff wie „süß“ evoziert – wie wir es beim Artikel über Priming darstellten – nicht nur Wissen über die Anwendung eines Begriffs, sondern zugleich Assoziationen von weiteren Begriffen, Bildern, Geschmackseindrücken … Früchte, Schokolade, Zucker, aber vielleicht von süßen Mädchen oder süßen Tieren und weiterem, was wir mit dem Begriff süß belegen. Es kommt auch ein Wissen darüber zum Vorschein, wann der Begriff verwendet wird und dass er für eine Zitrone oder ein Stück Kohle eher nicht gilt. Wir wissen, dass, wenn wir „süß“ gebrauchen, wir bestimmte süße Geschmackseindrücke damit bezeichnen oder auch visuelle Eindrücke von Menschen und Tieren mit Kulleraugen und Stupsnasen, aber man kann durchaus auch ein kleines Auto süß finden. Ein Braunkohlebagger wäre eine ungewöhnliche Assoziation und würde Nachfragen erzeugen: „Was ist denn daran süß?“

Und diese Nachfragen sind interessant. Denn sie setzen voraus, dass es eine reale Welt mit eigenständig denkenden Menschen gibt, die eben, bei Nichtverstehen oder ungewöhnlichem Gebrauch von Begriffen gelegentlich nachfragen. Nun könnte man weiter fragen, ob man diese Außenwelt nicht in Echtzeit oder per Update wie eine Serie, die über Jahre läuft, einblenden könnte. Nun, vielleicht ginge das mit einem Menschen, oder ein paar von uns. Aber könnte man auch alle Menschen so beeinflussen? Nein, denn wenn man Menschen isoliert, würden die Sprachspiele und -praktiken zerfallen oder mindestens einfrieren, weil die Schaffung neuer Begriffe und Praktiken andere sprachbegabte Mitwesen verlangt. Es würde niemand kritisch nachfragen. Alle denkbaren Szenarien laufen entweder auf Stillstand hinaus oder darauf, dass es doch irgendeine Art gemeinsamer Umwelt für eigenständige Wesen gibt. Was bedeutet das für unsere Welt?

Die Auflösung

Es könnte nicht alles ganz anders sein. Jedenfalls nicht, wenn wir erfolgreich miteinander reden. Der Philosoph Olaf Müller, der sich unter anderem ausführlich Putnams „Gehirn im Tank“ Szenario gewidmet hat, geht auf viele philosphische Argumente gegen eine skeptsiche Position (d.h. die Frage, ob auch alles anders sein könnte) ein. Wir erleben Welt so, wie sie für uns ist. Für Wesen mit anderen Wahrnehmungen könnte die Welt anders erscheinen, aber sie alle nehmen Bezug, wenn sie erfolgreich kommunizieren, auf eine Welt, die gemeinsam ähnlich erlebt wird. Würden wir alle die Welt vollkommen anders erleben, wäre Kommunikation nicht mehr möglich, weil schon die Frage: „Ich verstehe gar nicht, was du meinst“, beim anderen ankommen würde. Er würde dann nämlich tatsächlich nicht verstehen, was gemeint ist, auch mit einer solchen Frage.

Worin wir uns unterscheiden, sind Interpretationen unseres Welterlebens und darin mitunter drastisch. In wundersame Innenwelten, Exzentriker, Heilige und Psychopathen und anderen Artikeln sind wir auf diese Abweichungen eingegangen, aber diese Abweichungen brauchen als Hintergrund eine gewisse Normalität, damit die Kommunikation erhalten bleibt.

Wir sehen die Welt verschieden, vor allem bewerten wir das, was wir sehen äußerst verschieden. Die geistige oder soziokulturelle Welt, die auch Möglichkeitsformen beinhaltet, ist eine ungleich reichere Welt als die des realen Soseins, wenn man Realität, als das was amn sehen und messen kann versteht. Wir begreifen erst allmählich, dass und in welchem Umfang unsere Wahrnehmung Interpretation statt reiner Abbildung ist, von unseren Einstellungen abhängt und welchen Einfluss etwa die soziale Wahrnehmung hat.

Wir interpretieren unsere Welt in einer Weise stets individuell, doch in anderer Weise auch typisch, nämlich so, wie viele andere sie sehen, die so ähnlich denken wie das Individuum, aber ziemlich anders, als andere.

Sind wir alle manipuliert? Nein, wir sind es nicht. Reflexion ist der Weg aus der Manipulation, nämlich genau dann, wenn jemand die Einwände derer, die meinen, dass er manipuliert sei, aufnimmt und bedenkt. Für die junge Zahnärztin, die die elterliche Praxis übernimmt und beteuert, der Beruf hätte sie immer schon fasziniert, würde das bedeuten, dass man ihr zutrauen kann, die Einwände kritisch zu prüfen. Vielleicht kommt sie zu dem Schluss, dass es tatsächlich nicht auszuschließen ist, dass die heimlichen und offenen Wünsche ihrer Eltern die Berufswahl beeinflusst haben, aber dass sie, auch wenn sie dies in Betracht zieht, ihren Beruf dennoch gerne ausübt. Wenn sie nach allem abwägen dennoch mit ihrer Wahl einverstanden ist, besteht kein Grund anzunehmen, dass sie manipuliert ist. Es sei denn man legte selbst weitere gute Gründe vor, das muss man dann aber auch tun, die Kritik muss echt und begründet sein und nicht nur auf pauschalen Misstrauen beruhen.

Grundsätzlicher ist die Frage bei weltanschaulichen Themen wie der Kritik am Kapitalismus. Wenn jemand sagt, er sei grundsätzlich mit dem Kapitalismus einverstanden, wenn vielleicht auch nicht bis in jedes Detail, so kann man schon nachfragen, ob derjenige sich mit einer hinreichenden Zahl von Einwänden gegen das kapitalistische System auseinandergesetzt hat. Hat er dies getan, so ist er aber nicht gezwungen, zu denselben Schlussfolgerungen zu kommen, wie der Kritiker. Es ist ein Ausdruck seiner persönlicher Freiheit (oder auch Borniertheit) zu den anderen Schlüssen zu gelangen. Nun zu unterstellen, der andere müsse manipuliert sein, sonst würde er zwingend zu den gleichen Ergebnissen kommen müssen, wie man selbst, überspannt den Bogen, denn man damit behauptet man: Wer nicht so denkt wie ich, ist dumm, bösartig oder eben manipuliert. Das allerdings ist das Denken von Fundamentalisten und Verschwörungstheoretikern. Wir müssen es ertragen, dass der andere wirklich anders ist, anders empfindet, denkt und zu anderen Schlüssen kommt. Wir haben das Recht ihn dafür begründet zu kritisieren, falls wir anderer Auffassung sind und können verlangen, dass er unsere Einwände nach seine besten Möglichkeiten prüft. Doch weiterhin wird es Unterschiede geben, eben weil wir anders fühlen, verschieden intelligent sind, unterschiedlich entwickelt und geprägt wurden.

Eine Welt frei von Einflüssen ist einfach nicht denkbar und möglich, insofern ist man immer beeinflusst. Doch beeinflusst muss nicht bedeuten, dass man manipuliert ist, wenn man nach kritischer Prüfung mit etwas einverstanden ist. Und im Grunde ärgern wir uns auch meistens nicht darüber, dass die anderen manipuliert sind, sondern einfach, dass sie zu anderen Schlüssen kommen, als wir: „Wie kannst du nur?“ Dass man aber auf der Grundlage eigener Empfindungen, Einsichten und Wertigkeiten entscheidet, ist eben gerade nicht ein Ausdruck einer Manipulation, sondern das genaue Gegenteil. Es ist die kompatibilistische Version von Freiheit, die auch inmitten verschiedenster Einflüsse erhalten bleibt.

Quellen:

  • [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Manipulation
  • [2] Otto F. Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Klett-Cotta 1998, S.296f
  • [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Arthur_Schopenhauer#Die_Welt_als_Wille