Im Anschluss an das Interview mit einer von Trichotillomanie Betroffenen soll nun die klinische Einordnung dieser Störung betrachtet werden, um aus psychologischer Sicht zu erläutern, was Trichotillomanie ist. Was ist charakteristisch für Trichotillomanie gemäß dem psychiatrischen Klassifikationssystem und welche anderen Störungen müssen diagnostisch ausgeschlossen werden?
Was ist Trichotillomanie? – Klassifikation
Im psychiatrischen Klassifikationssystem ICD-10 ist Trichotillomanie den „Abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“ zugeordnet (F 63.3, vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, 2016). Auf die Trichotillomanie bezogen, sind folgende Punkte zur Klassifikation bedeutsam (in Anlehnung an Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, 2016; Möller et al., 2009):
- wiederholter Impuls, sich die Haare (ggf. an verschiedenen Körperstellen) auszureißen
- keine Kontrolle über dieses Verhalten
- mehrere misslungene Versuche, sich gegen diesen Impuls zu wehren
- unvollständiger Haarausfall an leicht erreichbaren Stellen; ungleichmäßig verteilte Areale mit beachtlichem Haarverlust (hauptsächlich an der Kopfhaut oder/und Augenbrauen, Bart, Wimpern, Beinhaare etc.)
- wachsendes Spannungsgefühl vorab, bevor es zum Haare ausreißen kommt
- im Anschluss Gefühl von Erleichterung/Befriedigung
Darüber hinaus berichten Betroffene während des Haareausreißens häufig auch Gefühle der Leere, der Langeweile oder des „In-sich-versunken“-Seins. So kann dieses Verhalten durchaus während des Autofahrens, des Fernsehens, beim Lernen oder beim Lesen auftreten. Manche suchen nach einem speziellen, „auffälligen“, Haar (besonders dick o.ä.), um dieses herauszureißen. Andere verspüren einen Juckreiz an der betroffenen Stelle, welcher mit einer Linderung nach dem Haareausreißen einhergeht. Auch die orale Beschäftigung im Anschluss mit dem Haar, etwa um damit über die Lippen zu fahren oder die Haarwurzel abzubeißen, ist nicht unüblich.
Differentialdiagnosen bei „Trichotillomanie“
Laut ICD-10 (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, 2016) darf keine Diagnose auf Trichotillomanie gestellt werden, wenn zuvor eine Hautentzündung bestanden hat (die z.B. einen Juckreiz hervorgerufen hat). Darüber hinaus kann das Ausreißen der Haare als Reaktion auf ein Wahnphänomen oder eine Halluzination zu interpretieren sein und darf in diesen Fällen nicht den Störungen der Impulskontrolle zugeordnet werden. Ebenfalls ausgeschlossen werden muss die „Stereotype Bewegungsstörung mit Haarezupfen“, welche als „Willkürliche, wiederholte, stereotype, nicht funktionale und oft rhythmische Bewegungen, die nicht Teil einer anderen psychischen oder neurologischen Krankheit sind …“ (Codierung F 98.4 im ICD-10, vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, 2016) beschrieben wird.
Häufigkeit der Trichotillomanie
Lange Zeit war über die Trichotillomanie nur wenig bekannt. In den letzten Jahren ist sie mehr und mehr in das Bewusstsein von Psychiatern, Psychologen und Klinikern gerückt, sodass Betroffene sich nicht mehr als alleingelassen mit dieser Erkrankung empfinden.
Was die Häufigkeit des Auftretens der Trichotillomanie anbelangt, so ist die epidemiologische Erfassung dieser Erkrankung noch nicht ausreichend belegt. Laut einer Umfrage an 2.500 amerikanischen Collegestudenten wird eine vorsichtige Schätzung der Lebenszeitprävalenz von 0.6 % angegeben (vgl. Chamberlain et al., 2007). Studien zeigen, dass Frauen häufiger betroffen zu sein scheinen als Männer, in etwa im Verhältnis 3:1.
Auftreten in Zusammenhang mit anderen Erkrankungen
Klinischen Studien zufolge kann die Trichotillomanie oft in Zusammenhang mit Angststörungen auftreten, aber auch in Zusammenhang mit Depressionen, Substanzmissbrauch, Tics, ADHS und Zwangsstörungen (vgl. Chamberlain et al., 2007). Daraus ergeben sich unterschiedliche Behandlungsansätze.
Die klinische Vorgehensweise bei der Trichotillomanie – das Eruieren möglicher Ursachen sowie daraus resultierende mögliche Behandlungsansätze – wird im letzten Teil unserer Serie besprochen, um besser verstehen zu können, was die Trichotillomanie ausmacht und wie damit umzugehen ist.
Quellen:
- Chamberlain, S.R., Menzies, L., Sahakian, B.J. & Fineberg, N.A. (2007). Lifting the Veil on Trichotillomania. The American Journal of Psychiatry, 164(4). S. 568-574.
- Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2016). ICD-10-GM Version 2016. Verfügbar unter: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2016/ [14.05.2016].
- Möller, H.-J., Laux, G. & Deister, A. (2009). Duale Reihe Psychiatrie und Psychotherapie (4. Aufl.). Stuttgart: Georg Thieme Verlag.