Keine Erwartungen, kein Fetisch, keine Bürden
Der nahende Tod ist immer auch eine Gelegenheit eigene Dinge in Ordnung zu bringen, sich unter Umständen noch einmal auszusprechen, zu erklären oder zu entschuldigen. Es ist schön und oft erlösend für das Kind, wenn Eltern das gelingt und fast wie ein Bann oder Fluch fürs Leben, wenn Eltern dazu nicht in der Lage sind. Es ist leider auch der Fall, dass Eltern das übersehen oder missachten, denn allein die Tatsache, dass jemand stirbt, macht noch keinen besseren Menschen aus ihm, auch wenn der nahende Tod so manches relativiert und die Prioritäten gerade rückt. Meistens ist es, wie oben beschrieben, so, dass die Egozentrik massiv abnimmt und eine auch für Betroffene als friedlich erlebte Stimmung eintritt. Im Fall starker pathologischer Verzerrung kann diese auch bis in den Tod andauern. Wenn sich Eltern jedoch schon aktiv Gedanken um die Zukunft ihrer Kinder machen, ist davon auszugehen, dass so ein pathologischer Fall nicht vorliegt, wenn es sich bei den Gedanken wirklich um das Wohl der Kinder geht und nicht um einen Mühlstein wie: „Mach‘ mir bloß keine Schande.“
Schön wäre es, wenn man die Zukunft des Kindes nicht mit allzu konkreten Erwartungen belastet. Natürlich wollen Eltern in der Regel das Beste für ihr Kind, aber manchmal gibt es eine Differenz zwischen dem, was Eltern sich als das Beste aus ihrer Sicht vorstellen können und was die Kinder selbst dazu empfinden. Insofern wäre es eine Belastung wenn die Wünsche eines sterbenden Elternteils zu konkret sind und doppelt unglücklich, wenn es sich um ein Elternteil handelt, das obendrein sehr stark idealisiert wird, weil man sich dessen Wünschen kaum entziehen kann. Daraus ergibt sich, dass weniger Idealisierung, wie schon erwähnt, die eine Seite ist und weniger Konkretisierung im Bezug auf die Zukunft die andere.
Wenn man dem Kind mitteilt, dass man sich freuen würde, dass es seinen Weg ins Leben findet, glücklich und erfolgreich in dem Maße und Sinne wird, wie es das später selbst als richtig empfindet, es den eigenen Idealen und dem eigenen Lebensweg entspricht und dass das Kind von allen guten Gedanken jetzt und in alle Ewigkeit begleitet wird, dann ist das vermutlich besser, als wenn es heißt, dass man erwartet, dass die Zahnarztpraxis übernommen und erfolgreich weitergeführt wird, um den Kontrast mal bewusst schroff zu zeichnen. So sollte man auch aus konkreten Andenken, wie einem vererbten Ring oder dergleichen tendenziell kein Fetisch machen, weil auch daraus ein Fluch werden kann, wenn das Andenken dann doch einmal verloren geht oder zerstört wird.
Doch wie jeder Mensch ist auch jede Beziehung zwischen Menschen einzigartig und so kann es Konstellationen geben, in denen ohnehin schon idealisierte Eltern oder die Nachkommen einer Familie, in der Tradition eine sehr große Rolle spielt, von genauen Vorgaben und emotional stark aufgeladenen Andenken sogar profitieren und daraus ihre Kraft zum Weiterleben und ihre Energie für Jahre ziehen. Das ist auch eine Typenfrage und sollte berücksichtigt werden, so wie abermals, wie sich das Kind, oder die Kinder mit den Eltern und dem bald sterbenden Elternteil verstehen.
Verstehen sie sich sehr schlecht, ist die Schuldfrage zu berücksichtigen, das heißt, es muss geprüft werden, ob die Kindern sich am Tod ihrer Eltern schuldig fühlen und es sollte ihnen altersangemessen klar gemacht werden, dass und warum das nicht der Fall ist. Werden die Eltern ohnehin sehr stark bewundert, kann es sein, dass ihr Einfluss über den Tod hinaus groß ist und die Kinder ohnehin versuchen, es ihren Eltern recht zu machen, das könnte Jahre später im Rahmen der normalen Entwicklung noch einmal ein Thema werden, wenn man versucht, sich von den Eltern innerlich zu lösen und seinen eigenen Weg im Leben zu finden.
Allgemeiner und wenn die Beziehung zu den Eltern normal gesund und nicht auf Bewunderung ausgelegt ist, hilft es den Kindern, wenn junge Eltern sterben, dass man ihnen in dieser ungeheuer schwierigen, traurigen und traumatiserenden Situation, ein ungefähres Gerüst gibt und der sterbende Mensch weder als Heiliger noch als nur Kranker gesehen wird und dem Kind die Möglichkeit zur Verfügung gestellt wird, das Elternteil nachträglich und nach eigenem Wunsch (der groß sein wird) kennen zu lernen, verstehen zu lernen und im eigenen Herzen lebendig zu halten.
Letzte Gedanken
Phillippe Ariès‘ Kraftakt über die Geschichte des Todes zeichnet nach, dass die Verknüpfung des Todes mit dem Bösen notwendig war um zum schamhaften Verschweigen des Todes zu gelangen, was wir heute noch immer kennen. Der Tod ist nach Ariès nie nur Privatsache, er ist immer auch öffentliches Spiel gewesen. Das änderte sich erst im 20. Jahrhundert, in den urbanisierten und technisierten Bereichen der westlichen Welt.[6] Erst wurde der Tod aus der Öffentlichkeit verbannt, später dann die Trauer, mit all den psychologisch absurden Folgen, die es bedeutet, wenn man nicht mehr trauern darf und Trauer als Depression pathologisiert wird.[7]
Die Situation die Ariès skizziert ist eine vor der wir heute auch und immer noch stehen. Einerseits wissen wir natürlich, dass am Ende des Lebens des Tod auf uns alle wartet (neuerdings gibt es allerdings wieder diverse auf Technik beruhende Hoffnungen und Versprechungen), andererseits wollen wir dem Sterbenden nicht den Gedanken zumuten, dass er tatsächlich sterben kann, denn dies könnte seine eventuelle Heilung beeinflussen. Die Hospizbewegung und Palliativstationen setzten hier einen Kontrapunkt, da sie gewissermaßen die Voraussetzung haben, dass die medizinische Kunst am Ende ist. Dort hat sich etwas getan, man reanimiert Patienten auch nicht mehr nicht zig mal, ohne jede Hoffnung auf dauernden Erfolg, also Genesung.
Aus der kleinen Elite, die Ariès beschrieb, ist inzwischen eine breitere Bewegung geworden, das Ziel was ihm hier vorschwebt ist „den Tod mit dem Glück zu versöhnen. Er soll lediglich zum diskreten, aber würdigen Ende eines befriedigten Lebens werden, zum Abschied von einer hilfreichen Gesellschaft, die nicht mehr zerrissen noch allzu tief erschüttert wird von der Vorstellung eines biologischen Übergangs ohne Bedeutung, ohne Schmerz noch Leid und schließlich auch ohne Angst.“[8]
Vielleicht ist das schon mehr, als man sich wünschen kann, aber nach zig Jahrzehnten einer unausgesetzten Entzauberung der Welt werden wir zu Zeitzeugen einer Entwicklung in der archaische Muster und moderne Lebensformen zusammenwachsen, an der Spitze der Forschung merkwürdige Erkenntnisse zustande kommen, wir uns wundern müssen, wie sich unsere Welt verändert, andere Skurrilitäten systematisch erforscht werden und es würde vielleicht weniger Menschen als noch vor Jahrzehnten verwundern, wenn auch über den Tod das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
Quellen:
- [1] vgl. Phillippe Ariès, Geschichte des Todes, Hanser 1980, S.742
- [2] Giovanni Maio, Medizin ohne Maß?: Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit, Trias 2014, S. 190
- [3] Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S. 330f
- [4] Alexander Mitscherlich, Der Kampf um die Erinnerung, Piper & Co. 1975, S.25
- [5] Carsten Börger, in Die moralische Verfeinerung – Karma und Psyche (2). Dort werden die Ideen zur Trauer aus Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S.262f referiert.
- [6] Phillippe Ariès, Geschichte des Todes, Hanser 1980, S.716
- [7] Phillippe Ariès, Geschichte des Todes, Hanser 1980, S.743f
- [8] Phillippe Ariès, Geschichte des Todes, Hanser 1980, S.789