Muster vergangener traumatischer Ereignisse können auf verschiedenen Wegen tradiert werden. © tom_bullock under cc

Vor ungefähr 50 Jahren schien vieles überschauberer, auch über die Psyche und ein psychisches Erbe oder die Weitergabe psychischer Muster, meinte man ganz gut Bescheid zu wissen.

80/20 hieß die simple Formel, die meinte, dass der Mensch zu 80% durch seine Gene und zu 20% durch Erziehung oder Umwelt, wie es damals hieß, geprägt sei. Die Zeiten sind lange vorbei, zum einen stellte sich immer mehr heraus, dass die Trennung von Natur und Kultur nicht länger aufrecht zu halten war. Zwar gibt es tendenziell kulturellere oder natürlichere Einflüsse, aber sie können sich auf beide Bereiche auswirken, kulturelle Einflüsse hinterlassen auch biologischen Spuren und Muster und biologische Veränderungen wirken sich kulturell aus.

Zudem stellte sich anders als erwartet heraus, dass die biologischen Grundlagen keineswegs so fix sind, wie man annahm. Das gilt zum einen für das Gehirn. Früher dachte man die Hirnentwicklung, sei nach spätestens drei oder vier Jahren abgeschlossen, dann fand man heraus, dass es länger dauerte bis zum sechsten, zehnten Jahr und inzwischen spricht man von der Neuroplastizität des Gehirns, was nichts anderes heißt, als dass unser Hirn ein Organ im lebenslangen Umbau ist und grob gesagt, die Bereiche erhalten bleiben, die trainiert werden und die vergehen, die nicht genutzt werden (nahezu unabhängig vom Alter). Daher kann man auch Menschen im hohen und höchsten Alter therapieren, wenn man von dementiellen Veränderungen mal absieht.

Der andere Punkt sind die Gene. War ‚genetisch bedingt‘ nahezu ein synonymer Begriff für unveränderbares Schicksal, so weiß man heute, durch die Epigenetik, dass bestimmte Gene sozusagen an- und ausgeschaltet werden können und mitunter entscheidet die Lebensweise darüber, ob und wie das geschieht.

Multiple Ursachen für ein psychisches Erbe

Unsere Psyche hat die Eigenschaft immer anwesend zu sein, sie hat nie Urlaub, außer vielleicht im traumlosen Tiefschlaf. Was immer wir erleben ist ein psychischer Eindruck und alles was unbewusst ist, erleben wir ja erst mal nicht. Es hat dann eventuell seine Auswirkungen, die wir spüren und von diesen können wir auf unbewusste Faktoren schließen.

Selbstverständlich ist unser psychisches Erbe auch genetisch disponiert, etwa das Temperament. Überragend wirksam sind die Beziehungen zu den frühesten und engsten Menschen, in der Regel sind das die Eltern. Ihre offenen und stillen Gebote und Verbote, aber auch ihre Tabus. Die alltägliche Beobachtung, wie sie miteinander, mit Tieren, mit Stress oder Freizeit umgehen, was sie bereden und wie sie dabei emotional gestimmt sind, wie sie auf Autoroitäten oder Kritik reagieren. All das bekommen wir mit und all das wird irgendwo in uns als Muster abgespeichert.

Wenn wir andere Kinder und später die Peergroup erleben, weitet sich unser Blick auf die Möglichkeiten des Lebens noch einmal und in der Pubertät versuchen wir andere Muster zu leben und uns von den Eltern in aller Regel abzugrenzen. Man versucht aus all dem Input, der auch zu dieser Zeit noch reichlich kommt, inklusive der meist in dieser Zeit stattfindenden ersten sexuellen Erfahrungen, einen eigenen Weg zu machen, seinen eigenen Stil zu finden, tastend und über Jahre, manchmal Jahrzehnte.

Doch es sind nicht nur Biologie und Beziehungen, die uns prägen, auch der Alltag fädelt uns durch seine Normalität in Muster ein. Kita, Schule, Ausbildung und Arbeit geben den Takt vor, für gar nicht so wenig Menschen ein unnatürlicher Takt. Zu früheren Zeiten war der Menschen den Rhythmen der Natur unterworfen, allerdings auch ihren ‚Launen‘, danach der Uhrzeit. Chronobiologen fordern schon länger, dass das anders werden sollte.

Die Art und Weise des Lebens, was wir tun müssen um Nahrung, Schutz, Gesellschaft, Ruhe und Partner zu finden prägt uns ebenfalls und nicht zuletzt der gesellschaftliche Blick auf die Dinge. Früher war die Welt eine Schöpfung Gottes, heute ein Bündel loser Gesetzmäßigkeiten, ohne Schöpfer und für viele, ohne Sinn. In welcher Staatsform man lebt, prägt uns. Wir finden es heute selbstverständlich sagen zu können, was man will, es gibt viele Länder in denen das keinesfalls so einfach ist. Die Sprache und ihre Möglichkeiten formen die Psyche. Wenn man etwas erlebt, für das es kein Wort gibt, wird darüber auch nicht geredet und wenn, haben Menschen, vor allem, wenn es sich um seltene Erfahrungen handelt, oft Schwierigkeiten, selbst wenn sie ihre Erlebnisse näherungsweise beschreiben und auch die Art der Grammatik setzt der Sprache Grenzen.

Dazu kommen weitere Subsysteme, wie Logik oder der Klang einer Stimme, die Art und Weise des Auftretens eines Menschen, die in uns etwas und manchmal jede Menge auslösen. So können Spiegelneuronen uns in die Stimmung des anderen versetzen. Dass dann auch noch Wetter. sozialer Status, Wohnumfeld, Drogen und Hobbys unsere Psyche mitbestimmen und diese Liste längst nicht vollständig ist, zeigt, wie vielfältig die Faktoren sind, aus denen dann wir selbst entstehen … meine Psyche … ich.

Merkwürdige Traumatisierungen und dunkle Löcher

Ist die Vielfalt schon irritierend, so ist ein Befund noch irritierender. Was klar da ist, genetische Dispositionen oder familiäre Verbote, kann auch als lästig, störend oder hinderlich empfunden werden. Man würde vielleicht so gerne, kann oder darf aber nicht. Mit der Zeit fand man aber heraus, dass auch das was eigentlich nie da, sondern immer weg, abwesend ist, manchmal noch verstörender sein kann.

Auslassungen, Geheimnisse, Traumatisierungen oder Tabus, die gerade dann besonders tief gehen, wenn nicht gesagt wird, dass man darüber nicht zu reden hat – das wäre ja ein offenes Verbot – sondern wenn es das ist, worüber einfach nie geredet wird. Das Ungesagte, das nie Angesprochene, das immer Umrundete ist es, was hier wirkt. Aber wie kann es das, es ist ja gar nicht da?

Es gibt schon ganz gute Erklärungen. Wir sind ja nicht nur rationale, sondern auch emotionale Wesen, mit einem feinen Sinn, für solche Todeszonen. Wir spüren im Alltag schon sehr gut, wenn jemand über bestimmten Themen nicht reden will und ablenkt. Ein gut eingeübte Praxis, die wir kennen. Es sind keine sehr klaren Zeichen, aber doch solche, die deutlich genug sind. Der gesenkte Blick, die leisere Stimme, der abrupte Themenwechsel, manchmal auch eisiges Schweigen, man spürt, dass es hier nicht weiter geht, aber nicht, warum. Merkt aber, dass hier irgendetwas nicht stimmt.

Die Weitergabe von psychischen Mustern über mehrere Generationen ist bekannt. © manhhai under cc

Das setzt sich im Laufe der Zeit fest und so werden die Leerstellen und Auslassungen der anderen, zu den eigenen. Man verinnerlicht die Gewissheit, dass hier eine Sackgasse ist. Man kommt gar nicht mehr auf die Idee nachzufragen, denn da ist ja nichts, aber irgendwas in einem bleibt dennoch, man kann es nicht sagen, vor allem mit niemandem (aus dem engeren Umfeld) drüber reden, aber manchmal kann der stille Bann gebrochen werden.

Nach diesem Muster funktionieren Familiengeheimnisse und zum Teil auch die intergenerationale Weitergabe von Traumatisierungen im familiären Umfeld, so wie auch in gesellschaftlichen Kontexten oder Narrativen über die eigene staatliche oder ethnische Herkunft. Es gibt, wie beim Individuum, eine positive Mythologie, eine offizielle Lesart, die oft etwas geschönt ist und die bereitwillig immer weiter erzählt und dabei vermutlich immer auch ein wenig verändert wird. Und eben Auslassungen, von denen man manchmal nichts hören will und auch wenig gehört hat, die aber irgendwie nerven und unerwünscht sind, wenn man mal nachfragt.

Diese Weitergabe funktioniert über Generationen hinweg, manchmal auch bis zur Großelterngeneration und die Wege sind die bewusste, vor allem aber psychisch unbewusste Weitergabe im Sinne der Auslassungen. Epigenetiker finden auch Anzeichen für eine körperliche Vererbung von Traumatisierungen an die nächste(n) Generation(en). Ob sexueller Missbrauch, Kriegstraumatisierungen oder der frühe Tod von Familienmitgliedern. Doch man ist dem nicht hilflos ausgeliefert.

Psychisches Erbe oder Muster erkennen

Manchmal fällt einem durch Zufall ein Buch in die Hand, man wird angesprochen oder sieht eine Sendung oder ein Video zum Thema und auf einmal merkt man, dass es die Art beschreibt, die man bei sich immer gefühlt hat. In der Regel wird man dann von selbst hellhörig und Informationen zu sammeln ist der erste Schritt.

Oft findet man sich dort wieder und manchmal doch noch jemanden, den man offen ansprechen kann. Vielleicht verknüpft man die Fragen, mit der eigenen Empfindung und der Erklärung, dass man etwas für sich klären will, in die man vielleicht einfließen lässt, wie und warum man gerade jetzt darauf gestoßen ist. Dass um Traumatisierungen und Tabus herum Barrikaden errichtet werden, hat ja seinen Sinn, man muss mitunter schauen, dass man alte Wunden nicht wieder aufkratzt, hat aber auch das Recht, selbst etwas klären zu wollen, denn mit so einer dunklen Lücke zu leben, ist oft die Quelle eigener, nicht erklärbarer Ängste und das nicht schön.

Auch wenn man niemanden findet, mit dem man das klären kann, so kann man mit anderen sprechen, die in einer ähnlichen Situation sind. Allein Themen bewusst zu machen ist oft schon die halbe Miete oder sogar noch mehr. Therapie oder die geduldige Innenschau sind weitere Erkenntniswege, denn der Clou ist ja gerade, dass man diese Muster auch in sich findet, schließlich leidet man unter ihnen. Die Innenschau ist damit also immer auch die Schau nach Außen und mit jeder zusätzlichen Information von dort wird natürlich auf die Innenschau noch mal verändert, die einzelnen Steine des Mosaiks können Konturen gewinnen. Selbst wenn man sie vielleicht nie mehr ganz rekonstruieren kann, so doch zu einer erweiterten Version der eigenen Geschichte. Man versteht sich selbst besser und das ist der Anspruch und Ansatz vieler therapeutischer Ansätze.

Muster auflösen

Oft ist die Bewusstwerdung schon der größte Teil des Weges, um die Muster wieder aufzulösen. Das Problem an unbewussten Mustern ist, dass sie unbewusst sind. Stehen sie erst einmal im Licht des Bewusstseins, sind sie noch immer belastend, denn wie gesagt, es hat seinen Grund, wenn bestimmte Themen psychisch erst mal tief vergraben sind und nun muss man sich mit ihnen auseinander setzten. Das ist keinesfalls schön und nie ein Spaziergang, aber das Thema kann einem nun keinen Streich mehr aus dem Unbewussten heraus spielen. Dafür dreht und wendet man es und schaut es sich von allen Seiten an und der eigentlich schwierige Schritt besteht für einen selbst nun darin, dass man die eigene Lebensgeschichte umschreiben muss. Erweitert durch das, was man nun außerdem noch über sich weiß.

Andere Ansätze wie EMDR versuchen die Traumatisierung über andere Wege aufzuheben, aber auch hier zeichnet sich ab, dass das, was wesentlich hilft, nicht die Augenbewegungen sind, sondern, dass man sich dem Trauma im Geiste und in einem therapeutisch geschützten Raum noch einmal stellt.

Dies zu tun ist jedoch nicht nur gut für das private Wohlbefinden, sondern ein Dienst an der Menschheit. Gerade wenn man über psychisches Erbe nachdenkt, tradierte Ketten und Muster, die über Generationen weiter gegeben wurden, dann ist es gut, wenn man die Weitergabe dieser Muster unterbrechen kann. Denn leider werden unbearbeitete Muster oft – ohne, dass man es will, aber auch ohne, dass man es verhindern kann – im Wiederholungszwang weiter gegeben.

Etwas anderes ist ebenfalls wichtig, auch wenn es fast banal klingt. Themen die wie Weitergabe von Traumatisierungen über Generationen sind möglich, aber man sollte den Effekt auch nicht überschätzten und sich zu sehr in ihn verbeißen. Es ist gut, mehr zu wissen, um klarer und befreiter sein, wenn man irgendein Thema dann mal durchgearbeitet hat, ist es auch gut, es irgendwann wieder loszulassen.

Wenn man sich ihm in einer bestimmten Phase, idealerweise im Rahmen einer guten Therapie ausführlich widmet, super. Aber es bringt nichts es immer wieder und wieder zu wälzen. Wenn es bewusst ist, ist man mehr als halb durch, integriert bekommt man es in aller Regel auch und dann kann, darf und sollte das Leben auch weiter gehen.

Oft ist es auch nicht einmal schlimm, wenn man mit bestimmten Lebensbereichen Probleme hat, es fällt einem eben nicht immer alles leicht, aber es ist gut, wenn man sich davon in aus der Bahn werfen lässt. Reflexionen sind wichtig, sich etwas anzunehmen auch, aber auch dann muss man nicht unter jeder Last zusammen brechen. Wir sind dazu geeignet viel zu überstehen auch unser psychisches Immunsystem ist über die lange Zeit der Evolution optimiert worden. Nicht alles was traumatisch genannt wird, ist tatsächlich ein Trauma, auch das ist wichtig zu wissen, so dass wir viele Möglichkeiten haben auch noch schweren Phasen ein lebenswertes und nicht selten zufriedenes Leben zu führen, unser psychisches Erbe und seine tradierten, vererbten oder erworbenen Muster sind manchmal geradezu Wegweiser in die richtige Richtung. Denn wenn man bestimmte Lebensthemen bewältigt hat, kann einem nicht mehr viel passieren, außer einem hoffentlich guten Leben.