Die Skyline von Manhattan

Ist das der Westen? Die Skyline von Manhattan. © Guiseppe Milo under cc

Die Sorgen, dass wir blindlings in einen atomaren Weltkrieg stolpern, werden immer größer, um so dringender sind Lösungen gesucht.

Auch wenn der atomare Krieg in Europa noch immer wahrscheinlicher ist, kann uns Europäer das nicht beruhigen. Die Zeit der Regression ist auch bei uns längst da, die einen wollen nun alles Russische boykottieren, was immer über Ziel schießt, die anderen finden alle eigentliche Schuld beim Westen und üben sich in masochistischer Selbstzerfleischung.

Es gibt drei große Probleme, die langfristigen und ernst gemeinten Verhandlungen im Weg stehen.

  • 1. Unrealistische Maximalforderungen: Wenn eine Partei Friedensverhandlungen sabotiert, redet, aber kein Interesse an Lösungen hat, weil man unrealistische Maximalforderungen stellt, braucht es virtuose Diplomaten, um irgendwas zu retten, aber völlig ohne Baumaterialien und Arbeiter kann man kein Haus bauen.
  • 2. Die Phantasie der monokausalen Entstehungsgeschichte: Gesucht wird, wie so oft, der eine Grund, der alles erklärt. Putin ist irre. Die NATO ist der heimliche Kriegstreiber. Es geht immer nur ums Öl. Häufige, aber beliebige Beispiele, vielleicht nie ganz falsch, aber immer einseitig.
  • 3. Projektionen verhindern den Diskurs: Verzerrte eigene Bilder, sowohl Bevölkerung, bis hin zu den Experten, lassen die eigene Sicht oft als die gute oder einzig möglich dastehen. Wir brauchen einen differenzierten Blick, der Stärken und Schwächen beider Seiten einbezieht und das Denken der anderen überhaupt vom eigenen Denken zu unterscheiden lernt.

Die knappe Geschichte des Westens und des Ostens

Den homogenen Westen gibt es so wenig, wie es ‚den Osten‘ gibt. Nicht nur China und Russland sind anders, auch der eruropäische Osten und auch die postsowjetischen Staaten haben eine eigenständige Kultur und Traditon wie der Historiker und Soziologe Mischa Gabowitsch in der Sendung Redezeit erläutert. Daher ist schon das Narrativ vom verlorenen Anhängsel Russlands verfehlt.

Dass der Westen eine Einheit ist, kann man auch nicht behaupten, nach 9/11 im Jahr 2001 ist der Westen gespalten, wenn er es nicht vorher schon war. Polen, Portugal und Deutschland, was ist deren gemeinsamer Nennen? Es gibt nur nicht den einen Riss, der Europa trennt, es gibt diverse Risse, aber dann auch wieder mehrere geteilte Interessen.

Was sicher insgesamt richtig ist, ist, dass die 500 Jahre dauernde Macht des Westens und der sich über die Welt ausgebreitenden Europäer, die wir in Nordamerika und Ozeanien finden, mit den USA als wankendem wirtschaftlich-militärischen Machtzentrum, schwindet: wirtschaftlich, militärisch, demografisch und im Zuge einer besonders in Teilen Europas voranschreitenden Selbstreflexion, die die eigene Kolonialgeschichte zunehmend in den Blick nimmt. Die Welt ordnet sich gerade neu.

Viele Stränge in Russland

Neuerdings ist es beliebt in Putins Kopf gucken zu wollen, aber natürlich kann das nur in Grenzen gelingen und in die Zukunft schauen kann man dann noch immer nicht. Oft pendeln die Urteile zwischen völlig irrational und isoliert, zum hoch rationalen, gerissenen Schachspieler. Die einen sagen, Putin hätte sich in der Ukraine völlig verzockt und würde hier auf Jahre geschwächt werden können, andere meinen, alles liefe nach Plan, je nach dem finden die einen die Situation brandgefährlich, die einen, weil Putin vor einer Niederlage stehen und Atomwaffen einsetzen könnte, die anderen, weil er vor einem Sieg und weiteren Durchmarsch nach Belieben steht.

Die einfache Bevölkerung scheint fest auf seiner Seite zu sein, da kritische Stimmen verboten sind und die meisten sich demnach aus unkritischen Quellen informieren. Bei jenen, die Zugang zu anderen Quellen haben, ist das Bild gemischter, manche verlassen das Land, aber sicher werden auch viele gebildete Menschen auf Seiten Putins sein.

Wie sehr Putin ein Einzelgänger ist, ist unklar, die ehemalige Financal Times Reporterin Cathrine Belton hat ein dickes Buch Putins Netz – Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste geschrieben. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagt sie:

„Nach dem Ende der Sowjetunion glaubte der Westen, Russland werde nun Teil der westlichen, regelbasierten Ordnung. Dass Russland im Grunde wirtschaftlich schwach und unorganisiert sei – und alles, was noch fehle, sei die Integration in den Westen. Das war eine ziemlich herablassende und ein bisschen arrogante Sichtweise, mit der sich die meisten westlichen Staatsführer Russland gegenüber verhielten.

Darüber vergaßen sie das sowjetische Drehbuch, als der KGB Strohfirmen, Mittelsmänner und Handelsverbindungen nutzte, um auf sehr intransparente Weise Geld anzuhäufen und damit Operationen von kommunistischen, verbündeten Parteien zu finanzieren. Oder für illegale, Unruhe stiftende Aktivitäten wie Desinformationskampagnen oder sogar für politische Morde oder um Verbündete an der Macht zu halten. Darin waren sie sehr geübt.“[1]

Wir sehen hier also eine enge Verflechtung des ehemaligen KGB, heute FSB, mit legalen und illegalen Firmen und Machenschaften. Diese haben wiederum ihre Wurzel zu einem Teil in den ‚Dieben im Gesetz‘ eine Untergrundorganisation, die in den Gefängnissen der Stalinära entstand, einst mit der Ausrichtung, sich aus Politik und Wirtschaft heraus zu halten, die später zur russischen Mafia wurden.

In den 1990ern tobten in Russlands Großstädten blutige und brutale Mafiakriege, zu denen sich weitere Kreise gesellten:

„Der Zerfall des sowjetischen Staates und seiner Strukturen, die Ausrufung neuer Nationalstaaten sowie die wirtschaftlich schlechte Lage zu Beginn der 1990er Jahre trugen zum Entstehen neuer krimineller Gruppierungen bei. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde auf Jelzins Anweisung die KGB-Belegschaft um rund 100.000 Personen reduziert. Mit ihrem Insiderwissen und ihren Kontakten waren die entlassenen Mitarbeiter für die Verbrecherwelt in hohem Maße attraktiv. So entstand in Russland das heutige organisierte Verbrechen aus den Strukturen der Diebe im Gesetz, aus ehemaligen KGB-Agenten und vielen korrupten Beamten und Verwaltern staatlichen Eigentums.“[2]

Ein undurchsichtiges Geflecht, das wir nur streifen können, mit der Zeit wurde es noch undurchsichtiger, da legale und illegale Geschäfte ineinander übergingen. Doch damit nicht genug gibt es noch einen Strang, den man nicht unterschätzen darf.

Die mythisch religiöse Erzählung: Zusatz, Gegensatz oder einigendes Band?

Entgegen dem Bild, das man im Westen vom atheistischen Osten, per Dekret hat, sind Putin und sein KGB Clan im Kreml eng mit der russisch-orthodoxen Kirche verbunden. Man kann nicht entscheiden inwieweit dies, bei wem, eine tief gefühlte Überzeugung ist oder nur ein taktisches Spiel, um eine eigene Erzählung gegen den Westen zu benutzen, denn die russisch-orthodoxe Kirche ist zu einem nicht unwesentlichen Teil genau das, ein Negativbild des Westens, den man als dekadent ansieht. Kurz und gut, alles, wofür der Westen in dieser Lesart steht, ist eine Ausgeburt des Bösen, wir diskutieren einige Begriffe später.

Unabhängig davon wie authentisch oder taktisch diese Religiosität – oder jede andere zur Schau gestellte Einstellung – nun ist, so verpflichtet sie denjenigen, der sich auf sie beruft. Zudem kann es sein, dass jemand im Laufe der Beschäftigung mit einem Themengebiet, auf den Geschmack kommt, das heißt, etwas, was vielleicht nur ein Baustein unter vielen war, kann auf einmal sehr relevant werden, weil er den eigenen Lebensweg konsistent erklärt. Das ist allen Menschen wichtig. Damit können wir nun den Blick wenden und auf ‚uns‘ richten.

Der blinde Fleck des Westens

Skyline des Ruhrgebiets

Oder so? Die Skyline des Ruhrgebiets. © Huub Janssen under cc

Wenn Lösungen gesucht werden, ist es nötig, dass man sich auch, aber nicht allein, an die eigene Nase fasst. Auch hier findet man das ganze Deutungsspektrum eines monströsen, kriegslüsternen, dekadenten und rein konsumverseuchten Westens, bis hin zur letzten tapferen Schutzmacht, die eigentlich alles richtig macht.

Europa ist nicht Amerika und bei uns gibt es neben der Notwendigkeit verschiedene Sprachen und Kulturen zu integrieren, sicher Probleme mit einer bürokratischen Überregulierung und dass der Westen sehr vieles durch die Markt- und Konsumbrille betrachtet, wird man schwer abstreiten können, es ist oft genug beschrieben und kritisiert worden.

Aus dieser achselzuckenden Geschäftemacherei mit einer Korruption zwischen Politik und Wirtschaft, der im Zweifel der Vorrang vor den Bürgern gebührt, ist auch eine immer häufiger kritisierte Doppelmoral hervorgegangen, es wurden große Reden geschwungen und wenig umgesetzt. So weit, so schlecht.

Der kardinale Fehler des Westens ist in meinen Augen, so gut wie jede Form der Innerlichkeit, zugunsten eines materialisitischen, äußeren und funktionalistischen Erklärungsansatzes über Bord geworfen zu haben. Allenfalls im Privaten, für die eigene Biographie und bei psychischen Problemen soll dem Blick auf die Innerlichkeit Bedeutung zukommen und äußere Manipulation ist ansonsten alles.

Wer so denkt, ist stark geneigt, diese Perspektive auch auf andere zu übertragen. Das führt zu einer Unfähigkeit sich vorstellen zu können, dass es noch etwas anderes gibt, als die eigene tiefgefühlte Überzeugung, dass jede Innerlichkeit Schnee von gestern und in keiner Weise ernst zu nehmen sei.

Der russisch-orthodoxe, machtpolitische und korruptionsdurchdrungene Mischmasch mag so seltsam und synkretistisch erscheinen, wie er vermutlich ist, aber das muss diejenigen, die davon zutiefst überzeugt sind (und auch noch die, die es nur taktisch gewählt haben) nicht jucken. Spätestens seit den Querdenkerphänomenen muss man sich klar sein, dass wirklich so gedacht wird und wenngleich da manches versponnen ist, so gibt es doch auch eine ernst zu nehmende Kritik an kühlen Funktionalismus unserer Zeit. Eine ähnliche Konstellation finden wir übrigens beim IS, der als hochreligiös gilt, doch einen Kern aus kühlen Machtstrategen, vermutlich aus Saddam Husseins Leibgarde, gemischt mit Stalinisten, besteht.

Mit anderen Worten: Die Annahme, dass doch niemand ernsthaft so denken kann, ist ein grober Fehler, der Rekurs auf einen mythischen, politsch-religiösen Mythos ist real. Bindet man diese Sicht mit ein, kann man vieles verstehen, was auf den ersten Blick widersprüchlich war. Das muss für die knappe Skizze reichen.

Diplomatie oder Kampf?

Wie so oft, ist das eine falsche Alternative. Es kann nur beides zusammen geben, worüber wollen die Ukrainer verhandeln, wenn sie nichts anzubieten haben, weil ihr Gegner sich nach Wunsch und ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, selbst bedienen kann?

Miteinander reden I: Erste Hilfe, Waffenruhe

Es muss ein Waffenstillstand her, unter allen Umständen, weil das Eskalationspotential des Krieges nach wie vor erheblich ist. Krieg geht mit einer Orgie an bewussten Lügen und Verdrehungen, sowie mit echten Vergehen auf beiden Seiten einher. Doch über diese Hürde muss man drüber, über kurz oder lang. Russland kann den Angriff stoppen, es hat ihn ja auch begonnen. Je nachdem wie gut oder schlecht es für Russland läuft, kann die NATO auch ein Interesse daran haben, Russland in einem Stellvertreterkrieg ausbluten zu lassen, was das Eskalationspotential mindestens für Europa stark vergrößert.

Miteinander reden II: Selbstkritisch und auf Augenhöhe

Der schwierige Teil ist, dass ein Dialog des Westens und des Ostens ansteht, bei dem die jeweiligen Mythen auf den Tisch müssen. Sie sollten darauf abgeklopft werden, ob nicht die andere Seiten mit ihrer Kritik nicht auch richtig liegt. Dem anderen Vorwürfe zu machen ist immer einfach, die des anderen auf sich wirken zu lassen und sei es nur in der Akzeptanz, dass man uns auch so sehen kann, ist es nicht.

Miteinander reden III: Gemeinsame Ziele

Wir haben inzwischen genügend Probleme auf der Welt, die den Ruf, dass wir sehr dringend, sehr stark an einem Strang ziehen müssen, nicht bloß als Floskel erscheinen lassen. Die Probleme sind bekannt, hängen zusammen und es gibt gute Lösungsansätze. Krieg gehört nicht dazu.

Kritische Begriffe

Wenn Lösungen gesucht werden, kann man durchaus mal in Vorleistung gehen, das heißt, versuchen die Kritik anzunehmen. Die politreligiöse Mythologie Russlands stellt sich vielfach als der buchstäbliche Antiwesten dar, der als dekadent angesehen wird, der Wahrheit und Irrtum nicht unterscheiden kann, der die Verirrung der Homosexualität normal findet und der den Glauben gegen Konsum ersetzt hat.

Konsumismus und Funktionalismus

Ich glaube, dass vollkommen richtig ist, den westlichen Konsumismus ernsthaft zu hinterfragen, der alles meint zur Ware machen zu können, bishin zu Beziehungen. Davor warnte bereits Kant, er ist vom Westen nicht erhört worden. Ich würde den Rahmen größer machen und den Funktionalismus kritisieren, der Konsumismus ist eher Verstärker und/oder Spezialfall.

Aber die Idee eines grenzenlosen Wachstums in einer begrenzten Welt ist immer wieder kritisiert worden, man kann sich auf Marx, den Club of Rome oder moderne Ökologiebewegungen berufen, es ist nicht klug, an dem Ast zu sägen, auf man sitzt. Freilich ist das russische System längst nicht mehr kommunistisch, sondern seinerseits stark kapitalistisch, nur profitieren davon die Oligarchen viel und die Normalbevölkerung wenig bis gar nicht.

Da das zunehmend aber auch bei uns im Westen der Fall ist, ist das Problem klar benannt, die Lösung aber nicht gefunden. Im Westen muss man funktionieren und sich anpassen, damit man fit und interessant für den Markt ist – der einen immer ungenügender versorgt – in Russland muss man eine Zelle oder ein Organ im Organismus Staat sein, ohne Chancen die Position zu verändern. Beides ist in der Form funktionalistisch.

Demokratie

Die Idee der Demokratie nach westlichem Vorbild wird von Putin abgelehnt. Er versteht darunter ein leeres Ritual in dem man Gesetze, Regel und Vorschriften anerkennen muss, die eine Unterwerfung unter die Gesetze der Demokratie verlangen.[3] Ziemlich genau das Gegenteil dessen, was der Westen unter Demokratie versteht.

Mit der Demokratie im Westen sieht es aktuell vielleicht auch nicht sonderlich gut aus und in einigen Ländern ist nicht unbedingt Demokratie drin, auch wenn es drauf gedruckt ist. Man kann hier vieles kritisieren, wird aber, wenn wir von uns ausgehen, noch immer gewaltige Unterschiede zu Russland finden, wenn wir auch die Freiheit der Meinung, der Presse, der Kunst und der Wahlen und den Grad an Korruption schauen.

Freiheit

Für Putin besteht Freiheit in der Idee ein Teil des ganzen Organismus zu sein und dieser Organismus ist Russland. Die Rolle, die man dabei spielt ist festgelegt, ein wenig, wie im indischen Kastensystem. Ob Putin das tatsächlich glaubt oder nur inszeniert, weil es praktisch für ihn ist, kann zumindest ich nicht sagen.

Die Idee, dass wir vom Schicksal an eine bestimmte Stelle im Leben gestellt wurden, ist mir jedoch weder unbekannt, noch – wenn eine bestimmte Flughöhe eingehalten wird – unsympathisch. Sie widerspricht stark unserem westlichen Denken, das vorgeschriebene Rollen und Schicksalverläufe ablehnt, zugunsten der Idee, dass jeder über sein Leben frei und selbst bestimmen können soll und am besten noch halbwegs gerechte Startbedingungen herrschen.

So ein Leben muss nicht zwingend traumhaft verlaufen, wie wir auch bei uns immer häufiger erleben, aber wenigstens sind wir es dann selbst gewesen. Doch auch diese Idee wird zunehmend kritisch gesehen, da man – oft nachvollziehbar – meint, dass die Startbedingungen bei uns inzwischen alles andere als gerecht seien. Immerhin werden diese als veränderbar angesehen, zumindest theoretisch, praktisch haben sich viele damit abgefunden, dass sich ohnehin nichts machen lässt. Letztlich eine Art Schicksalsglaube, ohne dass man an Schicksal glauben möchte.

Für beide Fälle besteht eine weitere Perspektive darin, dass man zwar an eine Stelle gestellt sein könnte, an der man zurecht steht, aber es besteht kein Grund zu glauben, dass diese Position unveränderbar sein muss. Wir wissen nicht genau, wie determiniert unsere Welt ist, aber gesetzt sie wäre es vollständig, die Freiheit würde erhalten bleiben, da wir ja nicht wissen, was kommt, sei es durch natürliche öder schicksalhafte Gesetze. Wir könnten frei sein und uns verändern. Dass keine andere Wahl bestanden hätte, wie Putin immer wieder mal über seine Entscheidungen sagt, wäre bezweifelbar, auch dann, wenn man schicksalhaft steht, wo man eben steht.

Dekadenz

Die Hügel der Toskana

Oder das? Die Hügel der Toskana. © flöschen under cc

Putin wirft dem Westen pauschal vor dekadent zu sein, sowie Wahrheit und Falschheit nicht mehr unterscheiden zu können. Ein Beispiel für ihn ist die Toleranz des Westens gegenüber der Homosexualität, die er mit Satanismus rückt.[4] Ein erheblicher Vorwurf, der bei uns vielleicht nicht so ernst genommen wird, weil Religion bei uns eine immer geringere Rolle spielt, da wirkt so etwas aus der Zeit gefallen, fällt damit aber möglicherweise auch in den oben beschriebenen blinden Fleck des Westens. Man könnte es als bloße Spinnerei. Provokation oder Homophobie abtun.

Damit und einem rigiden familiären Traditionalismus spielt er eine religiös-konservative Karte weist er auf eine schwache Seite Europas hin, die geringe Reproduktionsrate, die allerdings in Russland noch geringer ist. Zudem schätzen wir die Freiheit auch der sexuellen Selbstbestimmung hoch ein und ob ein weiteres Bevölkerungswachstum in einer Welt die jetzt schon ächzt, wirklich klug ist, sei dahin gestellt, die demographische Schrumpfung Russlands ist allerdings ein reales Problem und wie man ein kluges Management zwischen einer überalternden Bevölkerung in West- und Osteuropa, mit Altersarmut und Wohlstandverlust.

Dabei auf die Karte Religion zu setzen, ist immerhin nicht falsch, aber ob Freiheit und Selbstbestimmung bei uns wirklich ein Ausdruck der Dekadenz ist, ist eher zweifelhaft. Wir haben die Unterdrückung aus guten Gründen abgeschafft, aber bei sehr konservativen Menschen kann er damit punkten und in patriarchalen Systemen ist die Angst vor männlicher Homosexualität und untreuen Frauen die größte unbewusste Angst.

Gut und Böse

Nicht nur, aber auch aus diesem Punkt abgeleitet entspringt der zirkuläre Vorwurf, der dekadente Westen könne Gut und Böse nicht unterscheiden. Gleich einer Krankheit sei der Westen verseucht und so geht von ihm die Gefahr aus, Russland, bzw. Moskau, dem in dieser Erzählung eine besondere Rolle als Erlöser – Drittes Rom – zukommt, zu infizieren. Wenn Russland sich rettet und zur Wehr setzt, rettet es auch die Welt, also tut man Gutes, wenn man dem dekadenten und perversen Westen schadet. Wiederum ist unklar, ob dieser politreligiöse Mythos eine nützliche Inszenierung oder tiefgefühlte Überzeugung ist. Aber wie gesagt, der eine Bereich kann in den anderen übergehen, bei überwertigen Ideen ist das stets so.

Ein Zirkelschluss, den man als Gründungs- oder Wiederanknüpfungsmythos sehen und glauben kann, aber der über den Glauben hinaus nicht trägt. Freilich gilt das für andere Gründungsmythen in gleicher Weise.

Lüge und Doppelmoral

Vor diesem Hintergrund kann man dann wenigstens vor sich selbst aufrichtig sein, bleiben oder es wieder werden, wenn man den Lügner belügt. Wer notorisch die Unwahrheit sagt, tut ja weniger Unrecht, wenn er es quasi als Stilmittel einsetzt, gegenüber jemandem, der dies ebenfalls tut. Das ist zwar nicht so ganz richtig, weil die Basis von was auch immer – und sei es nur der wackeligste Waffenstillstand – Vertrauen sein muss, es sei denn, man muss einsehen, dass mit jemandem keine Einigung möglich ist.

Zu dieser Annahme besteht aber kein Grund, da im Westen genügend Menschen ein Interesse an Frieden haben und wir zudem reichlich drängende Menschheitsprobleme haben, die ein Krieg nicht verbessert. Rund wird die Sache dann, wenn das ganze Prinzip des Westens infrage gestellt wird, wenn also der Westen in toto das Böse ist, was bekämpft und vernichtet werden muss.

Dass wir im Westen Doppelmoral finden, ist richtig und wird auch bei uns so gesehen und kritisiert. Jürgen Habermas schrieb bereits 2004 dazu:

„Etwas anderes ist der antimodernistische Affekt gegen die westliche Welt im Ganzen. In dieser Hinsicht ist Selbstkritik angebracht – sagen wir eine selbstkritische Verteidigung der Errungenschaften der westlichen Moderne, die gleichzeitig Offenheit und Lernbereitschaft signalisiert und vor allem die idiotische Gleichsetzung von demokratischer Ordnung und liberaler Gesellschaft mit wildwüchsigem Kapitalismus auflöst. Wir müssen einerseits eine unmissverständliche Grenze zum Fundamentalismus, auch zum christlichen und jüdischen Fundamentalismus ziehen, und uns andererseits der Erkenntnis stellen, dass der Fundamentalismus das Kind einer entwurzelten Moderne ist, an deren Entgleisungen unsere Kolonialgeschichte und unsere misslungene Dekolonialisierung einen entscheidenden Anteil haben. Gegenüber fundamentalistischen Bornierungen können wir immerhin deutlich machen, dass die berechtigte Kritik am Westen ihre Maßstäbe den Diskursen einer zweihundertjährigen Selbstkritik des Westens entlehnt.“[5]

Pluralismus

Der Pluralismus ist eine in der Regel gut gemeinte, aber schlechte gemachte und durchdachte Geschichte, die, wenn sie nicht rund läuft, selbst zur Ideologie wird und – ganz antipluralistisch – all jene aus dem Diskurs ausschließen möchte, die die pluralistische Lesart nicht teilen. Letzten Endes geht er davon aus, dass es keine generell überlegene Perspektive gibt, was mindestens, wenn man rationale Kriterien anlegt, richtig ist. Es gibt alle möglichen Perspektiven, aber ein zu rechtfertigende Perspektive aller Perspektiven gibt es nicht.

Wir müssten dann religiöse Kategorien anlegen, die man glauben kann, aber auch muss, mit einer an sich richtigen oder falschen Herleitung hat das dann nichts mehr zu tun. Man kann spirituelle oder mystische Kriterien anlegen, die Botschaft der echten Mystiker ist, durch alle Zeiten, Traditionen und Kulturen, wesentlich einheitlicher, als die oft unterschiedlichen Religionen. Aber zu wenige Menschen sind Mystiker und wenn man die Erfahrungen der Mystiker versucht mit dem Alltagsbewusstsein nachzuvollziehen, kommt tendenziell eine Flachland-Esoterik dabei heraus.

Putins Ansatz ist eine Ideologie der Stärke. Warum auch nicht, wir kennen diese Ansätze vom Machiavelli und subtiler von Nietzsche. Es kommt nur langfristig selten etwas anderes dabei heraus, als ein faschistisches System, an dessen Ende die Einheit in der Zerstörung liegt.

Die Kritik, dass die schlechten Spielarten des Pluralismus im gemeinsamen Untergang durch Schwäche liegt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, aber besser wäre es für beide Seiten, ihre Stärken zu verbinden. Es ist nicht der eine Ansatz generell gut und der andere schlecht, beide Ansätze sind in unterschiedlichen Abschnitten relevant und sie haben jeweils ihre Stärken und Schwächen. Wenn man die Schwächen beider zu vermeiden versucht und die Stärken beider nutzt, sind wir insgesamt einen Schritt weiter.

Ehrlich und hart darüber zu reden, ist besser, als einander zu verdampfen, weil man dann immer wieder von neuem aufbauen muss.

Wo könnten wir uns treffen?

Man muss die westliche Lebensweise nicht glorifizieren, es besteht aber auch kein Grund alles zu verdammen. Wenn es weiter gehen soll, mit der Menschheit, müssen wir uns nicht nur zähneknirschend austauschen, sondern zusammen arbeiten, alle und schnell. Wir brauchen nicht zu spekulieren, ob die angenommenen Probleme kommen, mit Seuchen, Krieg, Überbevölkerung, Artensterben, Müllbergen sind etliche schon da, weitere werden folgen. Nicht hübsch nacheinander, mit 10 Jahren Pause dazwischen, nein, es wird eher so sein, wie aktuell: Krieg, Klimawandel und Corona laufen parallel, das findet man inzwischen auch im Westen nicht mehr spaßig.

Ein paar Gänge zurück zu schalten, würde uns gut tun, der Erde auch. Unsere Werte sind, wo sie mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis sind, stark, wir brauchen die Konkurrenz auch in einer ehrlichen Diskussion nicht zu scheuen und wo wir unterliegen, können wir nur gewinnen, weil wir dazu lernen.

Machen wir uns ehrlich, die weltzerstörerischen Aspekte unserer Art zu leben sind vorbei. Wir werden nie wieder so leben und es ist gut so, die tatsächlich dekadente Seite unserer Lebensweise, die Qualität durch Quantität ersetzt, darf ruhig korrigiert werden, alle profitieren davon.

Wenn man sich etwa auf die Werte, die man hier eigentlich vertreten möchte zunächst erst mal wieder selbst besinnt. Putin Schutz der Familie steht, wenn auch unter anderen Vorzeichen, eigentlich auch bei uns im Zentrum. Hier versucht man jeden zu verstehen, dem es gelingt, sich als Opfer darzustellen, wirklichen Opfern tut man damit keinen Gefallen. Wenn es auch kein absoluten Kriterien der Wahrheit gibt, jeden Unsinn ernst zu nehmen, ist nun kein Zeichen von Fortschritt, sondern man kann darin wirklich Verwirrung sehen. Recht hat nicht der, mit der dickeren Knarre, sondern der oder die, mit den besseren Argumenten, darauf dürfen wir uns irgendwann mal wieder besinnen und auch selbst verpflichten.

Was aus Religionen wird, kann ich nicht einschätzen, aber irgendwas zwischen Religion (an die man glauben muss) und Spiritualität (die man selbst erfahren kann) ist vermutlich eine Konstante des Menschseins. Die große Klammer die den Osten, auch den fernen mit dem Westen verbinden kann, Vorarbeiten sind ausreichend geleistet. Wenn Lösungen gesucht werden, es gibt genug, Punkte an denen man ansetzen kann.

Quellen:

  • [1] https://www.deutschlandfunk.de/catherine-belton-putins-netz-100.html
  • [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Russische_Mafia#Herausbildung_neuer_Mafiagruppierungen_in_den_1990er_Jahren
  • [3] Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika, C.H.Beck 2018, S. 64
  • [4] Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika, C.H.Beck 2018, S. 60
  • [5] Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen, Suhrkamp 2004, S. 109