Mythen prägten auch die Bauten.

Mythen prägten auch die Bauten. © Adrian Brady under cc

Mythos und Ritual sind die Komponenten der nächsten Entwicklungsstufe der Weltbilder. Mit Mythos und Ritual verbinden wird in erster Linie alte, religiöse Weltbilder, etwas, von dem wir denken, dass unsere Zeit es hinter sich gelassen hat. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, der anderen Hälfte versuchen wir nahe zu kommen.

Was Mythos und Ritual uns geben

Wenn wir einen Blick auf die Verbreitung der mythischen Entwicklungsstufe werfen, dann hören wir oft, dass diese Stufe sich überlebt hätte und die helle und warme Licht der Vernunft die letzten Eisschollen und dunklen Ecken nach und nach beseitigen würde. Hier und da gäbe es noch ein paar Reste, aber nicht mehr viele. Doch in Wahrheit ist es die weltweit größte Gruppe, die in einem mythischen Weltbild lebt. So gut wie alle Religionen haben ein mythisches Weltbild, aber nicht nur sie. Auch der Personenkult um politische Führerfiguren oder die Idealisierung einer ganz bestimmten Lebensweise folgen einem Mythos. Warum ist diese Stufe eigentlich so beliebt?

Das mythische Weltbild versorgt uns mit etwas, was unserer Zeit oft fehlt: Mit Sinn und Orientierung. Mythische Menschen wissen wofür sie morgens aufstehen, sofern sie ihren Mythos wirklich verinnerlicht haben und nicht zweifeln und ihm nur widerwillig folgen. Dafür sind wir bereit Opfer zu bringen, denn der Mythos versorgt uns oft genug mit einer Geschichte der Auserwähltheit.

Es scheint sogar so zu sein, dass eine gewisse Exklusivität die Bedingung dafür ist, dass eine mythische Gemeinschaft kraftvoll und vital ist und so gibt es in mythischen Gemeinschaften oft Hürden, Aufnahmezeremonien und je höher diese und die später zu bringenden Opfer sind, umso größer oft der Zusammenhalt.[1] Jedoch geht die Exklusivität oft auf Kosten der Größe der Gemeinschaft. Klein, verschworen, besonders, das ist die eine Ausrichtung, die eine mythische Gemeinschaft annehmen kann. Die andere ist, dass man missionierend andere bekehrt und die Gemeinschaft ausdehnt, für diesen Fall muss man die Latte etwas tiefer hängen.

So kommt es nicht selten vor, dass mythische Gemeinschaften eine leicht zugängliche und öffentliche Version kennen und es darüber hinaus noch einen inneren Zirkel gibt, der nur wenigen Auserwählten vorbehalten ist.

Was ist eigentlich ein Mythos?

Die bekannteste Form der Mythen sind religiöse Erzählungen. Schöpfungsmythen, Offenbarungen, wir alle kennen diese Formen und viele halten sie für vollkommen unzeitgemäß. Doch Mythen erschöpfen sich nicht in religiösen Erzählungen, er kann auch den Personenkult um eine politische Führerfigur darstellen, wie wir das aus totalitären Regimen kennen. Aber auch das ist nicht alles. Mythen sind im weitesten Sinne Erzählungen darüber, wie die Welt funktioniert und was in ihr besonders wichtig und was unwichtig ist. Dass der Mythos eine Geschichte ist, die nicht ganz wahr ist, Mythos und Wahrheit sogar als Gegensätze auftauchen ist eher fragwürdig. Doch das ist eine komplizierte Nuance, der wir uns in einer späteren Folge ausführlich widmen.

Ziemlich parallel mit dem Wegbrechen der Bedeutung der großen christlichen Mythen in Europa, sind Surrogate auf der Bühne aufgetaucht. Die wissenschaftlich-technische Revolution sorgte dafür, dass die religiösen Mythen an Bedeutung verloren, dadurch, dass man alternative Erklärungen hatte und wohl noch mehr dadurch, dass man diese Erklärungen, für jedermann sichtbar, in technische Errungenschaften umsetzen konnte. Neben neuen Welterklärungen entstanden in der Industrialisierung Arbeitsplätze und das Leben wurde umstrukturiert. Aber wohin mit den Hoffnungen und Erwartungen, die bislang mit den religiösen Mythen verknüpft waren?

Auch sie wurden nun auf die neuen Träger projiziert und so hießen für viele die neuen Hoffnungsträger Wissenschaft und Technik. Die Erfolge waren beeindruckend. Die Lebenserwartung stieg und technischer Fortschritt war gleichbedeutend mit einem Zugewinn an Lebensqualität. Doch heute ist die einfache Formel: mehr Fortschritt = mehr Glück und Lebensqualität fragwürdig und brüchig geworden. Der stille Fortschrittsmythos, der auf der Gewissheit gründete, dass die nächste Generation es mal besser haben soll und wird gilt heute nicht mehr uneingeschränkt.

Was ist ein Ritual?

Das Ritual ist der praktische Ausdruck des Mythos oder eines Kultes, der eine Gesellschaft verbindet. Oft waren die Rituale an die Jahreszeiten angepasst, wie das Erntedankfest, ein an sich christliches Fest, das aber eine lange Reihe geschichtlicher Vorläufer hat.

Weihnachten, kirchliche Hochzeiten und Beerdigungen sind christliche Rituale die es bis in die Gegenwart geschafft haben und in gewisser Weise sind auch Fußballübertragungen, Krankenhauseinweisungen und Tatort schauen Rituale des Alltags. Rituale waren in frühen Zeiten mit orgiastischen Festen verbunden, in denen zum Teil rituell Drogen konsumiert wurden, doch dies bildete stets nur einen Teil des Ganzen ab. Das ist etwas, was in unserer Zeit verloren gegangen ist, Rituale, wenn man diese kollektiven Zusammenkünfte so bezeichnen möchte, haben oft den Charakter von Spaß und Feiern und bilden so zwar eine willkommene Auszeit aus dem Alltag, aber sie sind nicht mehr auf ein Ziel hin ausgerichtet.

Spaß und Entspannung sind Selbstzweck geworden. Wo kollektive Rituale an Bedeutung verlieren und fehlen, nehmen teilweise private Ersatzrituale den Platz ein. Rituale der Gesundheit, meistens verbunden mit einer bestimmten Form der Ernährung, Sport und Askese, mit denen man versucht die Ängste vor Krankheit und Tod unter Kontrolle zu halten.

Zwänge sind verpfuschte Rituale. Sie sind ritualisierte Handlungen, die zum Selbstzweck mutiert sind. Man putzt, um zu putzen, ordnet, plant, schließt und sortiert und hat dabei jedes realistische Maß verloren. Handlungen, die das Leben einfacher machen sollten, machen es auf einmal komplizierter. Doch irgend etwas ist verloren gegangen bei den Zwängen und Ersatzhandlungen, nämlich der kollektive Gedanke und die Ausrichtung auf ein Ziel hin.

Der Rückzug ins Private und kollektive Empörung

Ich weiß nicht, ob die Zwänge in unserer Zeit tatsächlich zunehmen, für uns alle offensichtlich nimmt aber die Enttäuschung und Empörung in der Gesellschaft zu. Und hier begegnen wir ihr dann wieder, der kollektiven Idee. Aber in einer negativen Form. Wir sind momentan dabei uns zu schützen und zu bewahren, was wir haben, psychologisch eine defensive Position, eine, die unangenehm ist. Der drohende Verlust macht ängstlich und unglücklich, zumal wir heute davon überzeugt sind, dass mit dem Tod alles aus ist. Was es zu erleben gilt, muss also schnell erlebt werden und es ist nicht mal ganz klar, was es dringend zu erleben gibt. Worum geht es eigentlich in diesem Leben, was macht ein gelungenes, ein gutes Leben aus. Analog einem Zeitalter in dem jeder sein eigener Programmdirektor ist, ist es nicht leicht, dies alles zu managen.

Neben der Enttäuschung ist der Rückzug ins Private eine Reaktion, mit der man versucht sich eine kleine Insel des Glücks zu bauen, vielleicht rackern wir uns auch deshalb so ab und möchten alles perfekt haben. Das kann gelingen, aber die Gefahr des Scheiterns und der Enttäuschung ist groß und dann ist da keine Gemeinschaft, die einen auffängt, denn auch die anderen sind dabei am privaten Glück zu basteln. Der Narzissmus ist als Thema und als Problem mit dem wir alle zu tun haben, sei es in der Partnerschaft oder bei bestimmten Berufen inzwischen bekannt. Es ist gut, dass das jetzt verstärkt thematisiert wird, aber nun ist es an der Zeit auch Lösungen zu finden. Doch nicht selten wird einer Partnerschaft zu viel aufgebürdet, wenn sie zum Religionsersatz wird.[2]

Für den mythischen Menschen war erstens, klar, wo die Reise im Leben hin ging, zweitens, fand ein wesentlicher Teil des Ganzen oft im Jenseits statt, zumindest aber gilt das Individuum als Rädchen im System, dessen beste Möglichkeit es war, sich anzupassen und die Autorität des Mythos und seiner Vertreter zu akzeptieren. Das steht einen individualistischen, aber auch einem narzisstischen Lebensentwurf diametral gegenüber und doch und gerade darum könnte ein kollektiver Mythos für eine Zeit eines sich ausweitenden Narzissmus eine Lösung sein. Denn es ist der Weg vom Narzissmus zur Neurose, von der Scham zur Schuld, der hier beschritten wird, worauf auch Don Beck hinweist.[3] Wir haben uns der Bedeutung von Scham und Schuld bereits in dem Beitrag „Normales und krankes Gewissen“ gewidmet.

Götter in der Kindheit

Es ist falsch zu denken, Mythen seien lediglich erfundener Kram, von Menschen, die es nicht besser wussten, denn die Deutung geht auf reale Erfahrungen von Kindern zurück. Man muss sich nur empathisch in ihre Lage versetzen. Ganz normale Erwachsene sind für sie Wesen mit übermenschlicher Kraft, die das Kind einfach hochnehmen und wegtragen können. Eltern wissen, wenn die Kinder mit Feuer gespielt haben, weil sie den Rauch riechen. Für die Kinder ist es übermenschliches Wissen, nahezu Hellsichtigkeit. Die Erwachsenen können fast alles erklären, eine Quelle nahezu unerschöpflichen Wissens und wenn die Eltern gutartig sind, ist es für Kinder großartig diese Halbgötter auf ihrer Seite zu wissen, den starken Papa und die liebe Mama. Das Monster unterm Bett ist natürlich real für das Kind und es ist in gewisser Weise die Zauberkraft der Eltern, die diese Monster bannt: „Da ist niemand, verlass‘ dich drauf.“

Das ist nichts zusammen Phantasiertes, sondern all das sind reale Kindheitserlebnisse, nur ihre Interpretation ist eben auch die des Kindes. Es kann noch nicht verstehen, was die Eltern das alles wissen und sie müssen es nicht verstehen. Kinder haben kein Problem damit, ihre Welt so zu deuten, wie sie es in dieser Phase tun. In dem Deutungssystem der Magie ist man überzeugt, man selbst könne die Welt Kraft seiner Gedanken beeinflussen, in der Welt des Mythos lässt man diesen Gedanken hinter sich, ist aber noch immer überzeugt davon, dass es Menschen gibt, die über nahezu magische Kräfte verfügen.

Warum sich Religionen bis in unsere heutige Zeit halten und bis heute die mythische Ebene der Deutungen die verbreitetsten sind, liegt vermutlich auch daran, dass es immer wieder Erfahrungen gibt, die diese mythischen Deutungen zu bestätigen scheinen.

Gefahren und Nutzen von Mythos und Ritual

Wir müssen unterscheiden lernen, wo und wem der Mythos schadet und nutzt. Entwicklungsstufen haben eben tatsächlich einen Stufencharakter und das heißt, dass man sie nicht überspringen kann. Stufe für Stufe muss ge- und erlebt werden, wo das ausfällt, begegnet uns die verdrängte Stufe in Zerrformen und Pathologien wieder.

Mythos und Ritual sind uns suspekt geworden. Das ist historisch verständlich, weil die Nazis Mythen und Rituale geschickt in ihr menschenverachtendes System einbanden und das will niemand wieder erleben. Aber sich zwischenzeitlich – um diese Stufe zu bearbeiten und sie dann auch hinter sich lassen zu können – einer gemeinschaftlich geteilten Idee zu unterwerfen, die uns Sinn und Orientierung gibt, es nicht schlecht. Es sind Zutaten, die unserer Gesellschaft oft fehlen. In gemäßigter Form begegnet uns das ständig.

Teenies schwärmen für ihre Stars, tapezieren manchmal das ganze Zimmer mit Bildern ihrer Helden und Vorbilder und zur ungefähr gleichen Zeit schwärmen sie für ihre erste große Liebe und etwas später meistens für idealistische Ideen einer besseren Welt. Irgendwann lernen sie dann immer vernünftiger zu werden und lassen die Begeisterung der Jugend fallen. In manchen brennt das Feuer weiter, doch viele verlöschen, werden vernünftig, manchmal zu vernünftig, brennen für nichts mehr.

Eigentlich böten Religionen ein gutes Terrain für das Einüben der mythischen Stufe. Sie tun viel dafür, dass der Mensch lernt sich der Idee von etwas Größerem zu unterwerfen und damit etwas zu tun, was das eigene Ich überragt. Es geht nicht mehr nur um mich, nein, es geht um eine größere Macht oder Idee. Um Narzissmus zu heilen, der immer auch eine pathologische Ich-Inflation ist, ein kompensatorischer Traum von der eigenen Grandiosität, ist das prima. Das muss nicht zwingend in einem religiösen Kontext geschehen, hier hilft alles, was über die Befriedigung des Ich und seiner Wünsche hinausgeht, es aus seiner Komfortzone und Bequemlichkeit lockt. Doch an religiösen Mythen kann man ganz gut auch die Schattenseiten aufzeigen. Religionen sind in den meisten Fällen bestrebt, den Menschen in die Gemeinschaft einzuführen, doch in fast ebenso viel Fällen haben sie keine Antwort, die den Menschen weiter in die Individualität führt. Zweifel grundsätzlicher Art sind oft nicht gefragt, in mythischen Gemeinschaften und so stehen Menschen mit größeren Fragen oft allein da. Seine eigenen Antworten zu finden, ist nicht die schlechteste Option, kann aber einsam machen.

Fehlt uns ein Mythos?

Erde aus dem All

Kann die Rettung der Erde ein alle verbindender Mythos werden? © woodleywonderworks under cc

Die Frage ist schwer zu beantworten. Selbst Unterstützer des Rationalismus haben eingesehen, dass derselbe etwas blutleer ist, man braucht mehr als eine abstrakte Idee, um Menschen zu begeistern. Es ist nicht so, dass unsere Zeit keine Themen hätte, aber sie bestehen meistens in einer Art Vermeidung von diesem oder jenem empfundenen Übel: Klimawandel, TTIP, Korruption, Flüchtlinge, das sind alles keine gute Laune Themen.

Was ist unser Ziel? Weiter so? Fortschritt, als Floskel ohne näheren Inhalt? Die Erfahrung lehrt, dass, wenn Menschen keine Antworten bekommen, sie irgendwelchen Antwortgebern hinterher rennen. Einen Mythos, eine positive Idee, ein gemeinschaftliches Ziel kann man nicht erfinden und überstülpen. Viele meinen, wir seien Mythos und Ritual entwachsen, aber wir sind auf der anderen Seite noch nicht so weit, dass uns abstrakte Überlegungen satt machen. Die gemeinsame Idee Europa zündet nicht, wird eher assoziiert mit Regulierungswahn und der Aufweichung von Normen, als mit einer kraftvollen Vision von Freiheit und einer Geschichte, auf die man stolz sein könnte.

So kleben wir hier und heute, zu einem großen Teil auf einer wenig bekannten, mythisch-rationalen Stufe, die irgendwie nicht Fisch und nicht Fleisch ist und der wird uns in der nächsten Folge zuwenden.

Quellen: